11
Erweiterung ohne Vertiefung
Das europäische Verfassungsprojekt scheiterte an ungünstigen
innenpolitischen Umständen. Nun weitet sich der halbherzi-
ge Ratifizierungsprozess zu einer Orientierungskrise aus, die
auch durch den „Plan D“ der Brüsseler Kommission nicht auf-
gefangen werden kann. Kernpunkte des Verfassungsentwurfs
sollten 2009 erneut zur Diskussion gestellt und in einem pan-
europäischen Referendum zur Abstimmung gebracht werden.
EU-Verfassung, Ratifikationsprozess, Konvent
The project of the European Constitution failed because of
unfavourable circumstances related to domestic affairs. Now
the ratification process extends to a crisis of orientation, which
cannot be solved by the „Plan D“ of the Brussels-based com-
mission. The essentials of a draft constitution should be pre-
sented again for discussion in 2009 and then decided in a pan-
European referendum.
EU-Constitution, Ratification Process, Convention
WeltTrends 50 (Frühjahr 2006)
• 14. Jahrgang • S. 11–26 • © WeltTrends
Erweiterung ohne Vertiefung
Vom Konvent zur Ratifizierungskrise
Heinz Kleger
Prof. Dr. Heinz Kleger, geb. 1952, Politikwissen-
schaftler an der Universität Potsdam und der Euro-
pa-Universität Frankfurt (Oder); Forschungsthemen:
Politische Theorie, Bürgerschaft und Demokratie in
Europa.
Publikationen: Europäische Verfassung. Zum Stand
der europäischen Demokratie im Zuge der Oster-
weiterung, Münster 2004; Religion des Bürgers. Zivil-
religion in Amerika und Europa, Münster 2004.
E-Mail: kleger@uni-potsdam.de
12
Heinz Kleger
V
or der Abstimmung in Frankreich am 29. Mai hatten bereits zehn EU-
Staaten die Verfassung ratifiziert: Litauen, Ungarn, Slowenien, Itali-
en, Griechenland, die Slowakei, Spanien, Belgien, Österreich und
Deutschland. Spanien sogar mit einem Referendum. Und Spanien sollte dann
auch das „ansteckende“ Beispiel für den ganzen Ratifizierungsprozess wer-
den.
Das spanische Referendum als Auftakt
Am 3. Februar 2005 wurde das Referendum durch eine historisch einmali-
ge, regierungsoffizielle Kampagne gestartet, welche die ganze Bevölkerung
erreichen sollte. Ihr Höhepunkt war eine Veranstaltung am 11. Februar im
Kongresszentrum von Barcelona, bei welcher der spanische Ministerpräsi-
dent Zapatero und der französische Staatspräsident Chirac gemeinsam für
die Verfassung warben. Zuvor hatten schon ähnliche Veranstaltungen mit
dem deutschen Bundeskanzler und seinem Außenminister stattgefunden.
Frankreich, Deutschland und Spanien bildeten eine Allianz. Das Kalkül ging
dabei weit über Spanien hinaus: Spanien sollte als europäisches Vorbild
dienen. Dies ist jedoch in zweierlei Hinsicht zu relativieren – nach innen
wie nach außen.
In der populären, aber nicht populistischen Kampagne wurden zwar alle
Register der Öffentlichkeitsarbeit gezogen, dennoch lässt sich innerhalb eines
Monats keine grundlegende Informations- und Aufklärungskampagne durch-
führen und festigen. Das fakultative Referendum, welches für das Parlament
nicht bindend war, fand schließlich am 20. Februar 2005 statt. Die Frage,
die den spanischen Wählern gestellt wurde, lautete: „Stimmen Sie dem
Vertrag zu, durch den eine Europäische Verfassung geschaffen wird?“ Von
den rund 14 Millionen Wählern stimmten 76,73% für die Verfassung, 17,24%
dagegen und 6% enthielten sich der Stimme.
1
Die höchsten Anteile an
Neinstimmen stammten aus dem Baskenland und Katalonien
2
, die größten
Anteile an Ja-Stimmen kamen hingegen von den Kanaren, der Extremadura,
aus Melilla und Andalusien
3
. Diese Unterschiede verweisen auf eine starke
regionale Differenzierung, die ebenso wie die Meinungsunterschiede zwi-
schen Regierung und Opposition durchaus zu einem anderen Ausgang des
Referendums hätten führen können. Es war indessen das Referendum des
beliebten Präsidenten Zapatero und seiner Sozialistischen Partei (PSOE),
deren Anhänger mit 93% (!) hinter dem europäischen Verfassungsentwurf
1
Die Wahlbeteiligung lag bei 42,3%. Das ist die niedrigste Wahlbeteiligung in
der Geschichte des Landes nach Franco.
2
Baskenland (33,6%), Katalonien (28%).
3
Kanaren (86,03%), Extremadura (85,19%), Melilla (84,56%), Andalusien (83,24%).
13
Erweiterung ohne Vertiefung
standen. Ein weiteres Faktum neben der niedrigen Wahlbeteiligung und der
Haltung der regierenden Sozialisten ist besonders aufschlussreich: Ein Drit-
tel der Befragten gab an, dem Referendum aufgrund einer generell positi-
ven Einstellung zur EU zugestimmt zu haben. Dies lässt den Schluss zu,
dass die „hohe“ Zustimmung der Minderheit der Wahlberechtigten ebenso
als Anerkennung und Dankbarkeit für die Aufbauhilfe der Vergangenheit
wie als lediglich wahlweise Zustimmung zur Verfassung an sich zu werten
ist. Die EU ist sicherlich mit der breiten direktdemokratischen Verfassungs-
diskussion vielen Spaniern erstmals als geistiges und politisches Gebilde
nähergebracht worden, was als nachhaltiger Fortschritt gebucht werden
sollte. Genauso muss man andererseits die erwünschte gesamteuropäische
Vorbildwirkung der Spanier für andere Staaten und ihre Bevölkerungen –
insbesondere für das benachbarte Frankreich – im Nachhinein als Illusion
bewerten. Und schließlich darf man nicht vergessen, dass die konservative
Vorgängerregierung Aznar neben Polen zu den schärfsten Kritikern sowohl
der grundsätzlichen Legitimationsmöglichkeiten des Konvents als auch der
Kernpunkte des abschließenden Konventsentwurfs zählte.
