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Doch nie hab ich durch Vorsatz oder Tat
Das Leben meiner Feindin angetastet! (V/7, V.3727-30)
Nach den gravierenden Rechtsverstößen im Verfahren gegen Maria, kommt nun also auch das
Fehlurteil hinzu. Eine Gegenüberstellung mit Kurl und Nau - wie früher durch Maria gefordert
und durchs englische Recht vorgesehen
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- hätte Marias Verurteilung in diesem Anklagepunkt
verhindert.
Maria deutet nun das so zustande gekommene ungerechte Urteil vor ihrem „höchsten
Richter“ (V.3589) und ihrem „Gewissen“ (V.3674) um; ihre gedankliche Umdeutung erfolgt in
der Weise, dass sie ihren Tod als Sühne für ihre (Mit)Schuld an der Ermordung ihres Mannes
Darnley sieht;
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dadurch beugt sie sich nicht etwa passiv der „Gewalt“ (V.962), sondern gibt
dem Tod selbstbestimmt einen neuen Sinn:
Gott würdigt mich, durch diesen unverdienten Tod
Die frühe schwere Blutschuld abzubüßen. (V/7, V. 3735f.)
Selbst in dieser Zwangslage erscheint ihr der Tod als von Gott gegebenes Glück, ihre „schwere
Blutschuld abzubüßen“ und so ihren Seelenfrieden zu erreichen.
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Marias Umdeutung i.S.
einer Sühne für Darnleys Ermordung lässt sich als Umsetzung von Melvils Worten verstehen:
Dem Himmel gilt
Der feurig fromme Wunsch statt des Vollbringens.
Tyrannenmacht kann nur die Hände fesseln,
Des Herzens Andacht hebt sich frei zu Gott,
Das Wort ist tot, der Glaube macht lebendig. (V/7, V.3596-3600)
Melvil bringt hier zum Ausdruck, dass nur der körperlichen Seite eines Menschen Zwang
widerfahren könne, der Geist dagegen sei grundsätzlich frei vom Zwang der „Tyrannenmacht“.
Im „Glaube[n]“ steckt demnach die Kraft, den Tod als Grenze menschlicher Freiheit zu
überwinden. Durch Marias Umdeutung des Todes unter religiösen Vorzeichen, nämlich als
Sühne für vergangene Schuld, verwirklicht sie diesen Gedanken.
Es bleibt festzuhalten, dass in Marias Umdeutung des Todes das Freiheitsthema seine
Zuspitzung erfährt, indem eine scheinbar ausweglose Zwangslage noch die Möglichkeit freien
Handelns im Umgang mit Schuld bietet.
Versöhnung und Religiosität
Nicht nur in der Beichtszene, sondern auch in der sonstigen Auseinandersetzung mit ihrem
Tod, tritt Marias innige Religiosität zum Vorschein. Wie schon für Marias Umdeutung des
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Siehe V.985-990; V.917-923.
58
Siehe oben sowie V. 292 f.
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Vgl. „Streng büßt ich’s ab mit allen Kirchenstrafen, / Doch in der Seele will der Wurm nicht schlafen.“ (V.3699 f.)
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Todesurteils in der Beichtszene nachgewiesen, zeigt sich auch in Marias Versöhnung mit
anderen und sich selbst, die von Melvil formulierte Freiheit des Geistes bzw. Glaubens.
Sowohl Sühne als auch Versöhnung sind Ausdruck von Marias Religiosität:
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Ich habe alles Zeitliche berichtigt,
Und hoffe keines Menschen Schuldnerin
Aus dieser Welt zu scheiden – (V/7, V.3581-83)
Nach dieser Maxime handelt Maria auch: Sie vergibt ihren Schreibern Kurl und Nau die
Falschaussage, die sie letztlich aufs Schafott bringt (V.3731-33),
vergibt Elisabeth das
ungerechte Todesurteil und bittet sie ihren gefühlsmäßigen Ausbruch („Heftigkeit von
gestern“) im Verlauf ihrer persönlichen Begegnung zu entschuldigen:
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Sagt ihr,
Dass ich ihr meinen Tod von ganzem Herzen
Vergebe, meine Heftigkeit von gestern
Ihr reuevoll abbitte – Gott erhalte sie,
Und schenk ihr eine glückliche Regierung! (V/8, V.3782-86)
Sie beweint nicht ihr eigenes Schicksal, sondern nur den Verrat Leicesters und Mortimers
Tod.
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Marias Anteilnahme für andere kontrastiert stark mit Elisabeths harter Reaktion, die
eifersüchtig auf Rache sinnte, als sie vom Verrat durch denselben Leicester erfuhr: „Er soll sie
fallen sehn, und nach ihr fallen. / Verstoßen hab ich ihn aus meinem Herzen, / Fort ist die
Liebe, Rache füllt es ganz.“ (V.2847-49). Demgegenüber hat Maria sogar in ihrer Todesstunde
noch versöhnliche Worte für Leicester:
Lebt wohl, und wenn Ihr könnt, so lebt beglückt!
Ihr durftet werben um zwei Königinnen,
Ein zärtlich liebend Herz habt Ihr verschmäht,
Verraten, um ein stolzes zu gewinnen,
Kniet zu den Füßen der Elisabeth!
Mög Euer Lohn nicht Eure Strafe werden! (V/9, V.3832-37)
Durch Hannah Kennedys Worte erfahren wir weiter, wie Maria sich auf den Tod vorbereitet
hat: „Den Rest der Nacht durchwachte sie mit Beten, / Nahm von den teuern Freunden
schriftlich Abschied, / Und schrieb ihr Testament mit eigner Hand.“ (V.3419-21).
Maria nimmt Zuflucht in Gebeten, während ihre Nahestehenden in tiefster Trauer um sie
sind.
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In der sechsten Szene des fünften Aktes tritt Maria erstmalig zu ihren Bediensteten und
Vertrauten; die Bühnenanweisung lässt sie als Lichtgestalt „weiß und festlich gekleidet“
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Maria verzeiht Kurl (V.3553-57), Elisabeth (V.3781-86) und Leicester (V.3819-37). Vgl. auch Fürsorge und
Treue gegenüber ihren Untergebenen V.3503-06; 3514-41; 3550-52; 3558-66; 3553-57.
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Siehe 2.2 Die Königinnen-Begegnung.
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Vgl. V.3385f.; 3410-17.
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Marias Gebete in V.3419; 3462 f. Trauer der Bediensteten weit über den 5. Akt verteilt.