Erweiterung ohne Vertiefung Das europäische Verfassungsprojekt scheiterte an ungünstigen



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Erweiterung ohne Vertiefung

Das europäische Verfassungsprojekt scheiterte an ungünstigen

innenpolitischen Umständen. Nun weitet sich der halbherzi-

ge Ratifizierungsprozess zu einer Orientierungskrise aus, die

auch durch den „Plan D“ der Brüsseler Kommission nicht auf-

gefangen werden kann. Kernpunkte des Verfassungsentwurfs

sollten 2009 erneut zur Diskussion gestellt und in einem pan-

europäischen Referendum zur Abstimmung gebracht werden.

EU-Verfassung, Ratifikationsprozess, Konvent

The project of the European Constitution failed because of

unfavourable circumstances related to domestic affairs. Now

the ratification process extends to a crisis of orientation, which

cannot be solved by the „Plan D“ of the Brussels-based com-

mission. The essentials of a draft constitution should be pre-

sented again for discussion in 2009 and then decided in a pan-

European referendum.

EU-Constitution, Ratification Process, Convention

WeltTrends 50 (Frühjahr 2006) 

• 14. Jahrgang • S. 11–26 • © WeltTrends

Erweiterung ohne Vertiefung

Vom Konvent zur Ratifizierungskrise

Heinz Kleger

Prof. Dr. Heinz Kleger, geb. 1952, Politikwissen-

schaftler an der Universität Potsdam und der Euro-

pa-Universität Frankfurt (Oder); Forschungsthemen:

Politische Theorie, Bürgerschaft und Demokratie in

Europa.


Publikationen: Europäische Verfassung. Zum Stand

der europäischen Demokratie im Zuge der Oster-

weiterung, Münster 2004; Religion des Bürgers. Zivil-

religion in Amerika und Europa, Münster 2004.

E-Mail: kleger@uni-potsdam.de



12

Heinz Kleger

V

or der Abstimmung in Frankreich am 29. Mai hatten bereits zehn EU-



Staaten die Verfassung ratifiziert: Litauen, Ungarn, Slowenien, Itali-

en, Griechenland, die Slowakei, Spanien, Belgien, Österreich und

Deutschland. Spanien sogar mit einem Referendum. Und Spanien sollte dann

auch das „ansteckende“ Beispiel für den ganzen Ratifizierungsprozess wer-

den.

Das spanische Referendum als Auftakt

Am 3. Februar 2005 wurde das Referendum durch eine historisch einmali-

ge, regierungsoffizielle Kampagne gestartet, welche die ganze Bevölkerung

erreichen sollte. Ihr Höhepunkt war eine Veranstaltung am 11. Februar im

Kongresszentrum von Barcelona, bei welcher der spanische Ministerpräsi-

dent Zapatero und der französische Staatspräsident Chirac gemeinsam für

die Verfassung warben. Zuvor hatten schon ähnliche Veranstaltungen mit

dem deutschen Bundeskanzler und seinem Außenminister stattgefunden.

Frankreich, Deutschland und Spanien bildeten eine Allianz. Das Kalkül ging

dabei weit über Spanien hinaus: Spanien sollte als europäisches Vorbild

dienen. Dies ist jedoch in zweierlei Hinsicht zu relativieren – nach innen

wie nach außen.

In der populären, aber nicht populistischen Kampagne wurden zwar alle

Register der Öffentlichkeitsarbeit gezogen, dennoch lässt sich innerhalb eines

Monats keine grundlegende Informations- und Aufklärungskampagne durch-

führen und festigen. Das fakultative Referendum, welches für das Parlament

nicht bindend war, fand schließlich am 20. Februar 2005 statt. Die Frage,

die den spanischen Wählern gestellt wurde, lautete: „Stimmen Sie dem

Vertrag zu, durch den eine Europäische Verfassung geschaffen wird?“ Von

den rund 14 Millionen Wählern stimmten 76,73% für die Verfassung, 17,24%

dagegen und 6% enthielten sich der Stimme.

1

 Die höchsten Anteile an



Neinstimmen stammten aus dem Baskenland und Katalonien

2

, die größten



Anteile an Ja-Stimmen kamen hingegen von den Kanaren, der Extremadura,

aus Melilla und Andalusien

3

. Diese Unterschiede verweisen auf eine starke



regionale Differenzierung, die ebenso wie die Meinungsunterschiede zwi-

schen Regierung und Opposition durchaus zu einem anderen Ausgang des

Referendums hätten führen können. Es war indessen das Referendum des

beliebten Präsidenten Zapatero und seiner Sozialistischen Partei (PSOE),

deren Anhänger mit 93% (!) hinter dem europäischen Verfassungsentwurf

1

Die Wahlbeteiligung lag bei 42,3%. Das ist die niedrigste Wahlbeteiligung in



der Geschichte des Landes nach Franco.

2

Baskenland (33,6%), Katalonien (28%).



3

Kanaren (86,03%), Extremadura (85,19%), Melilla (84,56%), Andalusien (83,24%).