4
Insofern gewährt der Einblick in die Ratifikationsdebatte der verschiede-
nen EU-Staaten Aufschluss darüber, welchen Stand die europäische Inte-
gration tatsächlich erreicht hat, und mehr noch über die oft standortbe-
dingten, täuschenden Illusionen und falschen Erwartungen, die darüber im
Umlauf sind. Dabei wird deutlich, auf welch wackligen Beinen die realen
Legitimationsgrundlagen der EU stehen. Ebenso werden der tatsächliche
Einfluss und damit die neue Beziehung der EU zur Politik und Bürgerschaft
ihrer Nationen sichtbar. Das positive Referendum in Spanien ist keine Über-
raschung. Es ist – ebenso wie der EU-Betritt 1986, dem alle Parteien zu-
stimmten – nicht aufgrund einer polarisierenden und bis zum Schluss offe-
nen Debatte zustande gekommen. Für die meisten Spanier wurde die Euro-
päische Union geradewegs zu einem Synonym für Wohlstand und Demo-
kratie. Die europäische Integration hat Spanien aus der jahrhundertealten
historischen Isolierung von Europa, die unter Rivera, durch die Auswirkun-
gen des Bürgerkrieges und die Diktatur Francos noch einmal zementiert
worden ist, befreit. Die EU wie die Nato spielten als äußere Faktoren bei
diesem weltweit zum Vorbild gewordenen Übergang der Diktatur zur De-
mokratie eine nicht unerhebliche Rolle. Zudem ist Spanien seit seinem Beitritt
zur EG deren größter Nettoempfänger: Vier von zehn Autobahnkilometern
wurden von Brüssel finanziert, 90% der Investitionen und Touristen kom-
men aus der EU und ein Viertel der Einkünfte in der Landwirtschaft beste-
hen aus Brüsseler Direkthilfen; um nur einige Beispiele zu nennen, die all-
tägliche Wirkungen haben und überall sichtbar sind. Nicht zufällig können
4
Vgl. Kleger, Heinz (Hrsg.) 2004: Der Konvent als Labor, Münster, LIT.
14
Heinz Kleger
deshalb ein spanischer Sozialist und ein französischer Gaullist Europa als
eine „idée neuve“ begrüßen, welche „à nos vies quotidiennes davantage de
sécurité, de justice et d’ambition“ verschafft.
5
Das spanische Referendum
sollte positiv auf das französische ausstrahlen. Das französische Referen-
dum mit 70% Wahlbeteiligung wurde indes zum europäischen Großkampf,
welcher die reale Zerrissenheit der Bevölkerungsmehrheit in europapoli-
tischen Fragen widerspiegelte.
L’Europe sociale versus L’Europe libérale
Die französische Debatte und das negative Abstimmungsergebnis für den
Verfassungsprozess sind der Überlagerung zweier unterschiedlichen Konflikt-
linien geschuldet. Auf der einen Seite haben wir es mit dem klassischen
Gegensatz zwischen Europaskeptikern und Europabefürwortern zu tun, der
sich in allen europäischen Staaten findet. Zwar besteht eine französische
Besonderheit darin, dass sich das Lager der sogenannten „Souveränisten“
jenseits des Rheins nicht auf die populistische Rechte beschränkt, sondern
auch Teile der Linken umfasst, insbesondere die Kommunistische Partei (PCF)
und die trotzkistisch orientierte extreme Linke. Aber das ist nichts Neues. So
verhielt sich der PCF auch schon in der Vergangenheit äußerst kritisch ge-
genüber dem Integrationsprozess. Auf der anderen Seite – und das ist das
eigentliche Novum – kam es bei diesem Referendum zur Spaltung des tra-
ditionell europafreundlichen Lagers. Erst die Ablehnung der europäischen
Verfassung durch einen beträchtlichen Teil der Mitglieder und Wähler der
sozialistischen Partei (PS), die historisch gesehen eine der Stützen des euro-
päischen Integrationsprozesses gewesen ist, ermöglichte dieses Ergebnis.
6
Auf diese Weise gesellte sich zum klassischen Gegensatz zwischen „Inte-
grationisten“ und „Souveränisten“ der neue Gegensatz zwischen denjeni-
gen Europabefürwortern, die den Verfassungsentwurf unterstützen, und
denjenigen, die ihn im Namen Europas ablehnen.
Die Gründe hierfür sind vielfältig. Sie haben sicherlich etwas mit der
innenpolitischen Situation zu tun, in der sich der PS derzeit befindet. Diese
ist gekennzeichnet durch den bereits im letzten Jahr heftig entbrannten
Wettlauf der potentiellen Kandidaten innerhalb des PS für die nächste
Präsidentschaftswahl und die damit verbundene Tendenz, sich vom derzei-
tigen Präsidenten Chirac möglichst eindeutig abzugrenzen. Der parteiin-
tern eher unbeliebte Dauerkandidat für die Präsidentschaftskandidatur,
5
Vgl. Semprún, Jorge/de Villepin, Dominique (2005): L’homme européen, Paris,
Plon.
6
Vgl. Kleger, Heinz (2005): EU-Verfassung im Härtetest, in: WeltTrends Nr. 48,
S. 91-105.
15
Erweiterung ohne Vertiefung
Laurent Fabius, wusste in diesem Zusammenhang seine Chance gegenüber
seinen Konkurrenten François Hollande und Dominique Strauss-Kahn ge-
schickt zu nutzen. Es wäre allerdings zu einfach, alle Verantwortung für das
gescheiterte Referendum dem politischen Opportunismus Fabius’ zuzu-
schreiben. Zumindest zwei weitere, tieferliegende Gründe müssen ange-
sprochen werden. Der eine betrifft die bis heute ungeklärten ideologischen
Altlasten des PS, der andere geht über Parteigrenzen hinaus und bezieht
sich auf die Europakonzeption der die Integrationsbewegung tragenden Kräfte
in ihrer Gesamtheit.
