ERMLANDBRIEFE
9
Ostern 2010
spricht, ob sie ihre Großeltern kennen
würde. Als die Frau dies bejaht in der
Mundart ihrer Großmutter, wird sie
von Emotionen überwältigt. Frau Reski
bleibt mehrere Tage in Reußen und
dringt durch die Schilderungen der Er-
lebnisse von verschiedenen deut-
schen Frauen und den Beobachtungen
im Dorf mehr und mehr in die Vergan-
genheit ihrer Familie und in die Gegen-
wart des Dorfes ein. „Immer, wenn ich
die Namen meiner Großeltern aus-
spreche, fühle ich mich, als begegnete
ich einem früheren Leben. Als würde
ich die Frauen schon lange kennen, als
würde ich dazu gehören“ (S. 86). Ne-
ben den Schilderungen aus dem Dorf
lässt die Autorin den Hörer/Leser an
ihrer Begeisterung über die ostpreußi-
sche Landschaft und an ihrer Faszina-
tion über das Licht und den Himmel
teilhaben. Wir Zuhörer zeigten uns be-
eindruckt von der Lesung.
Der Samstagabend wurde traditions-
gemäß in geselliger Runde zugebracht,
bei Gesprächen, Liedern, Getränken
und Knabberzeug.
Am Sonntagmorgen gewährte Frau
Reski Einblick in die Schreibwerkstatt.
Zunächst bekundeten einige Teilneh-
mer ihr Interesse an dem Buch, das
Frau Reski über die Mafia vertasst hat.
Nach einigen Aussagen dazu stand das
Zustandekommen des Buches „Ein
Land so weit“ im Mittelpunkt. Herr Wi-
schnat hatte mit Anderen Fragen ge-
sammelt, zu denen z. B. folgende gehör-
ten: „Wie komme ich ans Schreiben?
Hat man Vorbilder für das Schreiben?
Wie ist der Titel des vorliegenden Bu-
ches entstanden? Frau Reski erklärte,
dass das Schreiben ihr nicht in die Wie-
ge gelegt worden sei. Sie habe Interesse
an Beobachtung und Psychologie. Als
Vorbild habe sie den autographisch
schreibenden Schriftsteller Joseph
Roth. Von den von ihr vorgeschlagenen
Titeln hat der Verleger „Ein Land so
Literatur soll Lachen und Weinen aus-
lösen. Sich nicht daran stören, dass
Personen mit gemeinsamen Schicksal
verschieden darüber berichten. Bevor
Frau Reski mit Anerkennung und Bei-
fall verabschiedet wurde, hat sie ihre
Bücher signiert, die Dietrich Kretsch-
mann mitgebracht hatte und von uns
erworben wurden.
Die heilige Messe feierte Arnold
Margenfeld mit uns in der Pfarrkirche
St. Pantaleon. Anhand der Lesung von
der Witwe von Sarepta (1. Buch der
Könige 17, 10-16) und dem Evangelium
von dem Opfer der armen Witwe (Mk
12, 38-44 ) entfaltete er den Gedanken
von Gerhard Matern „Das Maß unse-
res Erbarmens mit dem Nächsten wird
das Maß des Erbarmens mit uns sein.“
Nach dem Mittagessen erfolgte der
Rückblick und der planende Ausblick
auf das Jahr 2010; Hermann Wischnat
las aus seinem Werk „Stege“ den Text
Leutesdorfer Kreis in der Ermlandfamilie
Ein Land so weit
Von Vera-Maria Stoll
Die diesjährige Tagung in Unkel
vom 6. bis 8. November 2009 hatte das
Thema „Erzähl mir deine Geschichte“.
Froh gelaunt trafen die Ermländer im
Pax-Heim in Unkel ein, wo sie herzlich
von Margret und Karl-Heinz Dormann
empfangen wurden.
Am Abend, nachdem Margret Dor-
mann alle Teilnehmer begrüßte, stellte
Dietrich Kretschmann in einer Medita-
tion die Kreuzwegstationen in der
Don-Bosco-Kapelle in Helle von der
lodie, die Sprechweise der Großmutter
und Verwandten mit dem rollenden
„R“ und Wörter mit „Ü“ und „Ö“ wie-
dergeben. (Für uns Zuhörer auch ver-
traut.)
Die Autorin lernte verschiedene Be-
zeichnungen für die Herkunftsregion.
Die Großmutter sprach von „Heimat“,
ihre schlesische Mutter von „Bei uns
zu Hause“. Frau Reski erlebte Heimat
als „verloren gegangen“. Ausführlich
gibt sie die Feste ihrer Familie wieder,
die nach festen Regeln abliefen. Am En-
Königsberger Künstlerin Ursula Ko-
schinsky vor. Der Abend ging mit ei-
nem Begegnungsabend zu Ende.
Der Samstagmorgen stand unter
dem Thema „Gestalten und Entdek-
ken“. Es gab vier Gruppen. Eine Grup-
pe unternahm eine Wanderung mit
Siegfried Hoppe in Unkel. Eine andere
Gruppe sang mit Erwin Kilanowski be-
kannte und unbekannte Lieder. Ein
neues Lied z. B. hieß „Stand ein Birken-
baum“. Christel Hoppe unterstützte
wie immer mit Rat und Tat ihre Aqua-
rellgruppe. Diese erhielt Material und
malte ostpreußische und andere Moti-
ve. Arnold Margenfeld erarbeitete mit
seiner Gruppe die Texte der Sonntag-
messe. Lesung und Evangelium wur-
den von verschiedenen Teilnehmern
gelesen. Anschließend wurde überlegt,
welche Bedeutung die Textaussagen
heute haben.