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Erweiterung ohne Vertiefung

standen. Ein weiteres Faktum neben der niedrigen Wahlbeteiligung und der

Haltung der regierenden Sozialisten ist besonders aufschlussreich: Ein Drit-

tel der Befragten gab an, dem Referendum aufgrund einer generell positi-

ven Einstellung zur EU zugestimmt zu haben. Dies lässt den Schluss zu,

dass die „hohe“ Zustimmung der Minderheit der Wahlberechtigten ebenso

als Anerkennung und Dankbarkeit für die Aufbauhilfe der Vergangenheit

wie als lediglich wahlweise Zustimmung zur Verfassung an sich zu werten

ist. Die EU ist sicherlich mit der breiten direktdemokratischen Verfassungs-

diskussion vielen Spaniern erstmals als geistiges und politisches Gebilde

nähergebracht worden, was als nachhaltiger Fortschritt gebucht werden

sollte. Genauso muss man andererseits die erwünschte gesamteuropäische

Vorbildwirkung der Spanier für andere Staaten und ihre Bevölkerungen –

insbesondere für das benachbarte Frankreich – im Nachhinein als Illusion

bewerten. Und schließlich darf man nicht vergessen, dass die konservative

Vorgängerregierung Aznar neben Polen zu den schärfsten Kritikern sowohl

der grundsätzlichen Legitimationsmöglichkeiten des Konvents als auch der

Kernpunkte des abschließenden Konventsentwurfs zählte.

4

Insofern gewährt der Einblick in die Ratifikationsdebatte der verschiede-



nen EU-Staaten Aufschluss darüber, welchen Stand die europäische Inte-

gration tatsächlich erreicht hat, und mehr noch über die oft standortbe-

dingten, täuschenden Illusionen und falschen Erwartungen, die darüber im

Umlauf sind. Dabei wird deutlich, auf welch wackligen Beinen die realen

Legitimationsgrundlagen der EU stehen. Ebenso werden der tatsächliche

Einfluss und damit die neue Beziehung der EU zur Politik und Bürgerschaft

ihrer Nationen sichtbar. Das positive Referendum in Spanien ist keine Über-

raschung. Es ist – ebenso wie der EU-Betritt 1986, dem alle Parteien zu-

stimmten – nicht aufgrund einer polarisierenden und bis zum Schluss offe-

nen Debatte zustande gekommen. Für die meisten Spanier wurde die Euro-

päische Union geradewegs zu einem Synonym für Wohlstand und Demo-

kratie. Die europäische Integration hat Spanien aus der jahrhundertealten

historischen Isolierung von Europa, die unter Rivera, durch die Auswirkun-

gen des Bürgerkrieges und die Diktatur Francos noch einmal zementiert

worden ist, befreit. Die EU wie die Nato spielten als äußere Faktoren bei

diesem weltweit zum Vorbild gewordenen Übergang der Diktatur zur De-

mokratie eine nicht unerhebliche Rolle. Zudem ist Spanien seit seinem Beitritt

zur EG deren größter Nettoempfänger: Vier von zehn Autobahnkilometern

wurden von Brüssel finanziert, 90% der Investitionen und Touristen kom-

men aus der EU und ein Viertel der Einkünfte in der Landwirtschaft beste-

hen aus Brüsseler Direkthilfen; um nur einige Beispiele zu nennen, die all-

tägliche Wirkungen haben und überall sichtbar sind. Nicht zufällig können

4

Vgl. Kleger, Heinz (Hrsg.) 2004: Der Konvent als Labor, Münster, LIT.




14

Heinz Kleger

deshalb ein spanischer Sozialist und ein französischer Gaullist Europa als

eine „idée neuve“ begrüßen, welche „à nos vies quotidiennes davantage de

sécurité, de justice et d’ambition“ verschafft.

5

 Das spanische Referendum



sollte positiv auf das französische ausstrahlen. Das französische Referen-

dum mit 70% Wahlbeteiligung wurde indes zum europäischen Großkampf,

welcher die reale Zerrissenheit der Bevölkerungsmehrheit in europapoli-

tischen Fragen widerspiegelte.



L’Europe sociale versus L’Europe libérale

Die französische Debatte und das negative Abstimmungsergebnis für den

Verfassungsprozess sind der Überlagerung zweier unterschiedlichen Konflikt-

linien geschuldet. Auf der einen Seite haben wir es mit dem klassischen

Gegensatz zwischen Europaskeptikern und Europabefürwortern zu tun, der

sich in allen europäischen Staaten findet. Zwar besteht eine französische

Besonderheit darin, dass sich das Lager der sogenannten „Souveränisten“

jenseits des Rheins nicht auf die populistische Rechte beschränkt, sondern

auch Teile der Linken umfasst, insbesondere die Kommunistische Partei (PCF)

und die trotzkistisch orientierte extreme Linke. Aber das ist nichts Neues. So

verhielt sich der PCF auch schon in der Vergangenheit äußerst kritisch ge-

genüber dem Integrationsprozess. Auf der anderen Seite – und das ist das

eigentliche Novum – kam es bei diesem Referendum zur Spaltung des tra-

ditionell europafreundlichen Lagers. Erst die Ablehnung der europäischen

Verfassung durch einen beträchtlichen Teil der Mitglieder und Wähler der

sozialistischen Partei (PS), die historisch gesehen eine der Stützen des euro-

päischen Integrationsprozesses gewesen ist, ermöglichte dieses Ergebnis.

6

Auf diese Weise gesellte sich zum klassischen Gegensatz zwischen „Inte-



grationisten“ und „Souveränisten“ der neue Gegensatz zwischen denjeni-

gen Europabefürwortern, die den Verfassungsentwurf unterstützen, und

denjenigen, die ihn im Namen Europas ablehnen.