Der erste Punkt hat mit dem Politikverständnis der Sozialistischen Partei
zu tun, welches aus der französischen Revolution und der marxistisch in-
spirierten Arbeiterbewegung stammt. Der ehemalige sozialistische EU-
Außenhandelskommissar und jetzige Generaldirektor der Welthandels-
organisation, Pascal Lamy, hat das politische Bewusstsein der französischen
Sozialisten nach dem gescheiterten Referendum wie folgt beschrieben: „Wir
haben wahrscheinlich eine Art messianische Ader: Auf der Linken wird die
Macht von links ergriffen. Sind die Sozialisten dann an der Macht, so setzt
sich das Gefühl durch, dass wir niemals genug tun. Denn, gleich was wir
tun, wir machen keine Revolution.“
7
Das „Europe sociale“ der linken Ver-
fassungsgegner trägt durchaus Züge einer revolutionären Ersatzutopie. Es
steht nicht nur im Gegensatz zum Europakonzept der mit dem Neologismus
des „Neoliberalismus“ belegten politischen Gegner, sondern ebenso zu dem
der eigenen „sozialdemokratischen“ Parteifreunde. „Sozialdemokratie“ wird
dabei als bloße Anpassung an die Erfordernisse des Marktes (miss-)verstanden.
Das ungeklärte Verhältnis des PS zum reformistischen Sozialismusverständnis,
wie es in Deutschland, Großbritannien und in den skandinavischen Ländern
vorherrschend ist, wird dabei zunehmend zur Belastung bei der Ausbildung
einer starken Linken auf europäischer Ebene und damit auch einer funktionie-
renden europäischen Demokratie. Es mag als eine Ironie der Geschichte ange-
sehen werden, dass mit Fabius gerade der Politiker, der sich in der Vergangen-
heit lautstark für die ideologische Reform des PS ausgesprochen hatte, nun den
Nostalgikern der sozialen Revolution in die Hände spielt.
Mit dem Schlagwort vom „Europe sociale“ kommt noch eine weitere
Dimension ins Spiel, die weit über den Kreis des PS und der französischen
Linken hinausgeht. Es ist damit eine weitere, mentalitätsgeschichtlich ebenso
tief im kollektiven Bewusstsein verankerte, „messianische“ Vorstellung ver-
knüpft: die Idee, dass Frankreich eine besondere Rolle in der Geschichte zu
spielen habe. Hieß es im Ancien régime noch, Frankreich sei die „fille aînée
de l’Eglise“, die älteste Tochter der Kirche, so schrieben später die Republi-
kaner ihrer Nation die säkulare Aufgabe zu, Vorreiterin zu sein bei der Ver-
7
Vgl. Le Monde, 27. August 2005.
16
Heinz Kleger
wirklichung jener Normen und Werte, die während der Französischen Re-
volution formuliert worden sind. Damals wie heute kommt die Gefahr von
der anderen Seite des Ärmelkanals und des Atlantiks. Das französische
Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell steht in dieser Logik dem angelsäch-
sischen unversöhnlich gegenüber. Übersehen wird dabei, dass der europä-
ische Verfassungsentwurf für die Schaffung einer gemeinsamen europäischen
Sozialpolitik so viele Möglichkeiten wie noch nie eröffnete.
8
Außerdem
erfolgt die Durchsetzung einer solchen sozialen Orientierung im Verfassungs-
entwurf gerade aufgrund des Drucks der französischen Politik sowohl von
Seiten der Regierung als auch von einzelnen Abgeordneten im EU-Parla-
ment sowie im Konvent – und dies zum Teil gegen den größten Widerstand
der Briten. Das Problem für die französischen Politiker besteht darin, dass
auch sie, insbesondere nach der Osterweiterung der EU, nur noch Schritt
für Schritt und in komplizierten Verhandlungen Einfluss in Europa ausüben
können. Die EU ist schon lange nicht mehr der verlängerte Arm der franzö-
sischen Nation, wie dies de Gaulle noch sehen konnte. Gerade europäi-
sche Politik besteht im „geduldigen Bohren dicker Bretter“ (Max Weber).
Das gilt für die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Sozialpolitik
ebenso wie für die Frage, wie es überhaupt um den Einfluss Frankreichs in
Europa bestellt ist. Zwischen der Wirklichkeit der französischen Machtstel-
lung in Europa und dem Selbstbild, das die Franzosen sich von dieser eher
historischen Mission machen, klafft zunehmend eine unüberbrückbare Lü-
cke. Anstatt diese Entwicklung aber offen anzusprechen und die praktischen
Konsequenzen daraus zu ziehen, hält die politische Elite – allen voran Prä-
sident Chirac – in der öffentlichen Rhetorik krampfhaft an diesem Selbstbild
fest. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die rationalen Erklärungs-
versuche, die vom Lager des „Oui“ unternommen wurden, auf eine doppel-
te kognitive Mauer aus nationaler Selbstüberschätzung und linker Revolu-
tionsnostalgie stießen. Frankreich wurde beim Referendum über die EU-
Verfassung von den Anachronismen der eigenen politischen Kultur einge-
holt. Das paradoxe Ergebnis ist, dass gerade jenes Modell, welches die
Gegner des EU-Verfassungsentwurfs so vehement ablehnen, gestärkt aus
dem französischen Abstimmungsdebakel hervorgegangen ist. Noch nie war
Frankreichs Rolle in Europa so geschwächt wie heute. Dabei hätte Europa –
jedenfalls ein Europa, das mehr als nur eine Freihandelszone sein will – ein
starkes, mit Augenmaß und Realismus agierendes Frankreich nötig.
8
Selbst der von Jacques Delors lancierte „Europäische Soziale Dialog“ (1985)
als Interaktion zwischen den europäischen Organen und den Arbeitgebern sowie
Arbeitnehmern findet sich im Verfassungsentwurf (Art. I-48). Vgl. auch: Sozial-
politik, Art. III-209-219.
17
Erweiterung ohne Vertiefung
War das französische „Nein“ ein entscheidender Schlag, so war das nie-
derländische „Nee“ kurz danach der Knockout, und zwar aus zwei Grün-
den: Das „Nein“ am 1. Juni 2005 kam aus dem wichtigsten Benelux-Staat
mit großer multilateraler Tradition, mithin aus Kerneuropa selber, und war
mit 61,6% deutlich. Ein halbes Jahr zuvor waren noch ebenso viele Nieder-
länder für die Verfassung und nur 11% gegen sie! Ende April kippte die
Stimmung, und der Verfall der Zustimmung im Monat Mai, dem Höhepunkt
der Kampagne, war rapide. Parlamentarier mehrerer Parteien regten ein
konsultatives Referendum mit den Richtwerten 60% Mehrheit und 30%
Beteiligung an. Genauso ist es gekommen, allerdings mit umgekehrten
Vorzeichen und einer doppelt so hohen Wahlbeteiligung (63,3%). Der Text
des Verfassungsvertrages trifft dabei auf unterschiedliche Resonanzböden:
Was den Franzosen zu liberal gewesen ist, war den Niederländern zu we-
nig liberal.
