Joseph
Louis François Bertrand
Auszug aus
„Calcul des probabilités“
(1888/89)
Quelle : Joseph Louis Francois Bertrand, Calcul des probabilités, Paris 1888/89, S.4f. (aus Kapitel I.
‘Bestimmung der Chancen’), in : Die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitstheorie von den Anfängen bis
1933 : Einf. U. Texte/ Hrsg.: Ivo Schneider. Darmstadt: Wiss. Buchges., 1988
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Man zieht eine Sehne in einem Kreis zufällig. Was ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß sie
kleiner als die Seite des einbeschriebenen gleichseitigen Dreiecks ist?
Man kann behaupten: Wenn einer der Endpunkte der Sehne bekannt ist, ändert diese
Kenntnis die Wahrscheinlichkeit nicht; die Symmetrie des Kreises erlaubt es nicht, dem
irgendeinen für das Eintreten des in Frage stehenden Ereignisses günstigen oder ungünstigen
Einfluß beizumessen.
Wenn einer der Endpunkte der Sehne bekannt ist, muß ihre Richtung zufällig bestimmt werden.
Wenn man zwei Seiten des gleichseitigen Dreiecks zieht, die den gegebenen Endpunkt als
Schnittpunkt haben, bilden sie miteinander und mit der Tangente drei Winkel von 60°. Die
Sehne muß, um größer als die Seite des gleichseitigen Dreiecks zu sein, in jenem der drei
Winkelräume liegen, der sich zwischen den beiden anderen befindet. Die Wahrscheinlichkeit dafür,
daß der Zufall unter den drei Winkelräumen, die sie aufnehmen können, sie gerade in diesen lenkt,
scheint definitionsgemäß gleich
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zu sein.
Man kann auch behaupten: Wenn man die Richtung der Sehne kennt, ändert diese Kenntnis die
Wahrscheinlichkeit nicht. Die Symmetrie des Kreises erlaubt es nicht, dem irgendeinen für
das Eintreten des in Frage stehenden Ereignisses günstigen oder ungünstigen Einfluß beizumessen.
Wenn die Richtung der Sehne gegeben ist, muß sie, um größer als die Seite des
gleichseitigen Dreiecks zu sein, einen der beiden Radien, die den senkrechten
Durchmesser bilden, in der dem Kreismittelpunkt näher gelegenen Hälfte schneiden. Die
Wahrscheinlichkeit dafür, daß dies zutrifft, scheint definitionsgemäß gleich
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zu sein.
Man kann darüber hinaus behaupten: Eine Sehne zufällig zu bestimmen bedeutet, ihren
Mittelpunkt zufällig zu bestimmen. Dafür, daß die Sehne größer als die Seite des gleichseitigen
Dreiecks ist, ist es notwendig und hinreichend, daß der Mittelpunkt sich in einem
Abstand vom Kreismittelpunkt befindet, der kleiner als der halbe Radius ist, d.h. im Innern
eines Kreises, dessen Fläche viermal so klein ist. Die Menge der Punkte, die im Innern
einer viermal so kleinen Oberfläche liegen, ist viermal so klein. Die
Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Sehne, deren Mittelpunkt zufällig bestimmt wurde,
größer als die Seite des gleichseitigen Dreiecks ist, scheint definitionsgemäß gleich
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zu sein.
Welche unter diesen drei Antworten ist die richtige? Keine von den dreien ist falsch,
keine ist ganz richtig; die Frage ist schlecht gestellt.