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haben, schriftstellern heißt für mich, die Sprache meistern [...]. Platt-
deutsch ist noch vielfach Neuland, unbeackerter Boden, jungfräulich,
aber auch voller Unkrautsamen. An meiner Wiege hat man mir noch
alle die plattdeutschen ‚Döünekes‘ gesungen. Ein Grund, weshalb ich
mich der mundartlichen Darstellung zugewandt habe.“ (Linde 2016)
Das Sterben seiner Muttersprache betrachtete F. Linde als unausweich-
lich: „Unse plattdütsche Sproke stirwet [...]. Un Vadder, wann du so’n
Stiarwen sühst un kannst do garnix bie daun un maust iahme sienen
Loup loten – dat es hat.“ (Linde 1937, S. 15f.) – Im vorliegenden Band
der Anthologie-Reihe sind sämtliche Gedichte aus den drei Büchern
„In diar Lechterstunne“ (1924), „Dürch Hien un Strüke“ (1928) und
„Plattdütsch Kleintüg“ [Ende 1933] zu einer Abteilung mit der „Ge-
sammelten Mundartlyrik“ von Fritz Linde vereinigt. Hierbei wurde die
Beschränkung auf Werke der Weimarer Zeit ausnahmsweise miss-
achtet, denn das Erscheinen des letztgenannten Titels fällt ja schon in
das erste Jahr der NS-Herrschaft. – Linde war ohne Zweifel der be-
kannteste märkisch-sauerländische Mundartautor in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts. Der Heimatverein Kierspe betreut ein Fritz-Linde-
Museum. Dr. Horst Ludwigsen urteilt mit großer Wertschätzung: „Fritz
Linde gilt als der Heimatdichter des Märkischen Sauerlandes, der von
der Fachkritik mit Fritz Reuter auf eine Stufe gestellt wird, da er platt-
deutsch ‚denkt‘ und kein umgelautetes Hochdeutsch schreibt. Syntax
und Vokabelschatz sind vom Hochdeutschen weitgehend unbeeinflußt
geblieben. Linde schreibt so, wie man Plattdeutsch in den [19]30er
Jahren in der Region an der Volme sprach“ (Op un dial 2003, S. 199).
Für das ‚Plattdüütsch Liäsebauk‘ des Heimatbundes Märkischer Kreis
hat Ludwigsen besonders populäre Gedichte in neuer Schreibweise dar-
geboten: Hiarkelmai; De Heiernjunge (autobiographisch wirkendes
Hütekindgedicht); Dei olle Hualwiag; Fierowend (ebd., S. 16, 33f, 59f,
173f). Fritz Linde dokumentierte planmäßig Verse aus dem Leutegut
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und ist in den eigenen Texten seines ersten Buches oft der tradierten
Übung gefolgt, heimatliche Sagenstoffe in Form plattdeutscher Reime
zu verarbeiten (Dierk vam Schlout; Dei güldenen Knickers; Dei Kieen-
schmiett van Hoonsche; Vam Kollenbiarg; Dat Schluatt op’m Arney;
Dei Schanhollen im Hülluak). Im Gedicht „De Biargschmiett“ aus dem
Folgenband vermittelt er jedoch den Eindruck, selbst Zeitgenosse eines
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Davon geprägt ist auch sein Gedicht „Weigenlied“. Ähnlich wie Peter Ludwig
Gabriel (s.o.) experimentiert auch Linde im Gedicht „
Riemkes“ auf assoziative Wei-
se mit den überkommenen Spruchweisheiten.
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traurigen und ebenfalls geheimnisvollen Familienschicksals gewesen zu
sein. Typische Themenfelder der Mundartliteratur wie Kinderland,
Natur und Jahreskreis werden auch von Linde bearbeitet. Der Blick auf
die Jahreszeiten ist nicht zuletzt eine Frage des sozialen Standortes:
Wenn im Herbst die Kraniche ziehen, müssen die armen Leute eine Ta-
gesmahlzeit streichen: „Nu hüle mien Kind!“ (Hiarwest). Das tägliche
Brot im Winter ist eine Gunst: „Wual diam, dei sien Brout met Gemake
vertia’t / Un diam se en Füer daut bäuten, / Dei en fasten Dak buar ’em
Koppe noch hiat, / Wann de Sturmwind do buten däut fläuten ...“
(Winterowend).
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– Ausgesprochen christliche Bekenntnisse oder gar
Konfessionelles gibt es in der plattdeutschen Lyrik nicht; es fehlen je-
doch auch die Klischees des Sauerlandlobes. Durchaus im Einklang mit
neuniederdeutschen Literaturtraditionen hat Fritz Linde überzeugende
Gedichte über früheste und frühe Liebe geschrieben, von denen einige
zumindest den Eindruck des Autobiographischen erwecken (Wiarüm-
me; Iat saggte jo ok „nei“!; Wiam art dat Wecht wual einmol no?; Dat
was im Duarpe üm’ de Oustertied; Lotte; Noch einmol ...). – Die
besondere Perspektive eines Arbeiters kommt in der ganzen Mundart-
lyrik nicht vor; vielmehr suggeriert F. Linde, der Naturliebhaber (Im
Siepen
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) und ‚Nebenerwerbslandwirt‘ auf sehr kleinem Kotten, mit
einem Text, ein dichtender Bauer zu sein (
Ieck well op mienem Huawe
sien). Während Plattdeutsch gerade auch in Industriebetrieben des mär-
kischen Sauerlandes gesprochen und weitergegeben wurde, vermittelt
Linde die bäuerliche Sichtweise: „Buernart un platte Sproke, / Einfach,
voll un kärngesund“ (Dei olle Eike). Ob die nationalsozialistisch
geprägte Rezeption des Werkes nach dem Tod im Jahr 1935 sich wirk-
lich auf Intentionen des Dichters beziehen konnte, lässt sich anhand der
bisherigen „Forschungslage“ noch nicht beurteilen (Linde 1937; Be-
gleittexte von Wilh. Lienenkämper und Fritz Kuhne). Dem schlechten
„Zeitgeschmack“ des Jahres 1933 mag besonders ein Gedicht wie
„Dütsche Christnacht“ entsprochen haben.
8. E
MIL
B
LUMENSAAT
(† 1941): Aus der Schreibwerkstatt des Hageners
Emil Blumensaat stammt ein schmaler, illustrierter Gedichtband „Das
lustige Buch“ (1924), der auch plattdeutsche Texte enthält. Über den
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Ein wenig fühlt man sich an Friedrich Nietzsches „Bald wird es schnei’n – / Wohl
dem, der jetzt noch – Heimat hat!“ erinnert.
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In diesem Gedicht geht es um einen Rückzugsort des Dichters, ähnlich wie in
Christine Kochs Text
„Hütte op Sunnenried“ von 1929 (Koch 1992, S. 148-149).