ERMLANDBRIEFE
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Sommer 2005
„Ich habe deinen Namen den Men-
schen offenbart.“ Dieses Wort aus den
Abschiedsreden Jesu ist der Maßstab
unserer Verkündigung und beschreibt
das Antlitz unseres Glaubens.
Das Maß unserer Verkündigung!
Christen reden von Gott christusförmig
- oder überhaupt nicht: Kein Naturwis-
senschaftlergott, keine Weltformel, kein
Partygott, kein Eventgott, sondern Er:
Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs,
der Gott und Vater Jesu Christi! Wer
dieser Gott ist, ist in und an Jesus zu
entziffern. Jesus selbst ruft zu Beginn
seines öffentlichen Wirkens das alte
Prophetenwort des Jesaja in Erinne-
rung, um den Namen des Vaters, also
seine Wahrheit, den Menschen zu of-
fenbaren:
„Er hat mich gesandt, damit ich den
Armen eine gute Nachricht bringe; da-
mit ich den Gefangenen die Entlassung
verkünde und den Blinden das Augen-
licht; damit ich die Zerschlagenen in
Freiheit setze und ein Gnadenjahr des
Herrn ausrufe“ (LK 4, 18b - 19).
Das ist also der Gott der Christen, der
Gott Jesu: Der sich den Armen zuwen-
det, der den Gefangenen Befreiung ver-
heißt, der das Elend der Blinden, ja der
ganzen stöhnenden Natur, wie Paulus
sagte, liebend umfasst, Gott, der die Zer-
schlagenen der menschlichen Ge-
schichte in Freiheit setzt.
Diesen Gott, keinen anderen!, ver-
künden wir. Diesen Gott verkünden wir
und deshalb können wir gar nicht an-
ders, als mit ihm zu den Armen, zu den
Gefangenen, den Blinden und Zerschla-
genen zu gehen. Das Credo der Chri-
sten muss in die Antlitze der Armen
hineingesprochen werden - so wie Chri-
stus es getan hat. Müssen wir deshalb
nicht - zwingend! - auch auf Gerechtig-
keit, Beteiligungsgerechtigkeit für 5 Mil-
lionen Arbeitslose bestehen, wenn wir
von den Verheißungen Gottes spre-
chen? Müssen wir uns dann nicht ge-
gen jeden Angriff auf die Unantastbar-
keit des Lebens, das vorgeburtliche,
das sterbende, das behinderte Leben
verbitten, wenn wir Jesus Seinen Gott
und Vater glauben? - Den Armen eine
gute Nachricht! - Dürfen wir, die oft Mü-
den, die Zweifelnden und manchmal
Verzweifelten, die Suchenden und Ent-
täuschten, aber nicht auch auf Gottes
Treue vertrauen? Gottes Treue bis in
das Dunkel des Todes?
Können wir Gott anders verkünden
als Jesus es getan hat? in Dem der Neue
Bund geschlossen ist, der Bund mit
uns, von dem wir - Jesus selbst vor Au-
gen - sagen: Gott hält zu Leuten wie uns!
„Ich habe Deinen Namen den Men-
schen offenbart.“ Das beschreibt das
Antlitz unseres Glaubens. Was für ein
Antlitz! Es ist das Antlitz, das den Men-
schen zugewandt ist, das Antlitz, das
hinsieht und nicht wegschaut; es ist das
Antlitz erniedrigster Menschlichkeit,
dornengekrönt, verhöhnt und be-
spuckt, das Antlitz, das uns im Gericht
gegenüber ist, damit die Sieger der Ge-
schichte nicht zynisch triumphieren, es
ist das Antlitz der endgültigen österli-
chen Verheißung, das Antlitz des Aufer-
standenen, von Dem Paulus sagt: „Er ist
das Ebenbild des unsichtbaren Gottes,
der erstgeborene der ganzen Schöp-
fung“ (Kol 1,15). Wir glauben nicht in
Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart
Glauben in der Spur Jesu
Predigt des Bischofs em. von Hildesheim Dr. Josef Homeyer
zur Ermland-Wallfahrt am 8. Mai 2005 in Werl
Begriffe hinein, sondern in das gekreu-
zigte und auferstandene Antlitz Christi.
Nicht in Begriffe, sondern in sein Ant-
litz: Wie dies auch unsere orthodoxen
Geschwister in ihren reichen, maßlos-
goldenen Ikonen tun. Es geht um den
geheimnisvollen, den mystischen Kern
des Christseins. Ein mystischer Kern ge-
wiss, der auch der Kern dessen ist, was
gern „Seele Europas“ genannt wird!
Beides, das Maß unserer Verkündi-
gung und das Antlitz unseres Glaubens,
der verkündigende und der verkündig-
te Christus also, kennzeichnet - mehr
als alles andere auch so Bedeutsame -
den Lebensweg des großen und unver-
gesslichen Bischofs Maximilian Kaller.
