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Vor dem oben genannten Hintergrund kann eine Begnadigung Marias aus Elisabeths Sicht
keine erwünschte Alternative sein; für diese Position lassen sich weitere Argumente anführen:
aufgrund des Urteils muss Elisabeth davon ausgehen, dass Maria wirklich die
„Mordanstifterin“ (V.1516) ist, als die sie Burleigh bezeichnet. Außerdem beschuldigt
Burleigh Maria, konspirative Kontakte zum spanischen Botschafter Mendoza zu unterhalten
(V.929f.). Von Mortimer erfährt Elisabeth auch, dass schottische Verbannte Umsturzpläne
gegen sie planen (V.1477-79) und dass er Maria verschlüsselte Briefe übermitteln solle
(V.1482-84).
2.2 Die
Königinnen-Begegnung
In der vierten Szene des dritten Aktes kommt es schließlich zu dem von Maria erhofften
persönlichen Treffen mit ihrer Kontrahentin Elisabeth. Leicester insistierte deshalb auf dieser
Begegnung, weil er – ebenso wie Burleigh es befürchtet (V.1525-27) – sicher ist, dass die
Begegnung der Königinnen notwendig die Begnadigung Marias zur Folge hat: „Burleigh hat
Recht. Das Urteil kann nicht mehr / Vollzogen werden, wenn sie sie gesehn“ (V.1905 f.).
Nach Verkündung des Urteils steht Elisabeth jetzt ‚nur noch‘ das Recht zu, über eine
Begnadigung zu entscheiden; eine Begnadigung als solche bezieht ihre Legitimität nicht aus
geschriebenem Recht, sondern aus Menschlichkeit.
33
Über die (Un)wahrscheinlichkeit solch
einer Begnadigung aus Elisabeths Sicht wurde oben schon diskutiert.
Maria hofft dennoch, dass sich Elisabeths „freier Wille“ (V. 665) zu ihren Gunsten
entscheidet und sie begnadigt wird.
34
In Verfolgung der Fragestellung ist hier besonderes
Augenmerk darauf zu richten,
wie Maria versucht dieses Ziel zu erreichen und
wie Elisabeth
aus ihrer Position der Stärke agiert.
Maria bemüht sich um Annäherung durch Unterwerfung, Appell an die Menschlichkeit und
Deeskalation bis hin zum Thronverzicht.
35
Auffallend ist, dass Maria Elisabeth durchgehend
als „Schwester“ anredet und damit auf die Blutsverwandtschaft der Tudors anspielt.
36
[…] ehrt
In mir Euch selbst, entweihet, schändet nicht
Das Blut der Tudor, das in meinen Adern
Wie in den Euren fließt […] (III/4, V.2265-68)
33
Daher der Ausspruch „Gnade vor Recht ergehen lassen“.
34
Vgl. auch V.2390-94.
35
Unterwerfung V.2245-49; Versöhnung: „Ihr seid nicht schuldig, ich bin auch nicht schuldig,“(V.2308).
36
Anrede „Schwester” in V. 2250, 2253, 2321, 2386, 2399, 2411, 2492. Elisabeth war Marias Tante zweiten
Grades. Über die familiäre Verbindung der Tudors siehe Grawe 1999, 10 Anm. zu 89 und S. 52 f.
10
Neben der „Schwester“ ist das „Herz“ als ein dominanter Begriff Marias zu nennen; mit ihm
versucht sie an die menschliche Seite Elisabeths zu appellieren.
37
Auf den Hinweis der
Blutsverwandtschaft zwischen Maria und Elisabeth folgt Marias Appell an Elisabeths Herz:
Steht nicht da, schroff und unzugänglich, wie
Die Felsenklippe, die der Strandende
Vergeblich ringend zu erfassen strebt.
Mein Alles hängt, mein Leben, mein Geschick,
An meiner Worte, meiner Tränen Kraft,
Löst mir das Herz, dass ich das Eure rühre!
Wenn Ihr mich anschaut mit dem Eisesblick,
Schließt sich das Herz mir schaudernd zu, der Strom
Der Tränen stockt, und kaltes Grausen fesselt
Die Flehensworte mir im Busen an. (III/4, 2269-78)
Das „Herz“ wird bei Maria zum Symbol für Mitmenschlichkeit.
38
Elisabeth benutzt den
Begriff „Herz“ dagegen nur ein einziges Mal und dann auch nur, um Maria abzuwerten: „-
Nicht die Geschicke, Euer schwarzes Herz / Klagt an, die wilde Ehrsucht Eures Hauses.“
39
Marias Appelle an die Menschlichkeit Elisabeths werden dadurch verstärkt, dass Maria ihr
Menschsein als solches und ihre Fehlbarkeit als Mensch herausstreicht:
Ich habe menschlich jugendlich gefehlt,
Die Macht verführte mich, ich hab es nicht
Verheimlicht und verborgen […] (III/4, V.2421-23)
Trotz dieser Unterwerfungsgesten zeigt Elisabeth sich unversöhnlich und provozierend.
- Ja, es ist aus, Lady Maria. Ihr verführt
Mir keinen mehr. Die Welt hat andre Sorgen.
Es lüstet keinen Euer – vierter Mann
Zu werden, denn Ihr tötet Eure Freier
Wie Eure Männer! (III/4, V.2407-11)
Die Bühnenanweisung, bevor Elisabeth Maria nach dem Grund des Zusammentreffens fragt,
beschreibt sie als „kalt und streng“.
40
Als äußerstes Mittel, den Konflikt zu entschärfen, bietet
Maria ihren Thronverzicht an: „Regiert in Frieden! / Jedwedem Anspruch auf dies Reich
entsag ich.“ (V.2378f.). Dennoch schlägt Elisabeth Marias ausgestreckte Hand aus. Es stellt
sich die Frage, warum sie eine Versöhnung bzw. Begnadigung trotz Marias Thronverzichts
ablehnt; die Ursachen für dieses irrational anmutende Verhalten scheinen einerseits in
Elisabeths Ängsten vor potentiellen Mordanschlägen und andererseits in Vergeltungsdrang und
37
In gleicher Weise appelliert Maria in V.2253; 2392 an den „Edelmut“ ihrer „Schwester“.
38
Dominante Stellung des Begriffes „Herz” bei Maria: V. 2232, 2274, 2276, 2290, 2310; bei Elisabeth: „Euer
schwarzes Herz“ V. 2330 „schwarz“ wird hier wohl i.S. von „boshaft“ benutzt, kann aber auch die Bedeutung
„Eifersucht“ konnotieren vgl. „schwarze Galle“ (Eifersucht, (schwed.) svartsjuka), zumal V. 2331 mit
„Ehrsucht“ fortfährt.
39
Siehe III/4, V.2330 f.
40
Siehe Kommentar vor V.2279.