Die Gründe hierfür sind vielfältig. Sie haben sicherlich etwas mit der

innenpolitischen Situation zu tun, in der sich der PS derzeit befindet. Diese

ist gekennzeichnet durch den bereits im letzten Jahr heftig entbrannten

Wettlauf der potentiellen Kandidaten innerhalb des PS für die nächste

Präsidentschaftswahl und die damit verbundene Tendenz, sich vom derzei-

tigen Präsidenten Chirac möglichst eindeutig abzugrenzen. Der parteiin-

tern eher unbeliebte Dauerkandidat für die Präsidentschaftskandidatur,

5

Vgl. Semprún, Jorge/de Villepin, Dominique (2005): L’homme européen, Paris,



Plon.

6

Vgl. Kleger, Heinz (2005): EU-Verfassung im Härtetest, in: WeltTrends Nr. 48,



S. 91-105.


15

Erweiterung ohne Vertiefung

Laurent Fabius, wusste in diesem Zusammenhang seine Chance gegenüber

seinen Konkurrenten François Hollande und Dominique Strauss-Kahn ge-

schickt zu nutzen. Es wäre allerdings zu einfach, alle Verantwortung für das

gescheiterte Referendum dem politischen Opportunismus Fabius’ zuzu-

schreiben. Zumindest zwei weitere, tieferliegende Gründe müssen ange-

sprochen werden. Der eine betrifft die bis heute ungeklärten ideologischen

Altlasten des PS, der andere geht über Parteigrenzen hinaus und bezieht

sich auf die Europakonzeption der die Integrationsbewegung tragenden Kräfte

in ihrer Gesamtheit.

Der erste Punkt hat mit dem Politikverständnis der Sozialistischen Partei

zu tun, welches aus der französischen Revolution und der marxistisch in-

spirierten Arbeiterbewegung stammt. Der ehemalige sozialistische EU-

Außenhandelskommissar und jetzige Generaldirektor der Welthandels-

organisation, Pascal Lamy, hat das politische Bewusstsein der französischen

Sozialisten nach dem gescheiterten Referendum wie folgt beschrieben: „Wir

haben wahrscheinlich eine Art messianische Ader: Auf der Linken wird die

Macht von links ergriffen. Sind die Sozialisten dann an der Macht, so setzt

sich das Gefühl durch, dass wir niemals genug tun. Denn, gleich was wir

tun, wir machen keine Revolution.“

7

 Das „Europe sociale“ der linken Ver-



fassungsgegner trägt durchaus Züge einer revolutionären Ersatzutopie. Es

steht nicht nur im Gegensatz zum Europakonzept der mit dem Neologismus

des „Neoliberalismus“ belegten politischen Gegner, sondern ebenso zu dem

der eigenen „sozialdemokratischen“ Parteifreunde. „Sozialdemokratie“ wird

dabei als bloße Anpassung an die Erfordernisse des Marktes (miss-)verstanden.

Das ungeklärte Verhältnis des PS zum reformistischen Sozialismusverständnis,

wie es in Deutschland, Großbritannien und in den skandinavischen Ländern

vorherrschend ist, wird dabei zunehmend zur Belastung bei der Ausbildung

einer starken Linken auf europäischer Ebene und damit auch einer funktionie-

renden europäischen Demokratie. Es mag als eine Ironie der Geschichte ange-

sehen werden, dass mit Fabius gerade der Politiker, der sich in der Vergangen-

heit lautstark für die ideologische Reform des PS ausgesprochen hatte, nun den

Nostalgikern der sozialen Revolution in die Hände spielt.

Mit dem Schlagwort vom „Europe sociale“ kommt noch eine weitere

Dimension ins Spiel, die weit über den Kreis des PS und der französischen

Linken hinausgeht. Es ist damit eine weitere, mentalitätsgeschichtlich ebenso

tief im kollektiven Bewusstsein verankerte, „messianische“ Vorstellung ver-

knüpft: die Idee, dass Frankreich eine besondere Rolle in der Geschichte zu

spielen habe. Hieß es im Ancien régime noch, Frankreich sei die „fille aînée

de l’Eglise“, die älteste Tochter der Kirche, so schrieben später die Republi-

kaner ihrer Nation die säkulare Aufgabe zu, Vorreiterin zu sein bei der Ver-

7

Vgl. Le Monde, 27. August 2005.




16

Heinz Kleger

wirklichung jener Normen und Werte, die während der Französischen Re-

volution formuliert worden sind. Damals wie heute kommt die Gefahr von

der anderen Seite des Ärmelkanals und des Atlantiks. Das französische

Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell steht in dieser Logik dem angelsäch-

sischen unversöhnlich gegenüber. Übersehen wird dabei, dass der europä-

ische Verfassungsentwurf für die Schaffung einer gemeinsamen europäischen

Sozialpolitik so viele Möglichkeiten wie noch nie eröffnete.

8

 Außerdem



erfolgt die Durchsetzung einer solchen sozialen Orientierung im Verfassungs-

entwurf gerade aufgrund des Drucks der französischen Politik sowohl von

Seiten der Regierung als auch von einzelnen Abgeordneten im EU-Parla-

ment sowie im Konvent – und dies zum Teil gegen den größten Widerstand

der Briten. Das Problem für die französischen Politiker besteht darin, dass

auch sie, insbesondere nach der Osterweiterung der EU, nur noch Schritt

für Schritt und in komplizierten Verhandlungen Einfluss in Europa ausüben

können. Die EU ist schon lange nicht mehr der verlängerte Arm der franzö-

sischen Nation, wie dies de Gaulle noch sehen konnte. Gerade europäi-

sche Politik besteht im „geduldigen Bohren dicker Bretter“ (Max Weber).