Krise! Welche Krise?
Beim Europäischen Rat am 28. Juni 2005 in Brüssel spricht sogar der mode-
rate Juncker enttäuscht und empört zugleich von einer „tiefen Krise“. Diese
wird allerdings nicht unmittelbar durch das Verfassungsprojekt und den sto-
ckenden Ratifizierungsprozess, sondern durch den blockierten Kompromiss
bei der Finanzplanung bis zum Jahr 2013 ausgelöst. Erst damit waren be-
stimmte Vorstellungen von Europa endgültig zerplatzt. Der Markt habe über
die Solidarität gesiegt, sagten die normativ Enttäuschten. Ungewöhnlich
scharf erfolgten die Schuldzuweisungen – vor allem an die Adresse von
Großbritannien, das seinen „Britenrabatt“ nicht aufgeben wollte. Großbri-
tanniens Premierminister Tony Blair wies schließlich alle Kompromissvor-
schläge zurück und forderte offensiv eine grundlegende Reform der euro-
päischen Finanzen, zu der er jedoch wenig Konstruktives beitrug. Damit
entlud sich gleichzeitig der Problemdruck mehrerer „Baustellen“, auf de-
nen gegenwärtig in der EU politisch gearbeitet wird:
– Das Verfassungsprojekt wird vorerst auf Eis gelegt und die Ratifizierungs-
phase noch einmal verlängert: Denkpause! Die Denkpause darf jedoch
nicht zur Orientierungskrise führen, wobei sich dann Überforderungs-
und Orientierungskrise wechselseitig verstärken könnten.
– Zuerst und vordringlich sollte der EU-Finanzrahmen zwischen 2007 und
2013 geklärt werden. Ende 2005 kam es aufgrund deutscher Vermitt-
lung zu einem Kompromiss, der allerdings unbefriedigend blieb und
inzwischen vom Europäischen Parlament verworfen wurde.
– Hinzu kommt, dass der haushaltspolitische Stabilitätspakt gerade von
den großen Ländern seit längerem verletzt wird. Dieser Umstand hatte
18
Heinz Kleger
schon in der Verfassungsdebatte für erhebliche Unruhe von Seiten der
kleinen und neuen Mitgliedsländer gesorgt.
– Außerdem sind die Pläne für die nächste Erweiterung der EU in Frage
gestellt. Insbesondere die Türkei-Debatte, bei der es für viele um nicht
weniger als die „Identität Europas“ geht, überlagert die Verfassungs-
debatte
9
.
– Schließlich – und nicht zuletzt für den EU-Ratspräsidenten Blair – geht
es um die sogenannte Lissabon-Agenda (2003), die sich das ehrgeizige
Ziel gesetzt hatte, Europa zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum
der Welt zu machen. In diesem Zusammenhang steht auch das soge-
nannte „europäische Sozialmodell“ zur Debatte bzw. der leistungsmäßige
Vergleich verschiedener einzelstaatlicher Konzepte: „superpower“ versus
„superstate“ (Blair), wobei auch bei der „superpower“ unrealistische
Vorstellungen einer strategischen Überdehnung Europas mitschwingen.
Alles in allem ist die EU im Begriff, sich zu übernehmen, ohne dafür die
geistigen und politischen Grundlagen geschaffen sowie die (finanziellen)
Mittel bereitgestellt zu haben. Es handelt sich mithin in doppelter Hinsicht
um eine Erweiterung ohne Vertiefung. Unter diesen Voraussetzungen spricht
vieles für ein nochmaliges Nachdenken über Europa, das einerseits durch
den halbherzigen Ratifikationsprozess nicht vorangebracht worden ist, an-
dererseits jedoch dort, wo eine breite und heftige, ja historisch beispiellose
Verfassungsdebatte wie in Spanien und Frankreich stattfand, durchaus ei-
nen Vertiefungsschub erhalten hat. Beides muss man zusammen sehen:
Europa braucht starke Völker und starke Politiker. Populäre Politiker scha-
den der Demokratie nicht. Sie sind es, die als „Köpfe Europas“ das Gespräch
mit den Bürgern suchen müssen. Dabei sind die Bürger ihrerseits sehr wohl
zur Selbstaufklärung fähig, wenn sie sich durch Inszenierungen nicht von
den Inhalten ablenken lassen, über die sie letztlich entscheiden. Ohne die-
se Eigenhaftung funktioniert Demokratie nicht. Die direkte Demokratie „von
unten“ als Recht und Gewohnheit der Bürger und nicht als einmalige Aus-
nahme kann dabei ein Debattendefizit über das, was mit Europa politisch
gewollt ist, abbauen. Allerdings muss deren Vorbereitung und Durchfüh-
rung erst noch gelernt werden. An dieser Stelle stehen wir an einem neuen
Anfang, bei dem es darum geht, die demokratische Frage zu den europäi-
schen Bürgern zu bringen. Sie werden letztlich auch darüber entscheiden,
was als Realität und „reality check“ zu gelten hat. Die Zeit des permissiven
Konsenses in der Europapolitik ist vorbei. Für den ehemaligen Erweiterungs-
9
Le Pen sprach davon, dass Frankreich kein „türkisches Europa“ wolle. Inzwi-
schen leben 20 Millionen Muslime in Europa, das faktisch multikulturell und
multireligiös ist, was wiederum weder neu noch spezifisch modern ist.
19
Erweiterung ohne Vertiefung
kommissar Verheugen ist zwischen den Bürgern und dem Prinzip der euro-
päischen Integration eine Vertrauenskrise aufgebrochen: „Die Krise wird
nicht überall empfunden. Überhaupt nicht in den neuen Mitgliedsländern,
wenig im Süden, kaum im Norden. Es ist eine Krise, die vor allen Dingen
die Gründerstaaten erfasst hat, das alte industrielle Herzland Europas.“
10
Kerneuropa wird mithin kein „Kerneuropa“ bilden. Die Situation hat sich
mit 25 und bald 28 gleichberechtigten Mitgliedern grundlegend gewandelt.
