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und Erster unter seinen Brüdern, verlässt er Elternhaus und Sippe und begibt sich in
die Fremde. Statt auf ihm ergebene Blutsverwandte stützt er sich nur noch auf die
Freundschaft eines Fremden. Und er heiratet eine Kanaaniterin, auch seine Kinder
werden, wie der fünfte Vers noch einmal hervorhebt, ausdrücklich fern von seiner
Familie geboren.
Die jüdische Tradition setzt diesen Weg mit der vorhergehenden Geschichte vom
Verrat am Bruder Josef und seinem Verkauf in die Sklaverei in Beziehung - Juda
habe die Trauer seines Vaters und die Vorwürfe seiner Bruder, die ihn als den
Ältesten verantwortlich machten, nicht mehr ertragen.
Wir aber sind hier schon mitten in der ersten Frage, die sich bei einem Vergleich
Darwin - Wallace stellt. Wie verläuft die natürliche Selektion, der Wettbewerb in der
Evolution des Menschen? Siegt wirklich nur „der Stärkere“ - und wer ist das?
Wallace - Darwin
Für Darwin war die Antwort, dem Demografen Malthus folgend, klar: wie bei den
Tieren tendiere auch der Mensch dazu, sich nach Kräften zu vermehren - und die
Evolution bestünde darin, dass nur die stärksten Menschen bzw. Menschengruppen
den unbarmherzigen Überlebenskampf bestünden. Natürlich war Darwin nicht
verborgen geblieben, dass bereits zu seiner Zeit die Geburtenraten vielerorts sanken
und dass gerade auch Wildbeutervölker sowohl Geburtenkontrolle betrieben, wie
auch keinesfalls jeden Quadratmeter besiedelten. Entsprechende Zweifel reflektierte
er sogar und schrieb in „Die Abstammung des Menschen“:
„Wenn wir in vielen Theilen der Erde enorme Strecken des fruchtbarsten Landes,
Strecken, welche im Stande sind, zahlreiche glückliche Heimstätten zu tragen, nur
von einigen herumwandernden Wilden bewohnt sehen, so möchte man wohl zu der
Folgerung veranlaßt werden, daß der Kampf um’s Dasein nicht hinreichend heftig
gewesen sei, um den Menschen aufwärts auf seine höchste Stufe zu treiben.“
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Doch am Ende entschied sich Darwin für eine friedensfeindliche Lesart der
menschlichen Evolution: Überbevölkerung und Krieg erschienen ihm nicht nur als
Übel, sondern sogar als notwendiges Mittel menschlicher Evolution! So schrieb er:
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„Wie jedes andere Thier ist auch der Mensch ohne Zweifel auf seinen gegenwärtigen
hohen Zustand durch einen Kampf um die Existenz in Folge seiner rapiden
Vervielfältigung gelangt, und wenn er noch höher fortschreiten soll, so muß er einem
heftigen Kampf ausgesetzt bleiben. Im andern Fall würde er in Indolenz versinken
und die höher begabten Menschen würden im Kampf um das Leben nicht
erfolgreicher sein als die weniger begabten. Es darf daher unser natürliches
Zunahmeverhältnis, obschon es zu vielen und offenbaren Übeln führt, nicht durch
irgend welche Mittel bedeutend verringert werden.“
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Ich nehme an, dass diese Entscheidung Darwins zu den verhängnisvollsten
Fehlurteilen der Wissenschaftsgeschichte zu zählen ist - denn von nun an, und zum
Teil bis heute, wurde der „Darwinismus“ als vermeintlich wissenschaftliche
Rechtfertigung für das Verbot von Familienplanung in der Eigengruppe und
gleichzeitig als Rechtfertigung von Krieg, Unbarmherzigkeit, Gewalt und
Fremdenfeindlichkeit gegen andere missbraucht.
Dagegen stemmte sich Wallace. Auch er war lange von Malthus angeregt, fasziniert
und geprägt gewesen, wandte sich jedoch später im Bezug auf den Menschen von
dessen demografischer Theorie ab. Dabei bezog er sich sowohl auf bereits
verfügbare Daten, die ein Absinken der Geburtenraten in fast ganz Europa belegten,
wie auch auf Beobachtungen der Biologie.
Natürliche Reproduktion /
Selektion
r – Strategie (reproduktive Masse)
K – Strategie (wettbewerbsstarke Klasse)
C – Strategie (adaptive Entscheidung)
Biologen sprechen heute von den r- und K-Strategien, um Reproduktionsstrategien
verschiedener Tierarten zu unterscheiden. Vor allem einfachere und kleinere Tiere
bringen eine große Zahl von Nachkommen hervor, ohne in das einzelne besonders
viel zu investieren. Die Strategie geht dann auf, wenn wenigstens einige der oft
vielen Hundert Nachkommen lange genug überleben, um ihrerseits erfolgreich zu
zeugen.