Nach dem Stehkaffee am Nachmittag
brachte Arnold Margenfeld alle mit chi-
nesischen Bewegungsübungen (Qi-
gong) in Schwung. Renate Perk warb
für das Päpstliche Missionswerk der
ermländischen Frauen. Erwin Kila-
nowski stimmte mit uns Lieder an.
Herr Wischnat trug seine Gedichte
„Stege“ und „Großvaters Heimat“ vor.
Gespannt warteten wir auf die Le-
sung von Frau Reski. Die Journalistin
und freie Autorin, in Kamen (Ruhrge-
biet) 1958 geboren, hat ermländische
und schlesische Wurzeln. Sie las aus
ihrem Buch „Ein Land so weit“, in dem
sie sich mit der ermländischen Großfa-
milie befasst, aus der ihr früh verstor-
bener Vater stammt. Das Buch ist der
Großmutter gewidmet, welche die
Großfamilie unerbittlich zusammen
hält. Sie erzählt von ihren Erlebnissen
und Beobachtungen aus der Kinder-
und Erwachsenenperspektive. Sie
schreibt einfühlsam und humorvoll.
Beim Vorlesen kann sie die Sprachme-
de der Feste mit Gesang, Spielen u.s.w.
wurde die Familie traurig. Man sang
das Ostpreußenlied, redete über die
Flucht und Ostpreußen und weinte.
Frau Reski las vor, was „Flucht“ für
sie als kleines Mädchen bedeutete.
„Ich war überzeugt, dass man als
Flüchtling bereits auf die Welt kommt.
Man wächst heran und dann ist es so-
weit, ob man will oder nicht.“ (Buch S.
149) Sie konnte sich nichts Fassbares
darunter vorstellen. Auch Verluster-
lebnisse stellte sie dar, man hatte in
der Familie fast keine Erinnerungsstük-
ke, z.B. nur die Bernsteinkette der
Großmutter. Das Mädchen war schok-
kiert, als es bei seiner Freundin auf
dem Dachboden Möbel aus drei Gene-
rationen sah. Es hörte von der Familie
immer wieder: „Wir haben doch alles
verloren.“
Frau Reski zweifelte an den Erzäh-
lungen ihrer Familie, glaubte nicht an
den Wahrheitsgehalt. Sie war von lau-
ter Misstrauen erfüllt gegenüber der
Heimat. Ihre Auffassung und Haltung
wurde zunächst von der Schule und
später von der Politik beeinflusst. Die
ostpreußischen Ortsnamen sprach sie
unbeirrt polnisch aus. Sie war skep-
tisch, wenn der Großvater von der
„Ostpreußischen Schweiz“ sprach, die
es in der Heimat gab, fand die Bewun-
derung des Bernsteins als „Gold der
Ostsee“ übertrieben.
Nach einem Interview mit Lech Wa-
lesa in Danzig, als er noch Arbeiterfüh-
rer war, entschließt sie sich spontan,
mit der polnischen Begleiterin nach
Reußen, in das Dorf ihres Vaters und
ihrer Großeltern zu fahren. Die Begeg-
nung mit dem Dorf und den dort ver-
bliebenen Deutschen bringt eine Wen-
dung in ihrer Meinung zur Heimat.
Unerwartet und für sie sehr bewe-
gend ist die erste Begegnung mit einer
Deutschen in Reußen, die sie an-
weit“ ausgesucht. Die Intention ihres
Buches ist, ihren Erkenntnisprozess
über die Flucht und den Verlust der
Heimat literarisch zu verarbeiten. Vom
hartherzigen Kind sei sie zur verständ-
nisvollen Erwachsenen geworden.
Zum Schreiben der eigenen Ge-
schichte gab die Autorin mehrere Hin-
weise: Man schreibt zunächst nur für
sich selbst, man ist der eigenen Wahr-
haftigkeit verpflichtet. Man muss ein
gewisses Alter erreicht haben, um von
vergangenen schrecklichen Erfahrun-
gen erzählen zu können. Nicht chrono-
logisch schreiben, eigene Gefühle dar-
stellen, Sinneseindrücke wiedergeben.
„Defizit“. Dietrich Kretschmann wies
auf die Ermlandbriefe Ausgabe Pfing-
sten 2001 hin, in dem Bernd Napo-
lowski bereits auf das Buch „Ein Land
so weit“ aufmerksam gemacht hatte. Er
bat um Texte für das Ermlandbuch
2011, das er redigieren wird. Als Thema
für das Treffen vom 5. bis 7. November
2010 in Unkel wurde gewählt: „Ihr sollt
ein Segen sein.“ (Bibel-Teilen)
Allen Organisatoren und Mitwirken-
den dieser gelungenen Tagung wurde
herzlich gedankt. Das Lied. „Möge uns
die Straße zusammenführen“ sprach
unseren Wunsch nach einem Wieder-
sehen aus.
Die Künstler der Kreativgruppe „Malen“ unterstützt von Christel Hoppe hatten ih-
re Aufgabe, Bilder mit ostreußischen Motiven zu malen, prächtig gelöst. Hier prä-
sentieren sie nicht ohne Stolz ihre Werke.
Alle Fotos auf dieser Seite zugeschickt von Frau Vera-Maria Stoll
Ein Treffen von Ermländern ohne Gesang hat es wohl noch nie gegeben. Der Ge-
sang erfreut das Gemüt und stimmt in den Tag hinein, begleitet hindurch und lässt
ihn zur Nacht ausklingen.
Petra Reski - Journalistin und freie Au-
torin, 1958 geboren, hat ermländische
und schlesische Wurzeln - liest aus ih-
rem Buch „Ein Land so weit“.