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Elisabeths Untertan und zudem ist sie das Staatsoberhaupt Schottlands.
23
Das Gesetz zum
Schutz von Elisabeths Leben, die sog. „Akte“, ist zwar nicht von Elisabeth erlassen worden,
aber stellt ein unzulässiges Einzelfallgesetz dar.
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Eine Hinrichtung entspräche jedoch dem Volkswillen, dem sich Elisabeth nicht
widersetzen möchte.
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Sie sieht ihren Willen durch den Volkswillen eingeschränkt; ihre innere
Zerrissenheit diesbezüglich drückt sich in folgendem Zitat aus:
Es [i.e. das Urteil] muss vollzogen werden, Mortimer!
Und ich muss die Vollziehung anbefehlen.
Mich immer trifft der Hass der Tat. Ich muss
Sie eingestehn, und kann den Schein nicht retten.
Das ist das Schlimmste! (II/5,V.1595-99)
Elisabeth sorgt sich hier um den Schein der Gerechtigkeit, die sie als vom Amt aufgezwungen
sieht und die nicht ihrem freien Willen entspringe.
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Ihr Konflikt entsteht hier daraus, dass
einerseits das englische Volk auf die Vollstreckung von Marias Todesurteil drängt, dass
Elisabeth sich aber andererseits nicht den Schein einer Schuld geben will, wenn es um ihre
Unterzeichnung des Todesurteils geht.
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Laut Burleigh ergibt sich ein solcher Schein aber
zwangsläufig, denn: „Die Welt / Glaubt nicht an die Gerechtigkeit des Weibes, /
Sobald ein
Weib das Opfer wird“ (V.1019-1021). Damit spielt Burleigh auf die Rechtmäßigkeit des
Urteils an, dessen Vollstreckung zwar nach geltendem Gesetz ebenfalls rechtmäßig wäre,
dessen Vollstreckung jedoch zugleich den „böse[n] Schein“ (V.1600) der Unrechtmäßigkeit
hätte. Auch Elisabeth erkennt das an: „Was man scheint, / Hat jedermann zum Richter, was
man ist, hat keinen“ (V.1601f.).
28
Demnach birgt aus ihrer Sicht die Hinrichtung auch die
Gefahr die Volksgunst zu verlieren.
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Eine Hinrichtung erscheint ihr aber auch selbst unmenschlich, denn der Brief Marias rührt
Elisabeth sichtbar; sie trocknet ihre Tränen, nachdem sie ihn gelesen hat:
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– Verzeiht, Mylords, es schneidet mir ins Herz,
Wehmut ergreift mich
und die Seele blutet,
Dass Irdisches nicht fester steht, das Schicksal
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Vgl. Shrewsbury gegenüber Elisabeth in V.1316-19. Dasselbe Argument wird schon in I/1, V.90 von Hanna
Kennedy im Zusammenhang mit Marias Inhaftierung vorgebracht.
24
Es ist zu beachten, dass Elisabeth nicht zum Recht sprechenden Gericht zu zählen ist, denn dieses Gericht
bestand aus den Lords; die Ungerechtigkeit des Vorgehens müsste ihr jedoch bewusst sein.
25
Vgl. V.1254 f. Zum Einfluss des Volkswillens auf Elisabeths freien Willen siehe ausführlich 2.3 Elisabeth in
der Verantwortung.
26
Vgl. hierzu Elisabeths Aussage in IV/10, V. 3208-3211, V. 1155 „Könige“ als „Sklaven ihres Standes“.
27
Siehe Maria in V.972-974: „Sie geb es auf, mit des Verbrechens Früchten / Den heil’gen Schein der Tugend
zu vereinen, / Und was sie ist, das wage sie zu scheinen!“
28
Auch die zukünftige Vermählung mit dem Duc von Anjou (dem franz. Königssohn) sei dem Volk geschuldet
und schränke ihren Willen ein (V.1161-68).
29
Vgl. Shrewsburys Beschreibung des Volkswillens als “unstet schwanke[s] Rohr” (V.1341) und auch
Elisabeths Beschreibung des Volkes als „Rohr” im Wind (V.3260-62).
30
Siehe Anweisung vor V.1528.
8
Der Menschheit, das entsetzliche, so nahe
An meinem eignen Haupt vorüberzieht. (II/4,V. 1538-42)
Zudem handelt es sich bei Maria ebenfalls um eine Königin und Blutsverwandte.
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Somit stellt
sich ihr eine Hinrichtung auch als unbefriedigend dar: „Doch diese Weisheit, welche Blut
befiehlt,/ Ich hasse sie in meiner tiefsten Seele.“ (V.1298f.).
Elisabeths Dilemma besteht also darin, dass ihr sowohl die Hinrichtung als auch Marias
Begnadigung nachteilig erscheinen. Diesem Dilemma weicht sie aus, indem sie sich selber
ihren freien Willen abspricht und Marias Ermordung in Gefangenschaft betreibt.
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Burleigh
bringt Elisabeths „Dilemma der Wahl“ bereits am Ende des
ersten Aktes trefflich zum
Ausdruck:
[…] – Ich lese
In ihren Augen ihrer Seele Kampf,
Ihr Mund wagt ihre Wünsche nicht zu sprechen,
Doch vielbedeutend fragt ihr stummer Blick:
Ist unter allen meinen Dienern keiner,
Der die verhasste Wahl mir spart, in ew’ger Furcht
Auf meinem Thron zu zittern, oder grausam
Die Königin, die eigne Blutsverwandte
Dem Beil zu unterwerfen? (I/8, V. 1029-1037)
Gegen Elisabeths Verleugnung ihres freien Willens
stehen Shrewsburys Worte, der die
Geltung von Elisabeths freiem Willen betont: „Sobald du willst, in jedem Augenblick/ Kannst
du erproben, dass dein Wille frei ist.“ (V.1332f.). Elisabeths Mordpläne sind jedoch stark von
Angst bestimmt:
Ihr habt die Feinde Englands kennen lernen.
Ihr Hass ist unversöhnlich gegen mich,
Und unerschöpflich ihre Blutentwürfe.
Bis diesen Tag zwar schützte mich die Allmacht,
Doch ewig wankt die Kron’ auf meinem Haupt,
Solang sie lebt, die ihrem Schwärmereifer
Den Vorwand leiht und ihre Hoffnung nährt. (II/5, V.1582-88)
Es handelt sich um Angst betreffend ihren dynastischen Herrschaftsanspruch, Sorge um die
Souveränität Englands, Angst um ihr eigenes Leben sowie – und das ist entscheidend für die
Mordpläne - Angst vor der Wahl zwischen Begnadigung und Hinrichtung. Dagegen verspricht
ihr nur Marias Ermordung Sicherheit. Der Volkswille deckt sich also insoweit mit Elisabeths
Willen, als er auch Marias Tod zum Ziel hat, nur die Mittel, wie dies zu erreichen ist
unterscheiden sich.
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Maria argumentiert bei dem persönlichen Treffen mit Elisabeth u.a. mit dieser Blutsverwandtschaft der Tudors
(V2267f.). Shrewsbury gegenüber Elisabeth für eine Begnadigung aus Menschlichkeit (V.1545-49).
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Mordpläne: Burleigh versucht Marias persönlichen Bewacher, Paulet, zum Mord zu überreden, indem er sie
versterben lassen solle (V.1059f.); dieser weigert sich jedoch mit der Berufung auf sein Gewissen (V.1062).
Elisabeths Mordauftrag an Mortimer V.1622-24. Verleugnung ihres freien Willens: z.B. V.1155 f.; 1245f.;
1254.