Die verkannte Tamar (Genesis 38)
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Eine Bibelarbeit zu Ehren des Mit-Entdeckers
der Evolutionstheorie
Alfred Russel Wallace
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Dr. Michael Blume beim
Bibelhauskreis, 01. Juli 2007
Über Ihre Einladung, heute einige meiner religionsbiologischen Arbeiten Ihrem
Bibelkreis vorstellen zu dürfen, habe ich mich sehr gefreut. Und das ist keine Floskel,
geben Sie mir doch die Möglichkeit, gleich vier Wünsche einzulösen, die ich schon
seit längerem mit mir herumtrage.
1. geht es dabei um die Tamar-Geschichte in Genesis 38 - eine der schwierigsten,
aus gutbürgerlicher Sicht peinlichsten und also aus Sicht der meisten Prediger und
Bibelkommentatoren unbeliebtesten Bibelstellen. Heute geben Sie mir endlich die
Gelegenheit, einmal darzulegen, warum ich bei mehreren Vorträgen und auch online
(
www.religionswissenschaft.twodays.net
) jedem Wissenschaftler und Interessierten,
den die Evolution des Menschen fasziniert, ausgerechnet dieses Kapitel zur Lektüre
empfohlen habe. Die faszinierend-starke Tamar, hier in einer modernen Zeichnung
von Deborah Reeder als eben nur scheinbar unterworfene, willensstarke Frau mit
Stab und Ring des Juda gezeichnet, birgt echte wissenschaftliche Brisanz!
2. geht es mir dabei um Alfred Russel Wallace (1823-1913). Auch in Deutschland
wissen leider bisher nur sehr wenige Menschen, dass die wegweisende Theorie der
Evolution gleichzeitig von zwei großen Wissenschaftlern entdeckt wurde. Und nicht
wenige Wissenschaftshistoriker sind der Meinung, dass Alfred Russel Wallace weit
mehr Entdeckerruhm gebührte, als ihm Darwin gelassen habe. Heute möchte ich
aber aufzuzeigen, dass der fast vergessene Wallace auf Basis der Evolutionstheorie
zu ganz anderen Schlüssen in Fragen der Demografie, des Krieges, der Rolle der
Frauen, der Eugenik und schließlich der Bedeutung der Religion gekommen ist als
der auf Darwin folgende (ihn teilweise auch missbrauchende) „Darwinismus“. Ich
möchte nicht nur aufzeigen, dass neuere Daten in diesen Fragen heute eher
„wallacianische“ als „darwinistische“ Position stützen - sondern auch, dass der
Menschheit und der Wissenschaft womöglich viel erspart worden wäre, wenn die
Interpretation der Evolutionstheorie nicht so einseitig monopolisiert worden wäre.
Diese Diskussion von Evolutionstheorie entlang eines Bibeltextes ist daher dem
Gedenken an Alfred Russel Wallace gewidmet, der sich, so hoffe ich, darüber gefreut
hätte - und vielleicht gar freut, verstand er sich doch selbst als Christ und glaubte fest
an ein Weiterleben nach dem Tode.
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3. darf ich heute mit der Form einer Bibelarbeit einmal eine ungewöhnliche
Präsentationsform für Religionswissenschaft wählen. Die Disziplin, aus deren
Perspektive ich heute spreche, ist keine Theologie, sondern eine unabhängige und
vergleichende Wissenschaft, die an sich selbst den Anspruch des „methodologischen
Agnostizismus“ stellt. Dies bedeutet, dass ihre Aussagen grundsätzlich empirisch
überprüfbar und also unabhängig von bestimmten, religiösen Glaubensannahmen
nachvollziehbar
sein
sollten.
Das
heißt
aber
natürlich
nicht,
dass
Religionswissenschaftler nicht auch jeweils selbst persönliche Haltungen zur Religion
hätten. Viele von uns reden nur nicht gerne darüber, tun lieber so, als stünden wir
„darüber“. Diesen Anspruch erhebe ich nicht. Ich freue mich vielmehr über die
Gelegenheit, einerseits aus religionswissenschaftlicher Perspektive zu sprechen und
andererseits als Christ, getauft übrigens von einem der hier Anwesenden, ein
besonderes Kapitel der Bibel und eine wegweisende Vorfahrin Jesu vorzustellen.
4. und abschließend hoffe ich, auch mehr Theologinnen und Theologen
verschiedener Religionen für die Beschäftigung mit Naturwissenschaften insgesamt
und der Evolutionstheorie im Besonderen zu begeistern. Denn ich bin der
Auffassung, dass die Vertreter des „Intelligent Design“-Kreationismus nicht nur ihre
Religionen wiederum der Lächerlichkeit preisgeben, sondern auch, dass die unnötige
Frontstellung zwischen vielen religiösen Gemeinschaften und den modernen
Wissenschaften beide Seiten beschädigt. Dass die darwinistische Lesart der
Evolutionstheorie bis heute (etwa in den atheistisch-fundamentalistischen
Strömungen der Memetik und des „New Atheism“) so oft von Ressentiments gegen
Vielfalt, Frauen und Religionen geprägt wird, hat meines Erachtens wesentlich auch
damit zu tun, dass sich bis heute zu wenige Gelehrte (aller Religionen) gefunden
haben, die sich ernsthaft auf Fragen der Biologie einließen, von ihr lernten, aber
auch die Schwächen des darwinistischen Mainstreams aufdeckten.
Sind Sie bereit? Dann lassen Sie uns in die faszinierende Welt zwischen Bibel und
Evolutionstheorie eintauchen!
Genesis 38, 1-5
Es begab sich um diese Zeit, daß Juda hinabzog von seinen Brüdern und gesellte
sich zu einem Mann aus Adullam, der hieß Hira.
Und Juda sah dort die Tochter eines Kanaaniters, der hieß Schua, und nahm sie zur
Frau. Und als er zu ihr einging, ward sie schwanger und gebar einen Sohn, den
nannte er Er. Und sie ward abermals schwanger und gebar einen Sohn, den nannte
sie Onan. Sie gebar abermals einen Sohn, den nannte sie Schela; und Juda war in
Kesib, als sie ihn gebar.
Diskussion: Wie funktioniert eigentlich die Evolution des Menschen?
Auf den ersten Blick erscheint die Einführung in die Tamar-Geschichte patriarchal
und unspektakulär. Hier wird, aus Sicht des Stammvaters des bedeutendsten
Stammes Israels und Namensgebers des Judentums, seine Familiengründung
beschrieben - wobei nur Söhne aufgezählt werden und seine Frau hier nicht einmal
einen eigenen Namen erhält, sondern nur als „Tochter eines Kanaaniters, der hieß
Schua“ vorgestellt wird. (Immerhin: In einem jüdischen Midrasch, einer überlieferten
Bibelauslegung, wird sie uns als Alit vorgestellt.)
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Doch beim zweiten Hinsehen fällt auf, dass Juda hier etwas nicht nur für die
damalige Zeit und das damalige Verständnis Außergewöhnliches tut: obwohl Ältester