Sie ist einerseits für eine politische Union bestandsgefährdend, eröffnet aber
andererseits auch die Chance richtungsändernder Entscheidungen und kann
damit als „Krise“ einen Wendepunkt in der europäischen Entwicklung mar-
kieren. Solche Entscheidungen – vor allem institutioneller Natur, bspw. das
Prinzip der „doppelten Mehrheit“ betreffend – sind im Verfassungsvertrag
durchaus vorgesehen. Ob sie weit genug gehen, ist eine andere Frage; aber
im Moment nicht die vordringliche.
European reality check
Der neue EU-Ratspräsident Blair forderte nichts weniger als einen „Euro-
pean reality check“
11
. Dabei erhielt er Rückenwind sowohl durch die ab-
lehnenden Referenden als auch durch das große Gewicht Großbritanniens
als zweitgrößter Nettozahler in der EU. Aus britischer wie vielfach auch aus
sympathisierender osteuropäischer Sicht fehlt es der EU vor allem an Dyna-
mik und an Perspektive. Die Sozialmodelle des bisherigen Führungsduos
Deutschland-Frankreich, das mit dem Konvent noch einmal seine Hege-
monie bestätigen konnte, muten von daher als eher träge „halbstaatliche“
Veranstaltungen an, die in Bezug auf Wachstum und Beschäftigung derzeit
wenig erfolgreich sind
12
: „Was für ein Sozialmodell ist das, wenn 20 Milli-
onen Menschen arbeitslos sind, die Produktivität hinter der der USA zu-
rückfällt, wenn Indien in den Naturwissenschaften mehr Hochschulab-
solventen hervorbringt als ganz Europa, und wenn alle Indikatoren für eine
moderne Volkswirtschaft – Ausbildung, Forschung und Entwicklung, Paten-
te, IT – nach unten tendieren. (...) Unser Sozialmodell sollte darauf angelegt
sein, unsere Konkurrenzfähigkeit zu verbessern (...). Darin sollte eine mo-
derne Sozialpolitik bestehen, nicht in Regulierung und einem Kündigungs-
10
Verheugen, Günter (2005): Europa in der Krise, Köln, Kiepenheuer & Witsch,
S. 7.
11
Tony Blair bei seiner Antrittsrede vor dem Europäischen Parlament am 23. Juni
2005.
12
Großbritannien, das in den Nachkriegsjahrzehnten als „kranker Mann Europas“
galt, erreicht seit einem Jahrzehnt ein Wirtschaftswachstum von soliden 3%
und weist eine Arbeitslosenquote von lediglich 4,6% auf.
20
Heinz Kleger
schutz, der vielleicht einige Arbeitsplätze für kurze Zeit schützt – auf Kos-
ten vieler Arbeitsplätze auf längere Sicht.“
13
Demgegenüber setzte die Lissabon-Agenda auf flexiblere Arbeitsmärk-
te, offene Grenzen, stärkeren Wettbewerb sowie mehr Forschung und Ent-
wicklung in Richtung einer „Wissensgesellschaft“. Die vage Vorstellung einer
„Wissensgesellschaft“ mit ihrem wertneutralen Schlüsselbegriff der Innova-
tion scheint die Ersatzutopie der modernen Gesellschaft geworden zu sein.
14
Selbst vom stets umkämpften modernen Leitbegriff des Fortschritts hat man
sich verabschiedet, was den für die politische Theorie so wichtigen Begriff
der Reform in Mitleidenschaft zieht, bei dem es bisher immer auch um so-
zialen Ausgleich und gesellschaftliche Balancen ging. Dieser selbstlaufende
Fortschritt ist ein unaufhörlicher Wandel ohne Geschichtsbewusstsein ge-
worden, weshalb man heute schon bei weniger gravierenden Problemen
inflationär von Krisen spricht. Die Aufklärung konnte anscheinend trotz
beständiger Beschwörung der Demokratie, was vielfach eine Leerformel
geblieben ist, keine Traditionen entwickeln, welche den notwendigen Ge-
genhalt zu einer unaufhörlichen Bewegung bilden, die den Menschen nicht
nur keine Orientierung bietet, sondern Ängste erzeugt, die wiederum die
Politik bestimmen. Der kluge Umgang mit dem beobachtbaren Fortschritt
als „evolutionistisches“ Konzept bleibt jedoch eine Aufgabe der praktischen
Vernunft; was die Demokratie der Bürger erfordert, wenn eine gerechte
Modernisierungsstrategie entstehen soll: Die Herren des common sense sind
letztlich die Bürger und Bürgerinnen Europas.
Die EU weist indes ein grundsätzliches Debattendefizit auf, das durch
den Ratifikationsprozess nur teilweise behoben worden ist. Dies ist nicht
zuletzt, so paradox es klingen mag, durch die umfassende und heftige Dis-
kussion in Frankreich geschehen. Die direktdemokratische Auseinander-
setzung der Bürger mit der Politik führt zu einer reellen Demokratie, worin
die Wirklichkeit nicht so leicht versteckt oder grob manipuliert werden kann.
Die Beispiele aus Frankreich und den Niederlanden führen aber ebenso vor
Augen, dass die „Bekenntnis-Europäer“ erst am Anfang eines Umgangs mit
transnationaler Demokratie stehen. Diese Politik wird noch zu üben sein.
Wissen und Demokratie müssen deshalb künftig vermehrt Hand in Hand
gehen. Es steht nicht nur die Arroganz von Eliten gegen die Ignoranz von
Populisten, welche beide die gleichzeitige Erweiterung und Vertiefung der
Europäischen Union verhindern. Vielmehr gibt es überall eine spezifische
Ignoranz der Arroganz, die durch die direkte Demokratie schonungslos
aufgedeckt wird. Die „Spindoktoren“ geraten an die Grenzen ihrer Macht.
13
Tony Blair am 23. Juni 2005, a.a.O.
14
Entgegen dem eigenen Selbstbild gehört Deutschland laut dem so genannten
„Innovationsanzeiger“ der EU zur Spitzengruppe.