Seine unbedingte Zuwendung zu den
Menschen, egal ob im kulturellen Ge-
brodel Berlins oder im katholischen
Ermland, egal ob in der Heimat Schle-
siens und Ostpreußens oder in der Hei-
matlosigkeit der Vertriebenen und als
Päpstlicher Sonderbeauftragter für alle
Heimatvertriebenen: immer ging er in
der Spur Jesu, wie ein Heiliger! Liebe-
voll: Jesus und den Menschen zuge-
wandt und im größten Unglück an der
größeren Verheißung festhaltend: „Ich
habe Deinen Namen den Menschen of-
fenbart.“ - Dieses Wort war tief in die
Seele Bischof Kallers hineingeschrie-
ben und es war sein Leben und Wirken.
Aber auch seine Antwort, seine pasto-
rale Unermüdlichkeit und seine tiefe
paulinische Sicherheit: „Was kann uns
scheiden von der Liebe Christi? Be-
drängnis oder Not oder Verfolgung,
Hunger oder Kälte, Gefahr oder
Schwert?“ (Röm 8, 35). Das hat ihm die
Kraft gegeben, auch das Schrecklichste
anzunehmen, in seiner wohl bittersten
Stunde der Ausweisung aus seinem ge-
liebten Bistum - und das unter unwür-
digsten Bedingungen! Und hat dieses
Hineinglauben in das Antlitz Christi
dann nicht auch zahllose Ermländer in
größter Not aufgerichtet und ihnen
Hoffnung gegeben?
Und - hat dieses Hineinglauben in
das Antlitz Christi nicht auch so viele
junge Menschen in Rom angesteckt?
Haben sie nicht an Papst Johannes
Paul und wenige Wochen später an
Papst Benedikt gespürt, dass der
christliche Glaube, der kirchlich-katho-
lische Glaube keine Verzierung und
kein Event, sondern eine Lebensform
ist?! So ist es: Und deshalb: Glaube als
Lebensform, Hineinglauben in das Ant-
litz Christi! Das ist das Lebenszeugnis
und das Vermächtnis von Bischof Ma-
ximilian Kaller! Beten wir zu Jesus
Christus, dass der eingeleitete Selig-
sprechungsprozess von Bischof Kaller
bald zum erfolgreichen Ende kommt
und sein Christus-Zeugnis der ganzen
Kirche leuchten möge.
II.
„Ich habe Deinen Namen den Men-
schen offenbart.“ Dieses Wort ist in un-
sere Geschichte hineingesprochen: in
unsere ganz persönliche Lebensge-
schichte und in die Weltgeschichte.
Auf die Offenbarung Gottes in Jesus
Christus haben wir Antwort zu geben;
in Lebenszeit und Weltzeit sind wir
von Gottes Treue Beglaubigte, aber
auch im Antlitz Jesu Beanspruchte.
mische Prosperität, sondern dies: Maß-
stäbe der Humanität!
Deshalb lautet unsere Antwort: Ver-
gesst nicht das Leiden und versöhnt
euch mit den Feinden. Dies ist der
Maßstab Europas, dies ist die Antwort
in der Spur Jesu.
Vergesst nicht die Leiden! Wir ver-
gessen nicht die Leiden, die Deutsche
nach Polen und Russland gebracht ha-
ben: Denn Polen und Russen sind in
die ausgebreiteten Arme Jesu am
Kreuz hineingestorben. Wir vergessen
nicht die Schreie in Auschwitz und Tre-
blinka, denn noch im Tod wurde dort
unser Gott, der Gott Abrahams, Isaaks
und Jakobs und der Vater Jesu Christi,
angerufen. Wir vergessen nicht die un-
säglichen Leiden der Vertriebenen
und der Zerbombten, nicht die Erfrie-
renden auf dem Haff, nicht der Bren-
nenden in Dresden. Jenseits der Dis-
kussion um die Ursachen des Leids, ist
für uns die Erinnerung unteilbar. Chri-
sten stehen unter dem Kreuz, sie
schauen auf das Leid Christi, nicht auf
nationale Symbole. Christen schauen
hin, es ist ihnen verboten, vom Leid
wegzusehen. Es gibt kein Leid, das uns
nichts anginge - das gilt für das eigene
Leid wie für das fremde!
Vergesst nicht die Leiden - und ver-
söhnt euch mit den Feinden! Denn dies
ist das Maß unserer Verkündigung und
das Antlitz unseres Glaubens: Versöh-
nung. Hingehen zum anderen, seine Er-
fahrungen hören, seine Not nicht weg-
wischen, seine Hoffnungen stützen,
mehrsprachig werden, nicht nur selber
Heimat haben, sondern andere behei-
maten. Wir haben Gottes ausgestreckte
Hand erfahren, also strecken wir die
Hand aus - wie es Bischof Kaller in
schwerster Stunde unbeirrbar getan hat
- und unsere Vertriebenen auch, vorab
die Ermländer!