Das gilt für die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Sozialpolitik

ebenso wie für die Frage, wie es überhaupt um den Einfluss Frankreichs in

Europa bestellt ist. Zwischen der Wirklichkeit der französischen Machtstel-

lung in Europa und dem Selbstbild, das die Franzosen sich von dieser eher

historischen Mission machen, klafft zunehmend eine unüberbrückbare Lü-

cke. Anstatt diese Entwicklung aber offen anzusprechen und die praktischen

Konsequenzen daraus zu ziehen, hält die politische Elite – allen voran Prä-

sident Chirac – in der öffentlichen Rhetorik krampfhaft an diesem Selbstbild

fest. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die rationalen Erklärungs-

versuche, die vom Lager des „Oui“ unternommen wurden, auf eine doppel-

te kognitive Mauer aus nationaler Selbstüberschätzung und linker Revolu-

tionsnostalgie stießen. Frankreich wurde beim Referendum über die EU-

Verfassung von den Anachronismen der eigenen politischen Kultur einge-

holt. Das paradoxe Ergebnis ist, dass gerade jenes Modell, welches die

Gegner des EU-Verfassungsentwurfs so vehement ablehnen, gestärkt aus

dem französischen Abstimmungsdebakel hervorgegangen ist. Noch nie war

Frankreichs Rolle in Europa so geschwächt wie heute. Dabei hätte Europa –

jedenfalls ein Europa, das mehr als nur eine Freihandelszone sein will – ein

starkes, mit Augenmaß und Realismus agierendes Frankreich nötig.

8

Selbst der von Jacques Delors lancierte „Europäische Soziale Dialog“ (1985)



als Interaktion zwischen den europäischen Organen und den Arbeitgebern sowie

Arbeitnehmern findet sich im Verfassungsentwurf (Art. I-48). Vgl. auch: Sozial-

politik, Art. III-209-219.



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Erweiterung ohne Vertiefung

War das französische „Nein“ ein entscheidender Schlag, so war das nie-

derländische „Nee“ kurz danach der Knockout, und zwar aus zwei Grün-

den: Das „Nein“ am 1. Juni 2005 kam aus dem wichtigsten Benelux-Staat

mit großer multilateraler Tradition, mithin aus Kerneuropa selber, und war

mit 61,6% deutlich. Ein halbes Jahr zuvor waren noch ebenso viele Nieder-

länder für die Verfassung und nur 11% gegen sie! Ende April kippte die

Stimmung, und der Verfall der Zustimmung im Monat Mai, dem Höhepunkt

der Kampagne, war rapide. Parlamentarier mehrerer Parteien regten ein

konsultatives Referendum mit den Richtwerten 60% Mehrheit und 30%

Beteiligung an. Genauso ist es gekommen, allerdings mit umgekehrten

Vorzeichen und einer doppelt so hohen Wahlbeteiligung (63,3%). Der Text

des Verfassungsvertrages trifft dabei auf unterschiedliche Resonanzböden:

Was den Franzosen zu liberal gewesen ist, war den Niederländern zu we-

nig liberal.



Krise! Welche Krise?

Beim Europäischen Rat am 28. Juni 2005 in Brüssel spricht sogar der mode-

rate Juncker enttäuscht und empört zugleich von einer „tiefen Krise“. Diese

wird allerdings nicht unmittelbar durch das Verfassungsprojekt und den sto-

ckenden Ratifizierungsprozess, sondern durch den blockierten Kompromiss

bei der Finanzplanung bis zum Jahr 2013 ausgelöst. Erst damit waren be-

stimmte Vorstellungen von Europa endgültig zerplatzt. Der Markt habe über

die Solidarität gesiegt, sagten die normativ Enttäuschten. Ungewöhnlich

scharf erfolgten die Schuldzuweisungen – vor allem an die Adresse von

Großbritannien, das seinen „Britenrabatt“ nicht aufgeben wollte. Großbri-

tanniens Premierminister Tony Blair wies schließlich alle Kompromissvor-

schläge zurück und forderte offensiv eine grundlegende Reform der euro-

päischen Finanzen, zu der er jedoch wenig Konstruktives beitrug. Damit

entlud sich gleichzeitig der Problemdruck mehrerer „Baustellen“, auf de-

nen gegenwärtig in der EU politisch gearbeitet wird:

– Das Verfassungsprojekt wird vorerst auf Eis gelegt und die Ratifizierungs-

phase noch einmal verlängert: Denkpause! Die Denkpause darf jedoch

nicht zur Orientierungskrise führen, wobei sich dann Überforderungs-

und Orientierungskrise wechselseitig verstärken könnten.

– Zuerst und vordringlich sollte der EU-Finanzrahmen zwischen 2007 und

2013 geklärt werden. Ende 2005 kam es aufgrund deutscher Vermitt-

lung zu einem Kompromiss, der allerdings unbefriedigend blieb und

inzwischen vom Europäischen Parlament verworfen wurde.

– Hinzu kommt, dass der haushaltspolitische Stabilitätspakt gerade von

den großen Ländern seit längerem verletzt wird. Dieser Umstand hatte



18

Heinz Kleger

schon in der Verfassungsdebatte für erhebliche Unruhe von Seiten der

kleinen und neuen Mitgliedsländer gesorgt.