21
Erweiterung ohne Vertiefung
Auf der anderen Seite existiert ebenso eine spezifische Arroganz der Igno-
ranz, die sich auf die Sache, um die es geht, erst gar nicht einlässt.
Natürlich kann man sich trefflich darüber streiten, ob der Verfassungs-
entwurf des Konvents, der seine Schwächen hat
15
, das Gute war, dessen
Feind nicht nur das offensichtlich Ungenügende in Gestalt des Nizza-Ver-
trags, sondern auch das vermeintlich Bessere sein kann, das sich durch die
Konkurrenzillusionen und Überbietungsdiskurse der Politik leicht erzeugen
lässt. Kern der Aufklärung ist jedenfalls, sich auf die Wirklichkeit einlassen
zu können, wozu die eigene Urteilsfähigkeit gehört: „Die Maxime, jederzeit
selbst zu denken, ist die Aufklärung“ (Kant). Für diese Aufklärung als Pro-
zess bietet die Demokratie ein Polyforum, was allerdings nicht bedeutet,
dass sie ein kampffreier Raum oder herrschaftsfreier Diskurs ist. Technokra-
tie und Populismus schaukeln sich vielmehr gegenseitig hoch und verhin-
dern das Wachstum einer komplexen Bürgerschaft, welche die Union, ihre
Länder und Regionen angesichts neuer Herausforderungen tragen könnte.
Politische Technokratie ersetzt die demokratische Auseinandersetzung durch
eine vermeintlich höhere Sachrationalität und bedeutet gewissermaßen die
systematische Entpolitisierung der Politik. Auf diese Weise hat man die
Währungsunion eingeführt und die Erweiterung betrieben, sodass die EU
mit Bulgarien, Rumänien und Kroatien bald 28 Staaten umfassen wird.
Der heutige Umgang mit Brüssel, der zu einem Bestandteil der Innenpo-
litik geworden ist, wirkt ernüchternd und provoziert Reaktionen. Der Popu-
lismus wiederum ist keine einfache Negation der Demokratie. Mit ihm muss
man sich in einer pluralistischen Demokratie des (Parteien-)Wettbewerbs
auseinander setzen, wenn man nicht unpolitisch werden will. Es gibt ver-
schiedene Varianten des Populismus, nicht nur den Rechtspopulismus. Nach
dem „Wohlstand für alle“ (Erhard) ist auch eine linke „Politik für alle“
(Lafontaine) mit wohlfahrtsstaatlichen Konzepten aus den 1970er Jahren,
wobei (Staats-) Bürgerschaft eng national verstanden wird, vor einem Popu-
lismus mit fremdenfeindlichen Untertönen nicht gefeit. Der Wohlfahrtsstaat
wird hier in nationalistischen Kategorien verteidigt. Dann spalten unter-
schiedliche Vorstellungen von Europa wie „Wohlstandsfestung Europa“
versus Europa als „Teil der freien Welt“ selbst traditionsreiche sozialdemo-
kratische und sozialistische Parteien, wie dies in Frankreich und Deutsch-
land gegenwärtig geschieht. Europa hat ein Ausländerproblem selbst zwi-
schen West- und Osteuropa. Diesbezüglich wird ebenso wie bei der Tür-
kei-Frage mit Ängsten Politik gemacht. Das Problem der gescheiterten Re-
ferenden war nicht das so genannte „angelsächsische Modell“, das Problem
war vielmehr, dass die Debatte mit Feindbildern gewonnen werden konnte.
15
Vgl. Kleger, Heinz (Hrsg.) 2004, Anm. 4
22
Heinz Kleger
Technokratie versus Populismus (was partiell identisch ist mit Elitendiskurs
versus Bevölkerungsmehrheit) ist freilich nicht der einzige Knotenpunkt in
der Diskussion um die EU. Solche spannungsgeladenen Knotenpunkte sind
nicht ohne Weiteres auflösbar, sie gehören zum „Tauziehen“ um die Be-
sonderheiten der EU. Ein weiterer Knotenpunkt, der mit der Verfassung di-
rekt angezielt werden sollte, heißt Legitimation der EU versus Utilitarismus
der einzelnen Länder. Dabei bezieht sich die Legitimationsproblematik
16
auf die Kriterien demokratischer Legitimität und Regierbarkeit, während mit
Utilitarismus die Output-Legitimation bei den nationalstaatlichen Regierun-
gen durch sichtbare Wohlfahrtseffekte gemeint ist. Die Exekutivendominanz
nationalstaatlicher und insbesondere europäischer Politik bemüht sich na-
türlich darum, klare Effekte staatlichen Handelns aufzeigen zu können, die
„objektiv ökonomisch“ und für die Bürger wahrzunehmen sind. Damit ver-
knüpft ist ein dritter Knotenpunkt, der durch die britische Offensive deutlich
geworden ist, nämlich: Institutionen der EU versus Sozialmodell. Welches
europäische Sozialmodell will und braucht man angesichts der globalen
Konkurrenz? Der britische Finanzminister und designierte Nachfolger Blairs,
Gordon Brown, glaubt nicht an ein europäisches Sozialmodell und schlägt
stattdessen „Global Europe“ vor.
17
In dieser Vorstellung ist die europäische
Integration von der Globalisierung überholt worden. Es gilt deshalb „nach
außen“ zu schauen, das Sozialmodell ist an „globale Realitäten“ anzupas-
sen. Dabei steht aus britischer Sicht der Wettlauf mit Asien als „race to the
top“ im Vordergrund, gemessen wird an China und Indien. Es geht um ein
„vollständig anderes Modell für Wachstum“ (Brown) in Europa. Der soziale
Mehrwert hinsichtlich Löhnen und Beschäftigung darf meines Erachtens
jedoch nicht gegen politische Formen ausgespielt werden. Andererseits ist
zu prüfen, ob und inwieweit die grundlegende politische Solidarität auf
europäischer Ebene auch neue Formen sozialer Solidarität schaffen kann.
Deshalb ist die Diskussion über die verschiedenen „Varianten des Wohl-
fahrtsstaates“
18
ebenso fortzuführen, wie weiterhin über Möglichkeiten trans-
nationaler Sozialstaatlichkeit
19
, die freilich noch in weiter Ferne liegen,
nachzudenken ist.