Komplexere Tiere, darunter alle größeren Säugetiere, tendieren stärker zur so
genannten K-Strategie: es werden nur wenige Nachkommen geboren, in diese aber
besonders aufwändig investiert, auch mit hohem Energieaufwand und teilweise
jahrelanger Begleitung. Entsprechend kann ein komplexeres und flexibleres
Sozialverhalten entstehen, das die Überlebens- und Fortpflanzungschance der
wenigen Geborenen erhöht.
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Auch die vor- und frühmenschliche Entwicklung spielte sich im K-Strategierahmen
ab, bis die Entwicklung des menschlichen Gehirns und hier vor allem des Neocortex
eine neue Qualität einläutete, die ich mit dem Demografen Massimo Livi-Bacci (2006)
als Strategie des „Choice“, der Entscheidung, aber auch der „Culture“ beschreiben
möchte. Kein ernsthafter Demograf bestreitet heute mehr, dass sich Menschen
entlang gänzlich anderer Strategien als Tiere vermehren - und dass, wie von Wallace
richtig beobachtet, tendenziell die menschliche Geburtenrate mit zunehmendem
Wohlstand, Frieden und Bildung schnell abnimmt. Heute schrumpfen Europas
Populationen, die deutsche Gesellschaft implodiert sogar – ohne dass dies durch
äußere Feinde verursacht würde. Und auch beispielsweise in den sich entwickelnden
asiatischen, afrikanischen und islamischen Gesellschaften hat der Geburtenrückgang
längst flächendeckend eingesetzt - wenn das Bevölkerungswachstum auch noch
einige Jahrzehnte anhalten wird.
Wallace hatte aber genau dies bereits vor einhundert Jahren vermutet - und also
dazu aufgerufen, eben nicht wie die Darwinisten auf Stammeskrieg und
Fremdenangst zu setzen, sondern auf Frieden, Entwicklung und eine gerechte
Wirtschafts- und Bildungspolitik, um die Bevölkerungsexplosionen einzudämmen. Er
erkannte: Die menschliche Evolution benötigt keine Gewalt! Noch 1912, kurz vor
Beginn des ersten Weltkrieges, kritisierte Wallace die Malthusianische Demografie
als „größte aller Täuschungen“ und rief die Völker Europas zum Frieden auf.
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Wir
können heute nur beklagen, dass den Darwinisten, nicht aber Wallace Gehör
geschenkt wurde…
Lesen wir vor diesem Hintergrund die Eröffnung der Juda-Tamar-Geschichte, so
wirkt sie keinesfalls mehr langweilig. Denn Juda wählt eine entschieden nicht-
darwinistische, eine „wallacianische Strategie“: er setzt nicht auf Stamm, Gewalt und
Eroberung, sondern (auch aus Schuld- und Verantwortungsgefühlen) auf Migration,
Freundschaft und friedliches Vermischen. Und er kommt genau so zu ausreichend
Nachkommen. Unter Menschen auch unterschiedlicher Herkunft ist Frieden möglich!
Genesis 38, 6
Und Juda gab seinem ersten Sohn Er eine Frau, die hieß Tamar.
Diskussion: Wirkt auch beim Menschen die sexuelle Selektion?
In diesem Satz wird die Heldin der Geschichte eingeführt – und wie. Während wir von
Judas Frau nur den Namen ihres Vaters erfahren haben, tritt Tamar von Anfang an
mit eigenem Namen und eigenem Recht in die Geschichte. Auch die Übersetzung
ihres Namens, Palme,
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signalisiert Anmut und Selbstbewusstsein.
Modernen Bibelauslegern ist die Tamargeschichte oft peinlich. Aber König David wird
eine Tochter nach ihr benennen (siehe 2. Samuel). Und das Matthäus-Evangelium
wird es sich nicht nehmen lassen, Tamar als die erste von nur vier Frauen im
Stammbaum Jesu namentlich zu nennen (Matthäus 1,3).
Dabei spielt uns die Bibel keine Gleichberechtigung vor, die es nicht gab. Auch in
diesem Vers ist Juda der aktive Part, der hier für seinen Erstgebornen auftritt.
Allerdings dürfen wir aus ihrem selbstbewussten Entree mindestens schließen, dass
auch Tamar selbst Teil der Familie werden wollte und selbst zur Verhandlung in der
Lage war - wie sie später beweist. Sie erscheint uns als starke Frau ihrer Zeit und
damit nicht als ein willenloses Kauf- oder Beutestück.
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