– Außerdem sind die Pläne für die nächste Erweiterung der EU in Frage

gestellt. Insbesondere die Türkei-Debatte, bei der es für viele um nicht

weniger als die „Identität Europas“ geht, überlagert die Verfassungs-

debatte


9

.

– Schließlich – und nicht zuletzt für den EU-Ratspräsidenten Blair – geht



es um die sogenannte Lissabon-Agenda (2003), die sich das ehrgeizige

Ziel gesetzt hatte, Europa zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum

der Welt zu machen. In diesem Zusammenhang steht auch das soge-

nannte „europäische Sozialmodell“ zur Debatte bzw. der leistungsmäßige

Vergleich verschiedener einzelstaatlicher Konzepte: „superpower“ versus

superstate“ (Blair), wobei auch bei der „superpower“ unrealistische

Vorstellungen einer strategischen Überdehnung Europas mitschwingen.

Alles in allem ist die EU im Begriff, sich zu übernehmen, ohne dafür die

geistigen und politischen Grundlagen geschaffen sowie die (finanziellen)

Mittel bereitgestellt zu haben. Es handelt sich mithin in doppelter Hinsicht

um eine Erweiterung ohne Vertiefung. Unter diesen Voraussetzungen spricht

vieles für ein nochmaliges Nachdenken über Europa, das einerseits durch

den halbherzigen Ratifikationsprozess nicht vorangebracht worden ist, an-

dererseits jedoch dort, wo eine breite und heftige, ja historisch beispiellose

Verfassungsdebatte wie in Spanien und Frankreich stattfand, durchaus ei-

nen Vertiefungsschub erhalten hat. Beides muss man zusammen sehen:

Europa braucht starke Völker und starke Politiker. Populäre Politiker scha-

den der Demokratie nicht. Sie sind es, die als „Köpfe Europas“ das Gespräch

mit den Bürgern suchen müssen. Dabei sind die Bürger ihrerseits sehr wohl

zur Selbstaufklärung fähig, wenn sie sich durch Inszenierungen nicht von

den Inhalten ablenken lassen, über die sie letztlich entscheiden. Ohne die-

se Eigenhaftung funktioniert Demokratie nicht. Die direkte Demokratie „von

unten“ als Recht und Gewohnheit der Bürger und nicht als einmalige Aus-

nahme kann dabei ein Debattendefizit über das, was mit Europa politisch

gewollt ist, abbauen. Allerdings muss deren Vorbereitung und Durchfüh-

rung erst noch gelernt werden. An dieser Stelle stehen wir an einem neuen

Anfang, bei dem es darum geht, die demokratische Frage zu den europäi-

schen Bürgern zu bringen. Sie werden letztlich auch darüber entscheiden,

was als Realität und „reality check“ zu gelten hat. Die Zeit des permissiven

Konsenses in der Europapolitik ist vorbei. Für den ehemaligen Erweiterungs-

9

Le Pen sprach davon, dass Frankreich kein „türkisches Europa“ wolle. Inzwi-



schen leben 20 Millionen Muslime in Europa, das faktisch multikulturell und

multireligiös ist, was wiederum weder neu noch spezifisch modern ist.




19

Erweiterung ohne Vertiefung

kommissar Verheugen ist zwischen den Bürgern und dem Prinzip der euro-

päischen Integration eine Vertrauenskrise aufgebrochen: „Die Krise wird

nicht überall empfunden. Überhaupt nicht in den neuen Mitgliedsländern,

wenig im Süden, kaum im Norden. Es ist eine Krise, die vor allen Dingen

die Gründerstaaten erfasst hat, das alte industrielle Herzland Europas.“

10

Kerneuropa wird mithin kein „Kerneuropa“ bilden. Die Situation hat sich



mit 25 und bald 28 gleichberechtigten Mitgliedern grundlegend gewandelt.

Sie ist einerseits für eine politische Union bestandsgefährdend, eröffnet aber

andererseits auch die Chance richtungsändernder Entscheidungen und kann

damit als „Krise“ einen Wendepunkt in der europäischen Entwicklung mar-

kieren. Solche Entscheidungen – vor allem institutioneller Natur, bspw. das

Prinzip der „doppelten Mehrheit“ betreffend – sind im Verfassungsvertrag

durchaus vorgesehen. Ob sie weit genug gehen, ist eine andere Frage; aber

im Moment nicht die vordringliche.



European reality check

Der neue EU-Ratspräsident Blair forderte nichts weniger als einen „Euro-



pean reality check

11

. Dabei erhielt er Rückenwind sowohl durch die ab-



lehnenden Referenden als auch durch das große Gewicht Großbritanniens

als zweitgrößter Nettozahler in der EU. Aus britischer wie vielfach auch aus

sympathisierender osteuropäischer Sicht fehlt es der EU vor allem an Dyna-

mik und an Perspektive. Die Sozialmodelle des bisherigen Führungsduos

Deutschland-Frankreich, das mit dem Konvent noch einmal seine Hege-

monie bestätigen konnte, muten von daher als eher träge „halbstaatliche“

Veranstaltungen an, die in Bezug auf Wachstum und Beschäftigung derzeit

wenig erfolgreich sind

12

: „Was für ein Sozialmodell ist das, wenn 20 Milli-



onen Menschen arbeitslos sind, die Produktivität hinter der der USA zu-

rückfällt, wenn Indien in den Naturwissenschaften mehr Hochschulab-

solventen hervorbringt als ganz Europa, und wenn alle Indikatoren für eine

moderne Volkswirtschaft – Ausbildung, Forschung und Entwicklung, Paten-

te, IT – nach unten tendieren. (...) Unser Sozialmodell sollte darauf angelegt

sein, unsere Konkurrenzfähigkeit zu verbessern (...). Darin sollte eine mo-

derne Sozialpolitik bestehen, nicht in Regulierung und einem Kündigungs-

10

Verheugen, Günter (2005): Europa in der Krise, Köln, Kiepenheuer & Witsch,



S. 7.

11

Tony Blair bei seiner Antrittsrede vor dem Europäischen Parlament am 23. Juni



2005.