16
Vgl. Cheneval, Francis (Hrsg.) 2005: Legitimationsgrundlagen der Europäischen
Union, Münster, LIT.
17
Vgl. Brown, Gordon (2005): Global Europe: full-employment Europe, UK Trea-
sury Department.
18
Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver (2003): Varianten des Wohlfahrtsstaates, Frank-
furt a.M., Suhrkamp.
19
Vgl. Kaelble, Hartmut/Schmid, Günther (Hrsg.) 2004: Das europäische Sozial-
modell, Berlin, Edition Sigma.
23
Erweiterung ohne Vertiefung
Auswege aus der Ratifizierungskrise
Folgende Auswege sind vorstellbar: „Nizza plus“, Wiederholung der ge-
scheiterten Referenden, „Opting-Out“, Europa der zwei Geschwindigkei-
ten, Zweiteilung der Verfassung und Ausscheiden der Nicht-Ratifizierer.
Eine Wiederholung der Referenden ohne Änderungen in Frankreich und
den Niederlanden schließe ich hier ebenso aus wie eine Kampagne der
Kommission zur Rettung des Verfassungsentwurfs des Konvents. Die Kom-
mission befindet sich zurzeit nicht nur in einer Denkpause, sondern in einer
veritablen Führungsschwäche. Sie schweigt und entwickelt keine konstruk-
tiven Konzepte: „With friends like these, the Constitution doesn’t need
enemies“.
20
Kommissionspräsident Barroso äußerte sich bei den Jubiläumsfeier-
lichkeiten der Solidarność sogar demotivierend für die Staaten, die bereits
ratifiziert haben: „Anstatt endlos über Institutionen zu debattieren, sollten
wir das Beste aus dem machen, was wir haben.“ Barroso sprach des Weite-
ren davon, dass der Nizza-Vertrag auch mit 25 Mitgliedern erstaunlich gut
funktioniere, denn bisher sei noch keine wichtige Entscheidung blockiert
worden.
21
In Polen war natürlich die Freude über solche Äußerungen groß,
angesichts der favorisierten Nizza-Stimmengewichte, denn Verfassungs-
fragen sind auch Machtfragen. Nicht nur einzelne Länder und Regierungs-
chefs verabschieden sich auf fragwürdige Weise von der Ratifikation der
Verfassung, auch die Kommission als Hüterin der europäischen Interessen
sagte im Herbst 2005 deutlich „Adieu“ zum Projekt und lancierte stattdessen
– als typische Kommunikationsstrategie im Geiste des Marketing – einen
„Plan D“, der für „Demokratie, Dialog und Debatte“ stehen soll, was von
einzelnen EU-Parlamentariern zum Teil scharf kritisiert wird. Jedoch: Aus
den Kreisen des EU-Parlaments, die bereits zu den wichtigsten Trägern des
Konvents gehörten, sind noch konstruktive Vorschläge zu erwarten, die
breitere politische Folgewirkungen erzielen werden. Auch die österreichische
EU-Ratspräsidentschaft verspricht immerhin eine „tiefschürfende Analyse“.
22
Wenn man schon nicht ein paneuropäisches Referendum, in dem die
Unionsbürgerschaft insgesamt an einem Tag zum Zug gekommen wäre,
durchführen wollte und konnte, so sollte man jetzt zumindest den Rati-
fizierungsprozess regelkonform zu Ende führen, um dann auf einer soliden
Basis Konsequenzen zu ziehen. Dies gebietet nicht nur der Respekt gegen-
über denjenigen Ländern und Teilen der Unionsbürgerschaft, die unter ho-
20
Der EU-Parlamentarier Johannes Voggenhuber am 22. September 2005, wäh-
rend EU-Kommissionspräsident Barroso gleichzeitig die „Illusionen“ kritisierte,
dass der Verfassungstext noch zu retten sei.
21
Vgl. Rzeczpospolita, 1. September 2005.
22
Bundeskanzler Schüssel, in: Süddeutsche Zeitung, 1. Januar 2006.
24
Heinz Kleger
hem Kostenaufwand ratifiziert haben oder noch ratifizieren möchten, es
gehört ebenfalls zum „European reality check“, der nicht ökonomisch ver-
kürzt erfolgen darf. Im Verfassungsvertrag findet sich dazu eine klare Be-
stimmung: „Die Konferenz stellt fest, dass der Europäische Rat befasst wird,
wenn nach Ablauf von zwei Jahren nach der Unterzeichnung des Vertrags
über eine Verfassung für Europa vier Fünftel der Mitgliedstaaten den ge-
nannten Vertrag ratifiziert haben und in einem Mitgliedstaat oder mehreren
Mitgliedstaaten Schwierigkeiten bei der Ratifikation aufgetreten sind.“
23
Auf
Partner bei einer gleichberechtigten Mitbestimmung von 25 Staaten, die
mitten in einem vereinbarten Verfahren bei Schwierigkeiten abspringen oder
Grundsätze über Bord werfen, ist wenig Verlass. Dies ist dann wahrlich nur
noch eine fallweise Kooperation souveräner Staaten und keine Union mehr.
Der halbherzige Ratifikationsprozess offenbart ein Defizit an überzeugen-
der, sachlicher und verbindlicher Debatte, das durch keinen „Plan D“ auf-
gefangen werden kann.
Ende August 2005 haben mit Belgien 14 Staaten ratifiziert. Großbritan-
nien, Dänemark, Irland, Polen, Portugal, Finnland und Schweden haben
dagegen ihre Prozeduren ausgesetzt und bisher noch keine neuen Daten
genannt. In Tschechien schließlich hat man sich noch nicht entschieden,
ob ein Referendum abgehalten werden soll, obwohl 80% der Bevölkerung
es wünschen. Als im Juli 2005 endlich eine Druckfassung des Verfassungs-
vertrags in tschechischer Sprache vorlag, war die Auflage binnen Kurzem
vergriffen. Ein breites politisches Interesse ist vorhanden, doch gibt es auch
hier einen deutlich negativen Einfluss nach dem 29. Mai 2005.
