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Glanzleistung: ein Kapitel vorher hatten Juda und seine Brüder Josefs Rock in das
Blut eines Ziegenbocks getaucht, um dem Vater den Tod des Lieblingssohnes
vorzutäuschen.
Tamar aber ist nicht an Bezahlung, sondern an der Einforderung ihres vertraglichen
Rechtes interessiert. Deswegen legt sie ihre Hand auf Judas
rechtliche Insignien und
empfängt den ihr zustehenden Nachwuchs. Und die Geschichte unterstreicht, dass
es ihr um ihr Recht auf Nachkommen, nicht um den Sex oder die Güter ging: sie legt
ihre Witwenkleider unmittelbar danach wieder an.
Genesis 38,20-23
Juda schickte den Ziegenbock durch seinen Freund, den Adulamier, um das Pfand
von der Hand der Frau abzuholen. Er fand sie aber nicht. Er fragte die Leute der
Stadt: „Wo ist die Kultdirne? Sie saß sonst am öffentlichen Platz, am Wege.“ Sie
antworteten: „In dieser Gegend gibt es keine Kultdirne.“ Er kehrte zu Juda zurück und
sagte: „Ich habe sie nicht gesehen und die Stadtleute haben auch gesagt, da sei
keine Kultdirne.“ Juda sprach: „Sie mag es behalten. Wir könnten beschämt werden.
Siehe, ich habe den Ziegenbock geschickt, du hast sie aber nicht gefunden.“
Auf den ersten Blick handelt es sich hier nur um das genüssliche Schildern des
Versuches, die Pfänder wieder einzulösen. Aber wie die anderen Verse auch hat
dieser Tiefenschichten zu bieten. So wird uns hier die Wucht einer zutiefst
menschliche Eigenschaft vorgeführt, die wir bei anderen hoch entwickelten
Säugetieren wie Affen oder Hunden erst in Ansätzen beobachten können: sowohl
sozial konstruierte wie individuell verinnerlichte Schamgefühle.
Aus der Erforschung moralischer Verbote bei polynesischen Völkern (tapus) hat sich
auch im westlichen Sprachgebrauch der Begriff des „Tabus“ für Handlungen
eingebürgert, die zu meiden sind - auch wenn wir die Gründe dafür im Einzelfall nicht
kennen oder gar verstehen.
Tabus werden sozial konstruiert, und zwar über Generationen hinweg. Und auch ein
glühender Rationalist wie der Religionsethnologe Sir James Frazer, der von der
Überlegenheit des rationalen Denkens über Magie und Religion zutiefst überzeugt
war, konnte sich der Beobachtung nicht entziehen, dass diese „abergläubigen“
Tabus bei näherer Betrachtung komplexe Funktionen erfüllten. In „Psyche’s Task“
von 1909 listet er über 84 Seiten Beispiele für sozial wie auch individuell
verinnerlichte Tabuvorstellungen auf, die nie rational konstruiert worden waren, aber
faktisch Menschenleben, Regierung, Eigentum und also Wirtschaft sowie Ehe und
Familien wirkungsvoll schützten und förderten.
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Die Konvergenz Frazer - Hayek
Religionen
legitimieren, testen, speichern
lebensförderliche Traditionen
Regierung
Privateigentum
Ehe, Familie
Zusammenhang durch Wettbewerb & Auswahl !
historisch, nicht intrinsisch
Menschenrechte
Unabhängig von James Frazer entwickelte der Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich
August von Hayek seine Religionstheorie der (auch kulturellen) Evolution - und
entdeckte kurz vor Drucklegung seines letzten Buches „The Fatal Conceit / Die
verhängnisvolle Anmaßung“ begeistert die Konvergenz der Befunde.
Denn Hayek war davon überzeugt, dass sich in und durch Religionen immer wieder
Vorstellungen und Gebote entfalteten, die dann dem Wettbewerb des Lebens, der
Evolution ausgesetzt würden. Auf Dauer würden sich daher stets jene Inhalte
durchsetzen, die ihren Anhängern überdurchschnittlichen Reproduktionserfolg
bescherten - umgeben von einer Aura der Heiligkeit auch deswegen, weil niemand
ihre Wirkung je im Voraus hätte vorausplanen können. Keinesfalls also jedes je
geglaubte Tabu, wohl aber das in einer bestimmten Lebenswelt über Generationen
hinweg ausgesiebte und also bewährte, verdiene auch wissenschaftlichen Respekt.
So braucht es uns nicht mehr zu wundern, warum Juda, sein Freund Hira und die
ansässige Bevölkerung auf Basis ihrer Lebenswelt und Wirtschaftsweise ähnliche
Moralvorstellungen entwickelt haben. Demnach wird einem Familienvater der Besuch
einer Prostituierten zwar nicht völlig verboten, aber doch sozial missbilligt. Und Juda
hat diese Regel auch emotional verinnerlicht und schickt, da er in dieser Sache
weder den Dorfleuten noch Tamar unter die Augen treten will, seinen Freund Hira.
Und auch dieser versucht dem Vorgang einen Hauch von Legitimität zu geben,
indem er die Handlung Judas in einen religiösen Rahmen des damaligen Kanaan
stellt. Er fragt nach einer kedescha, einer Kultprostituierten, die ihre „heiligen“
Dienste im Zusammenhang mit Fruchtbarkeitskulten anbieten mussten.
Der Text lässt keinen Zweifel daran, dass Juda Tamar ursprünglich nicht in dieser
Rolle wahrgenommen hat - und tadelt damit die beliebte Praxis männlicher Ausleger,
für Übertretungen im Nachhinein quasi-religiöse (oder, denken wir an die Abwertung
der Frauen bei Darwin, auch quasi-wissenschaftliche!) Rechtfertigungen zu finden.
Zur Beobachtung solcher Entwicklungen braucht man nicht in die Vergangenheit zu
sehen. Im Iran blüht seit Jahrzehnten wieder die Praxis der Zeitehe (arab. Mut’a,
pers. Sigeh), die auf eine Dauer von mehreren Minuten bis zu 99 Jahren