12

Großbritannien, das in den Nachkriegsjahrzehnten als „kranker Mann Europas“



galt, erreicht seit einem Jahrzehnt ein Wirtschaftswachstum von soliden 3%

und weist eine Arbeitslosenquote von lediglich 4,6% auf.




20

Heinz Kleger

schutz, der vielleicht einige Arbeitsplätze für kurze Zeit schützt – auf Kos-

ten vieler Arbeitsplätze auf längere Sicht.“

13

Demgegenüber setzte die Lissabon-Agenda auf flexiblere Arbeitsmärk-



te, offene Grenzen, stärkeren Wettbewerb sowie mehr Forschung und Ent-

wicklung in Richtung einer „Wissensgesellschaft“. Die vage Vorstellung einer

„Wissensgesellschaft“ mit ihrem wertneutralen Schlüsselbegriff der Innova-

tion scheint die Ersatzutopie der modernen Gesellschaft geworden zu sein.

14

Selbst vom stets umkämpften modernen Leitbegriff des Fortschritts hat man



sich verabschiedet, was den für die politische Theorie so wichtigen Begriff

der Reform in Mitleidenschaft zieht, bei dem es bisher immer auch um so-

zialen Ausgleich und gesellschaftliche Balancen ging. Dieser selbstlaufende

Fortschritt ist ein unaufhörlicher Wandel ohne Geschichtsbewusstsein ge-

worden, weshalb man heute schon bei weniger gravierenden Problemen

inflationär von Krisen  spricht. Die Aufklärung konnte anscheinend trotz

beständiger Beschwörung der Demokratie, was vielfach eine Leerformel

geblieben ist, keine Traditionen entwickeln, welche den notwendigen Ge-

genhalt zu einer unaufhörlichen Bewegung bilden, die den Menschen nicht

nur keine Orientierung bietet, sondern Ängste erzeugt, die wiederum die

Politik bestimmen. Der kluge Umgang mit dem beobachtbaren Fortschritt

als „evolutionistisches“ Konzept bleibt jedoch eine Aufgabe der praktischen



Vernunft; was die Demokratie der Bürger erfordert, wenn eine gerechte

Modernisierungsstrategie entstehen soll: Die Herren des common sense sind

letztlich die Bürger und Bürgerinnen Europas.

Die EU weist indes ein grundsätzliches Debattendefizit auf, das durch

den Ratifikationsprozess nur teilweise behoben worden ist. Dies ist nicht

zuletzt, so paradox es klingen mag, durch die umfassende und heftige Dis-

kussion in Frankreich geschehen. Die direktdemokratische Auseinander-

setzung der Bürger mit der Politik führt zu einer reellen Demokratie, worin

die Wirklichkeit nicht so leicht versteckt oder grob manipuliert werden kann.

Die Beispiele aus Frankreich und den Niederlanden führen aber ebenso vor

Augen, dass die „Bekenntnis-Europäer“ erst am Anfang eines Umgangs mit

transnationaler Demokratie stehen. Diese Politik wird noch zu üben sein.

Wissen und Demokratie müssen deshalb künftig vermehrt Hand in Hand

gehen. Es steht nicht nur die Arroganz von Eliten gegen die Ignoranz von

Populisten, welche beide die gleichzeitige Erweiterung und Vertiefung der

Europäischen Union verhindern. Vielmehr gibt es überall eine spezifische

Ignoranz der Arroganz, die durch die direkte Demokratie schonungslos

aufgedeckt wird. Die „Spindoktoren“ geraten an die Grenzen ihrer Macht.

13

Tony Blair am 23. Juni 2005, a.a.O.



14

Entgegen dem eigenen Selbstbild gehört Deutschland laut dem so genannten

„Innovationsanzeiger“ der EU zur Spitzengruppe.



21

Erweiterung ohne Vertiefung

Auf der anderen Seite existiert ebenso eine spezifische Arroganz der Igno-

ranz, die sich auf die Sache, um die es geht, erst gar nicht einlässt.

Natürlich kann man sich trefflich darüber streiten, ob der Verfassungs-

entwurf des Konvents, der seine Schwächen hat

15

, das Gute war, dessen



Feind nicht nur das offensichtlich Ungenügende in Gestalt des Nizza-Ver-

trags, sondern auch das vermeintlich Bessere sein kann, das sich durch die

Konkurrenzillusionen und Überbietungsdiskurse der Politik leicht erzeugen

lässt. Kern der Aufklärung ist jedenfalls, sich auf die Wirklichkeit einlassen

zu können, wozu die eigene Urteilsfähigkeit gehört: „Die Maxime, jederzeit

selbst zu denken, ist die Aufklärung“ (Kant). Für diese Aufklärung als Pro-

zess bietet die Demokratie ein Polyforum, was allerdings nicht bedeutet,

dass sie ein kampffreier Raum oder herrschaftsfreier Diskurs ist. Technokra-

tie und Populismus schaukeln sich vielmehr gegenseitig hoch und verhin-

dern das Wachstum einer komplexen Bürgerschaft, welche die Union, ihre

Länder und Regionen angesichts neuer Herausforderungen tragen könnte.