Die Schwierigkeiten türmen sich zusammen mit anderen großen Projek-
ten auf, die mit der EU verbunden sind. Insbesondere die Überlagerung der
Verfassungsfrage mit der Türkei-Debatte, die in Wirklichkeit nichts mit-
einander zu tun haben, wirkt sich verhängnisvoll aus. Darüber hinaus fes-
selt die französische Ablehnung alle, denn Frankreich ist kein Sonderfall
wie Großbritannien, sondern Ausgangs- und Ideenmittelpunkt der europä-
ischen Integration. Kumulativ entsteht darüber hinaus die neue Problematik
einer Gewichtung der Stimmen, da die teilweise große Zustimmung nicht
voranschreiten kann und darf. Dort, wo zumeist mit überwältigender Mehr-
heit trotz Parteienkonkurrenz parlamentarisch ratifiziert wurde, fragen sich
zudem viele Bürger, warum sie bei einer so grundsätzlichen Frage, die alle
betrifft, nicht abstimmen konnten. Diese Frage wiederum führt unabweis-
bar dazu, dass die direkte Demokratie auf nationaler wie transnationaler
europäischer Ebene immer mehr auf die Tagesordnung kommt. Dies kann
man beklagen und problematisch finden, wenn man direkte Demokratie
23
Erklärung zur Ratifikation des Vertrags über eine Verfassung für Europa (2005),
in: Vertrag über eine Verfassung für Europa, Luxemburg, S. 472.
25
Erweiterung ohne Vertiefung
mit Populismusanfälligkeit und Populismus mit der Produktion von Feind-
bildern kurzschließt. Andererseits könnte auch ein paneuropäisches Refe-
rendum nach Modifikationen des Verfassungsentwurfs daran anknüpfen.
Allerdings haben (Volks-)Initiativen dazu noch „keinen Ort“, das heißt, sie
sind buchstäblich utopisch. Indes: Vieles, was gestern noch utopisch war,
ist heute Realität.
Verfassung als Prozess
Wie man in der politischen Theorie analysiert und bewertet, hängt von den
Erwartungen ab, die man hegt. Was erwarten wir von einer europäischen
Verfassung? Das heißt zum einen: Welche Erwartungen richtet der Ver-
fassungsentwurf an sich selbst? Und zum anderen: Schafft er Grundlagen
für die Einlösung seiner normativen Erwartungen? Die Fragen von Laeken,
der Konvent sowie der Konventsentwurf, sofern man ihn an den richtigen
Fragen von Laeken Ende 2001 misst, sind Fortschritte gewesen – bei allen
berechtigten Kritikpunkten vor allem an Teil III
24
, der eigentlich nicht in
eine Verfassung gehört. Widersprüche und unbefriedigende Kompromisse
sind unvermeidlich, wenn verschiedene politische Akteure, die konsensual
arbeiten müssen, ins Spiel kommen, was seit Ende der 1990er Jahre der Fall
ist. Überraschender sind dagegen doch die „gefundenen“ historischen und
systematischen Kompromisse, wie sie im Verfassungsentwurf durchschau-
bar werden und mit denen auf eine transparente Weise umgegangen wer-
den kann.
Die Ratifizierungskrise liegt weder am Konvent noch am Konvents-
entwurf, der immerhin für die Abstimmung im Rat reif war, sondern an den
ungünstigen innenpolitischen Umständen in Frankreich, den Niederlanden
sowie anderen Ländern und ihren Regierungen, die nicht nur sich selbst
überschätzt haben, sondern auch nicht in der Lage waren, den unter den
gegebenen Umständen optimalen Entwurf klar und überzeugend zu vertre-
ten. Nicht das „Nein“ der Bürger ist für die vorübergehende Panne oder
tiefergehende Krise verantwortlich. Dort, wo das „Nein“ im Rahmen einer
demokratischen Auseinandersetzung zustande gekommen ist, wird es sogar
einen nachhaltigen Effekt für die Zukunft haben, die es politisch ohnehin
nur mit mehr direkter Demokratie und Bürgergesellschaft geben wird. Nizza
und „Nizza plus“ funktionieren zwar auch, sie werden jedoch im weiteren
europapolitischen Prozess nicht dazu führen, die „implizite Verfassung“ der
EU zu einer expliziten „europäischen Verfassung“ werden zu lassen, wel-
che orientierend und legitimitätsstiftend zugleich wirken kann. Eine solche
24
Teil III nimmt die Artikel der bereits bestehenden Verträge auf und präzisiert
die Politikbereiche und Arbeitsweise der EU.
26
Heinz Kleger
Verfassung wird von der Mehrheit der Bürger nach wie vor gewünscht: Es
wäre eine EU-Verfassung für die Bürger und nicht für die Regierungen. Sol-
che komplexen Prozesse brauchen allerdings Zeit. Auch der Konventsentwurf
war natürlich „nur“ ein Entwurf, der erst einmal diskutiert werden muss.
Das ist sein Paradox.
Zu unserem Verfassungsverständnis kommt die möglichst breite Diskus-
sion der direktdemokratischen Legitimation hinzu. Nur so kann den Bür-
gern als Mitentscheidern diese zusätzliche Ebene letztlich wirklich näher
gebracht werden. Diese Ebene ist die Supranationalität, die einher geht mit
einer erweiterten politischen Solidarität und einer erweiterten Demokratie.
Die deliberative Konventsarbeit unter Einbezug einer größeren Öffentlich-
keit, welche die Logik der Regierungskonferenzen durchbrach, bedeutete
in diesen drei wesentlichen Hinsichten einen Fortschritt, welcher eine re-
flektierte Forcierung des Integrationsprozesses darstellt, der die EU mit neuem
demokratischen Leben erfüllt. Sowohl die Stärkung des europäischen Par-
laments als auch die Verbesserung der Beziehungen zwischen den nationa-
len Parlamenten und dem EU-Parlament sowie ein vorsichtiger Einstieg in
die direkte Demokratie sind vorgesehen. Daran gilt es festzuhalten. 2009
könnte dann ein paneuropäisches Referendum über die wirklich grundle-
genden Verfassungsfragen der Union durchgeführt werden.
Das Karolingische Reich um 800
Document Outline - Erweiterung ohne Vertiefung : Vom Konvent zur Ratifizierungskrise
- Das spanische Referendum als Auftakt
- L’Europe sociale versus L’Europe libérale
- Krise! Welche Krise?
- European reality check
- Auswege aus der Ratifizierungskrise
- Verfassung als Prozess
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