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2.
Analyse
2.1 Ausgangs- und Interessenlage
2.1.1 Maria
Marias Hoffnung auf Elisabeths „freien Willen“
Nach jahrelanger Gefangenschaft auf Schloss Fotheringhay betreibt Maria ihre Befreiung auf
verschiedene Weisen: 1. sie fordert brieflich katholische Staaten zum Beistand auf, 2. hofft auf
Befreiung durch Leicester und Mortimer und 3. erhofft sich, von Elisabeth begnadigt zu
werden.
Nachdem sie von ihrem Todesurteil erfahren hat, übergibt
Maria ihrem Bewacher, Paulet, ein
Schreiben an Elisabeth, in dem sie sie um eine persönliche Unterredung bittet:
Bei diesen Schriften findet sich ein Brief,
Bestimmt für meine königliche Schwester
Von England – Gebt mir Euer Wort, dass Ihr
Ihn redlich an sie selbst wollt übergeben,
[…]
Ihr sollt den Inhalt wissen, Sir. Ich bitte
In diesem Brief um eine große Gunst –
- Um eine Unterredung mit ihr selbst,
Die ich mit Augen nie gesehn – Man hat mich
Vor ein Gericht von Männern vorgefodert,
Die ich als meinesgleichen nicht erkennen,
Zu denen ich kein Herz mir fassen kann.
Elisabeth ist meines Stammes, meines
Geschlechts und Ranges – Ihr allein, der Schwester,
Der Königin, der Frau kann ich mich öffnen. (I/2, V.161-176)
Von Elisabeth erhofft sie sich nun die Befreiung aus ihrer Gefangenschaft:
[…] Mich rettet nicht Gewalt, nicht List.
Der Feind ist wachsam und die Macht ist sein.
Nicht Paulet nur und seiner Wächter Schar,
Ganz England hütet meines Kerkers Tore.
Der freie Wille der Elisabeth allein
Kann sie mir auftun. (I/6,V.661-66)
An dieser Stelle verleiht Maria ihrer Hoffnung Ausdruck, durch Elisabeths „freie[n] Willen“
(V.665) begnadigt zu werden; sie zieht eine Befreiung durch freien Willen einer gewaltsamen
Befreiung vor. Das Zitat drückt auch aus, warum sie eine gewaltsame oder durch List bewirkte
Befreiung ablehnt: sie hält solche Versuche wegen der starken Bewachung für praktisch
undurchführbar.
Marias Brief an Elisabeth legt den Grund für die Königinnen-Begegnung in III/4, dem
Höhe- und Wendepunkt des Dramas. Es stellt sich jedoch die Frage, was Marias Hoffnung auf
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Elisabeths freien Willen motiviert. Aus Marias Sicht sind hier zunächst eine Reihe von
„Unziemlichkeiten“ (V.985) im Rechtsverfahren gegen sie zu nennen. Sie wurde „wider
Völkerrecht und Königswürde“ (V.90) eingesperrt, ohne dass zu diesem Zeitpunkt Anklage
gegen sie erhoben worden wäre. Zu den Verfahrensmängeln gehört auch, dass Maria „schnell,
mit unanständiger Eile“ (V.219) vor Gericht gestellt wurde, ohne Beistellung eines Anwalts.
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Auch der Urteilsspruch bleibt Maria zunächst vorenthalten.
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Maria argumentiert, dass sie als „eine freie Königin des Auslands“ (V.727) nicht der
Gerichtsbarkeit Englands unterliege, umso weniger als die Mitglieder des Gerichts nicht ihres
Standes seien:
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„Nur Könige sind meine Peers“ (V.706). Zudem wird eine „Akte“, ein Gesetz,
(V.847) zum Schutz der englischen Königin verabschiedet.
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Maria empfindet dieses Gesetz als
„ausdrücklich / Auf [s]ich gemacht, verfasst, [sie] zu verderben“ (V.856f.). Dieses, auf Maria
gemünzte, Einzelfallgesetz wird schließlich zur unzulässigen Rechtsgrundlage ihrer
Verurteilung, denn die Attentatsversuche gegen Elisabeth (V.69-73) werden gemäß dem
Wortlaut des Gesetzes Maria zugeschrieben;
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als entscheidender Beweis im Verfahren dienen
zudem die vom Schreiber Kurl gefälschten Briefe Marias an den Verschwörer Babington.
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Der
Anklagepunkt, der zu ihrer Verurteilung führt, ist auch in der Sache unzutreffend, weil Maria
Elisabeth nie nach dem Leben getrachtet hat, wie sie Melvil später beichtet.
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Eine
Gegenüberstellung mit ihren Schreibern und dem hingerichteten Verschwörer Babington, wie
von Maria gefordert und wie es das englische Recht vorsieht, hätte diesen Anklagepunkt
ausgeräumt.
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Eine Begnadigung erscheint sich aus Marias Sicht auch aus Gründen der Menschlichkeit zu
ergeben, angesichts der entwürdigenden Umstände ihrer Gefangenschaft: Ihr Zimmer wird
durchsucht (I/1), ihre Wertsachen und Diener werden ihr entrissen und sie selber steht unter
ständiger persönlicher Überwachung.
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Weiterhin gründet sich ihre Hoffnung auf die Tatsache,
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Maria in V.220. Dies bestätigt Shrewsbury in V.1351.
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S.o.; „ein peinlich langer Monat ist vorüber“ (V.216)
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Siehe V. 170-172; 373-375.
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Burleigh zitiert den Wortlaut des Gesetzes in V.849-854.
8
Burleigh wirft Maria die Leitung des Babington-Mordkomplotts vor, die sie aus der Gefangenschaft in
Fotheringhay heraus geplant habe, vgl. V.867-870.
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Das Auffinden der gefälschten Briefe wird im Drama nicht explizit genannt, doch da die Briefe im Verfahren
gegen Maria verwendet werden, müssen sie im Zuge der Verurteilung Babingtons bei ihm gefunden worden
sein. Über die Falschaussage von Marias Schreiber Kurl siehe V/13, V.3936-3940.
10
Vgl. sog. „Beichtszene” V/7, V.3729f. Siehe auch Kurls Aussage V.3936-40.
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Siehe V.985-990; V.917-923.
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Vgl. V.2295-97; V. 2301-03; V.663 f.