Politische Technokratie ersetzt die demokratische Auseinandersetzung durch

eine vermeintlich höhere Sachrationalität und bedeutet gewissermaßen die

systematische Entpolitisierung der Politik. Auf diese Weise hat man die

Währungsunion eingeführt und die Erweiterung betrieben, sodass die EU

mit Bulgarien, Rumänien und Kroatien bald 28 Staaten umfassen wird.

Der heutige Umgang mit Brüssel, der zu einem Bestandteil der Innenpo-

litik geworden ist, wirkt ernüchternd und provoziert Reaktionen. Der Popu-

lismus wiederum ist keine einfache Negation der Demokratie. Mit ihm muss

man sich in einer pluralistischen Demokratie des (Parteien-)Wettbewerbs

auseinander setzen, wenn man nicht unpolitisch werden will. Es gibt ver-

schiedene Varianten des Populismus, nicht nur den Rechtspopulismus. Nach

dem „Wohlstand für alle“ (Erhard) ist auch eine linke „Politik für alle“

(Lafontaine) mit wohlfahrtsstaatlichen Konzepten aus den 1970er Jahren,

wobei (Staats-) Bürgerschaft eng national verstanden wird, vor einem Popu-

lismus mit fremdenfeindlichen Untertönen nicht gefeit. Der Wohlfahrtsstaat

wird hier in nationalistischen Kategorien verteidigt. Dann spalten unter-

schiedliche Vorstellungen von Europa wie „Wohlstandsfestung Europa“

versus Europa als „Teil der freien Welt“ selbst traditionsreiche sozialdemo-

kratische und sozialistische Parteien, wie dies in Frankreich und Deutsch-

land gegenwärtig geschieht. Europa hat ein Ausländerproblem selbst zwi-

schen West- und Osteuropa. Diesbezüglich wird ebenso wie bei der Tür-

kei-Frage mit Ängsten Politik gemacht. Das Problem der gescheiterten Re-

ferenden war nicht das so genannte „angelsächsische Modell“, das Problem

war vielmehr, dass die Debatte mit Feindbildern gewonnen werden konnte.

15

Vgl. Kleger, Heinz (Hrsg.) 2004, Anm. 4




22

Heinz Kleger



Technokratie versus Populismus (was partiell identisch ist mit Elitendiskurs

versus Bevölkerungsmehrheit) ist freilich nicht der einzige Knotenpunkt in

der Diskussion um die EU. Solche spannungsgeladenen Knotenpunkte sind

nicht ohne Weiteres auflösbar, sie gehören zum „Tauziehen“ um die Be-

sonderheiten der EU. Ein weiterer Knotenpunkt, der mit der Verfassung di-

rekt angezielt werden sollte, heißt Legitimation der EU versus Utilitarismus

der einzelnen Länder. Dabei bezieht sich die Legitimationsproblematik

16

auf die Kriterien demokratischer Legitimität und Regierbarkeit, während mit



Utilitarismus die Output-Legitimation bei den nationalstaatlichen Regierun-

gen durch sichtbare Wohlfahrtseffekte gemeint ist. Die Exekutivendominanz

nationalstaatlicher und insbesondere europäischer Politik bemüht sich na-

türlich darum, klare Effekte staatlichen Handelns aufzeigen zu können, die

„objektiv ökonomisch“ und für die Bürger wahrzunehmen sind. Damit ver-

knüpft ist ein dritter Knotenpunkt, der durch die britische Offensive deutlich

geworden ist, nämlich: Institutionen der EU versus Sozialmodell. Welches

europäische Sozialmodell will und braucht man angesichts der globalen

Konkurrenz? Der britische Finanzminister und designierte Nachfolger Blairs,

Gordon Brown, glaubt nicht an ein europäisches Sozialmodell und schlägt

stattdessen „Global Europe“ vor.

17

 In dieser Vorstellung ist die europäische



Integration von der Globalisierung überholt worden. Es gilt deshalb „nach

außen“ zu schauen, das Sozialmodell ist an „globale Realitäten“ anzupas-

sen. Dabei steht aus britischer Sicht der Wettlauf mit Asien als „race to the

top“ im Vordergrund, gemessen wird an China und Indien. Es geht um ein

„vollständig anderes Modell für Wachstum“ (Brown) in Europa. Der soziale

Mehrwert hinsichtlich Löhnen und Beschäftigung darf meines Erachtens

jedoch nicht gegen politische Formen ausgespielt werden. Andererseits ist

zu prüfen, ob und inwieweit die grundlegende politische Solidarität auf

europäischer Ebene auch neue Formen sozialer Solidarität schaffen kann.

Deshalb ist die Diskussion über die verschiedenen „Varianten des Wohl-

fahrtsstaates“

18

 ebenso fortzuführen, wie weiterhin über Möglichkeiten trans-



nationaler Sozialstaatlichkeit

19

, die freilich noch in weiter Ferne liegen,



nachzudenken ist.

16

Vgl. Cheneval, Francis (Hrsg.) 2005: Legitimationsgrundlagen der Europäischen



Union, Münster, LIT.

17

Vgl. Brown, Gordon (2005): Global Europe: full-employment Europe, UK Trea-



sury Department.

