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[…]
Hier ist
kein Aufschub, jene hat gelebt,
Wenn ich dies Blatt aus meinen Händen gebe.
ELISABETH. Ja, Sir! Gott legt ein wichtig groß Geschick
In Eure schwachen Hände. Fleht ihn an,
Dass er mit seiner Weisheit Euch erleuchte.
Ich geh und überlass Euch Eurer Pflicht. (IV/11, V.3269-3282)
Als eine Untersuchung von Kurls – für Maria todbringende (!) – Falschaussage wegen Marias
erfolgter Hinrichtung nicht mehr möglich ist, schiebt Elisabeth schließlich alle Verantwortung
auf ihren Untergebenen Davison, der sich den von Elisabeth unterschriebenen
Vollstreckungsbefehl von Burleigh abnehmen ließ.
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Im letzten Auftritt des fünften Aktes
schiebt sie die Verantwortung auch auf Burleigh; sie wirft ihm vor, er habe eine Begnadigung
verhindert:
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Und Ihr vollstrecktet ihn,
Rasch, ohne meinen Willen erst zu wissen?
Das Urteil war gerecht, die Welt kann uns
Nicht tadeln, aber Euch gebührte nicht,
Der Milde unsres Herzens vorzugreifen –
Drum seid verbannt von unserm Angesicht! (V/15, V.4002-07)
Elisabeth lässt Davison in den Tower werfen und vor Gericht stellen:
Ein
strenges Gericht erwartet Euch,
Der seine Vollmacht frevelnd überschritten,
Ein heilig anvertrautes Pfand veruntreut.
Man führ ihn nach dem Tower, es ist mein Wille,
Dass man auf Leib und Leben ihn verklage. (V/15, V.4008-12)
Davison und Burleigh werden hier zu Elisabeths Sündenböcken und einer Art ‚Ventil‘ für ihr
schlechtes Gewissen. Durch die unklare Handlungsanweisung an Davison darüber, was mit
dem von ihr unterschriebenen Urteil zu geschehen habe, und der Kritik am Volk versucht
Elisabeth sich von jeglichem Schein einer Schuld zu distanzieren.
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Doch der Verantwortung
für ihre Unterschrift kann sie nicht entkommen, denn Maria wird schließlich aufgrund dieses
unterschriebenen Urteils hingerichtet.
2.4 Marias
Tod
Die Freiheitsthematik erhält im fünften Akt ihre entscheidende Ausformung; bevor jedoch
Marias Verhalten in diesem Zusammenhang analysiert werden kann, muss man sich ihre
Ausgangslage noch einmal vergegenwärtigen.
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Siehe IV/12, V.3325-48.
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Elisabeth verkennt hier immer noch die Faktenlage, da sie nicht an die Falschaussage von Marias Schreiber
Kurl glaubt (V.3947-49). Es geht also nicht, wie sie meint, um eine u.U. entgangene Begnadigung, sondern
um einen verpassten Freispruch, weil Maria in dem ihr zur Last gelegten Anklagepunkt unschuldig ist.
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Vgl. das Volk als „Rohr” im Wind (V. 3262) und die behauptete Einschränkung von Elisabeths freien Willen
durch den Volkswillen.
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Zu Beginn des fünften Aktes steht fest, dass Leicesters und Mortimers Rettungspläne
gescheitert sind; Marias Hoffnungen darauf können sich also nicht erfüllen.
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Elisabeth hat
zudem das Todesurteil verletzt und zornig unterschrieben (V.3239-48). Damit ist auch eine
Begnadigung ausgeschlossen. Marias Tod ist somit nur noch eine Frage der Zeit, nachdem
Burleigh das von Elisabeth unterschriebene Urteil Davison abgenommen hatte, um es selber
schnellstmöglich zur Vollstreckung zu bringen (IV/12).
Folglich bleibt Maria sich selbst überlassen. Im Hinblick auf das Freiheitskonzept stellt
sich die Frage, wie Maria unter dieser Zwangslage handelt.
Die Beichtszene
Für die Beantwortung dieser Frage ist die Beichtszene in V/7 von zentraler Bedeutung; denn
hier deutet Maria zum einen ihren bevorstehen Tod um als Sühne für die Beteiligung an der
Ermordung ihres zweiten Ehemannes Darnley, was ihr hilft den Tod zu akzeptieren und zum
anderen bestätigt sich hier ihre Unschuld im Anklagepunkt.
Wegen der Bedeutung der Beichtszene für die Fragestellung soll an dieser Stelle
detaillierter dargelegt werden, mit welcher Haltung Maria ihre Umdeutung formuliert. In der
Beichte tritt Maria vor ihren höchsten Richter (V.3589), Gott, und bekennt dem Priester Melvil
– nur ihrem „Gewissen“ (3674) verantwortlich – ihre moralische Schuld: sie beichtet Hass und
Rachegedanken gegenüber Elisabeth (V.3676-79), Ehebruch durch „sünd’ge Liebe“ (V.3684)
und die Mitbeteiligung an der Ermordung ihres Mannes Darnley; im Anschluss daran hatte sie
den Mörder, Bothwell, geehelicht:
Den König, meinen Gatten, ließ ich morden,
Und dem Verführer [i.e. Bothwell] schenkt ich Herz und Hand!
Streng büßt ich’s ab mit allen Kirchenstrafen,
Doch in der Seele will der Wurm nicht schlafen. (V/7, V.3697-3700)
Im entscheidenden Punkt aber, dem „Verbrechen, / Um dessentwillen [sie] die Menschen
strafen […] [wegen ihres] blut’gen Anteil[s] / An Babingtons und Parrys Hochverrat“ (V.3711-
14), ist Maria unschuldig. Nachdem Margareta Kurl in V/2 schon davon gesprochen hatte, dass
Maria aufgrund der Falschaussage ihres Mannes und Marias Schreibers unschuldig sterbe,
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bestätigt jetzt Maria in ihrer Beichte gegenüber Melvil ihre Unschuld;
sie habe Elisabeth nie
nach dem Leben getrachtet, war also am Babington und Parry Hochverrat unbeteiligt:
Ich habe alle Fürsten aufgeboten,
Mich aus unwürd’gen Banden zu befrein,
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Vgl. V.3386-91.
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Zur Falschaussage von Kurl siehe auch V.3435-37; 3439; 3444. Auch nach Shrewsburys Worten in V. 3927f.
war Kurls Aussage für Marias Tod entscheidend.