Daran könnte ein Europa der Zu-
kunft, ein Europa aus christlichen Wur-
zeln für andere erkennbar sein, die aus
Asien oder aus Afrika zu uns schauen:
Sie haben in Europa nichts vergessen,
sie erinnern sich an das Leid. Sie sind
fähig zur Versöhnung; und mit den Chri-
sten haben sie gelernt, mit dem Siegen
aufzuhören.
Lassen Sie mich hier etwas einfügen,
was mich - der ich mich wie so viele seit
40 Jahren um die Versöhnung mit Polen
bemühe - bedrückt: Trotz aller großen
Anstrengungen vieler gibt es offensicht-
lich noch immer tief sitzende Verunsi-
cherungen zwischen Polen und Deut-
schen. Unbehagen, Vorbehalte, die bei
konkreten unglücklichen Äußerungen
und Handlungen plötzlich aufbrechen.
Sie haben offensichtlich mit unserer -
seit 200 Jahren - leid-vollen gemeinsa-
men Geschichte zu tun, die vielleicht in
Polen lebendiger ist als bei uns.
Wenigstens einige Bemerkungen
möchte ich dazu machen: Polen hat sich
von Anfang an - seit mehr als 1000 Jah-
ren - als Bollwerk des christlichen
Abendlandes gegenüber dem Osten ver-
standen. Und nach der Besiegung der
Osmanen (1683 vor Wien) wurde Polen
im westlichen Europa als „Retter des
Abendlandes“ gefeiert. Dann kamen die
katastrophalen drei Teilungen im 18. Jh.
(durch Preußen, Österreich und Russ-
land), die Zerstörung des Staates Polen
(für mehr als 170 Jahre) und die damit
verbundenen Demütigungen (im 18., 19.
und 20. Jh.), die zu einer tiefen Verunsi-
cherung und zu einem Misstrauen ge-
genüber dem westlichen Europa, insbe-
sondere Deutschland, geführt haben.
Hinzu kam das verunglimpfende Polen-
bild in der deutschen Literatur, z. B.
Ernst Moritz Arndt konnte 1848 in einem
Artikel schreiben: „Ich behaupte eben
mit der richtenden Weltgeschichte vor-
weg: Die Polen und überhaupt der gan-
ze slawische Stamm sind geringhaltiger
als die Deutschen...“. Dieses beleidigen-
de Polenbild, das dann noch die natio-
nalpolitisch motivierten Teilungen
rechtfertigen sollte, mag ein wenig ver-
ständlich machen, dass der Schock der
drei Teilungen mit der Vernichtung des
Staates als nationale Katastrophe von
den Polen empfunden wurde.
Verständlich, dass die polnische In-
telligenz damals nach irgendeiner tie-
fer liegenden Erklärung dafür zu su-
chen begann.
Der große polnische Dichter Adam
Mickiewicz sah in der Mitte des 19. Jh.
in seiner Dichtung Polen in seinem Lei-
den Christus ähnlich. Es sei die messia-
nische Bestimmung des polnischen
Volkes, das Leid anzunehmen und den
anderen Völkern Europas das wahre
religiöse Leben zu bezeugen. Dieser
Mythos der messianischen Bestim-
mung Polens war der literarische Ver-
such, die geschichtliche Katastrophe
zu verarbeiten und dem polnischen
Volk Identität und Selbstbewusstsein
wiederzugeben. Dieser messianische
Mythos ist heftig kritisiert, aber von vie-
len im polnischen Volk faktisch über-
nommen worden. Und er taucht in
manchen Kreisen von Zeit zu Zeit im-
mer wieder auf, und von dorther speist
sich offenbar auch das Denken man-
cher Kreise heute, z. B. in der Überzeu-
gung, Polen sei, was wahre Christlich-
keit und Moral angehe, zum Zeugnis
bestimmt für die Völker Europas - und
Das machte Bischof Maximilian ja so
ruhelos und unbeirrbar.
Gibt es also eine christusförmige
Antwort auf den 8. Mai, die 60. Wieder-
kehr des Kriegsendes? Es gibt sie! Und
diese Antwort reicht tief zurück in den
langen Weg Europas mit dem Evangeli-
um und weist voraus in die Zukunft
und Einheit unseres Kontinents. Es ist
die Antwort von uns Christen - unver-
zichtbar und unhintergehbar, denn wir
sind keiner Politik unterworfen, son-
dern vom Evangelium gebunden, dann
aber auch mitsprache- und einspruchs-
fähig und verpflichtet. Unsere Antwort
60 Jahre nach Krieg und Vertreibung
beugt sich nicht dem Kalkül der Inter-
essen, denn Europa braucht nicht nur
politische Strukturen, nicht nur ökono-
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Der Präsident der EU-Bischofskonferen-
zen, Bischof von Hildesheim em., Dr. Jo-
sef Homeyer, feierte mit den Ermlän-
dern in Werl.
Foto: Martin Grote