18

Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver (2003): Varianten des Wohlfahrtsstaates, Frank-



furt a.M., Suhrkamp.

19

Vgl. Kaelble, Hartmut/Schmid, Günther (Hrsg.) 2004: Das europäische Sozial-



modell, Berlin, Edition Sigma.


23

Erweiterung ohne Vertiefung



Auswege aus der Ratifizierungskrise

Folgende Auswege sind vorstellbar: „Nizza plus“, Wiederholung der ge-

scheiterten Referenden, „Opting-Out“, Europa der zwei Geschwindigkei-

ten, Zweiteilung der Verfassung und Ausscheiden der Nicht-Ratifizierer.

Eine Wiederholung der Referenden ohne Änderungen in Frankreich und

den Niederlanden schließe ich hier ebenso aus wie eine Kampagne der

Kommission zur Rettung des Verfassungsentwurfs des Konvents. Die Kom-

mission befindet sich zurzeit nicht nur in einer Denkpause, sondern in einer

veritablen Führungsschwäche. Sie schweigt und entwickelt keine konstruk-

tiven Konzepte: „With friends like these, the Constitution doesn’t need

enemies“.

20

Kommissionspräsident Barroso äußerte sich bei den Jubiläumsfeier-



lichkeiten der Solidarność sogar demotivierend für die Staaten, die bereits

ratifiziert haben: „Anstatt endlos über Institutionen zu debattieren, sollten

wir das Beste aus dem machen, was wir haben.“ Barroso sprach des Weite-

ren davon, dass der Nizza-Vertrag auch mit 25 Mitgliedern erstaunlich gut

funktioniere, denn bisher sei noch keine wichtige Entscheidung blockiert

worden.


21

 In Polen war natürlich die Freude über solche Äußerungen groß,

angesichts der favorisierten Nizza-Stimmengewichte, denn Verfassungs-

fragen sind auch Machtfragen. Nicht nur einzelne Länder und Regierungs-

chefs verabschieden sich auf fragwürdige Weise von der Ratifikation der

Verfassung, auch die Kommission als Hüterin der europäischen Interessen

sagte im Herbst 2005 deutlich „Adieu“ zum Projekt und lancierte stattdessen

– als typische Kommunikationsstrategie im Geiste des Marketing – einen

„Plan D“, der für „Demokratie, Dialog und Debatte“ stehen soll, was von

einzelnen EU-Parlamentariern zum Teil scharf kritisiert wird. Jedoch: Aus

den Kreisen des EU-Parlaments, die bereits zu den wichtigsten Trägern des

Konvents gehörten, sind noch konstruktive Vorschläge zu erwarten, die

breitere politische Folgewirkungen erzielen werden. Auch die österreichische

EU-Ratspräsidentschaft verspricht immerhin eine „tiefschürfende Analyse“.

22

Wenn man schon nicht ein paneuropäisches Referendum, in dem die



Unionsbürgerschaft insgesamt an einem Tag zum Zug gekommen wäre,

durchführen wollte und konnte, so sollte man jetzt zumindest den Rati-

fizierungsprozess regelkonform zu Ende führen, um dann auf einer soliden

Basis Konsequenzen zu ziehen. Dies gebietet nicht nur der Respekt gegen-

über denjenigen Ländern und Teilen der Unionsbürgerschaft, die unter ho-

20

Der EU-Parlamentarier Johannes Voggenhuber am 22. September 2005, wäh-



rend EU-Kommissionspräsident Barroso gleichzeitig die „Illusionen“ kritisierte,

dass der Verfassungstext noch zu retten sei.

21

Vgl. Rzeczpospolita, 1. September 2005.



22

Bundeskanzler Schüssel, in: Süddeutsche Zeitung, 1. Januar 2006.




24

Heinz Kleger

hem Kostenaufwand ratifiziert haben oder noch ratifizieren möchten, es

gehört ebenfalls zum „European reality check“, der nicht ökonomisch ver-

kürzt erfolgen darf. Im Verfassungsvertrag findet sich dazu eine klare Be-

stimmung: „Die Konferenz stellt fest, dass der Europäische Rat befasst wird,

wenn nach Ablauf von zwei Jahren nach der Unterzeichnung des Vertrags

über eine Verfassung für Europa vier Fünftel der Mitgliedstaaten den ge-

nannten Vertrag ratifiziert haben und in einem Mitgliedstaat oder mehreren

Mitgliedstaaten Schwierigkeiten bei der Ratifikation aufgetreten sind.“

23

 Auf


Partner bei einer gleichberechtigten Mitbestimmung von 25 Staaten, die

mitten in einem vereinbarten Verfahren bei Schwierigkeiten abspringen oder

Grundsätze über Bord werfen, ist wenig Verlass. Dies ist dann wahrlich nur

noch eine fallweise Kooperation souveräner Staaten und keine Union mehr.

Der halbherzige Ratifikationsprozess offenbart ein Defizit an überzeugen-

der, sachlicher und verbindlicher Debatte, das durch keinen „Plan D“ auf-

gefangen werden kann.

Ende August 2005 haben mit Belgien 14 Staaten ratifiziert. Großbritan-

nien, Dänemark, Irland, Polen, Portugal, Finnland und Schweden haben

dagegen ihre Prozeduren ausgesetzt und bisher noch keine neuen Daten

genannt. In Tschechien schließlich hat man sich noch nicht entschieden,

ob ein Referendum abgehalten werden soll, obwohl 80% der Bevölkerung

es wünschen. Als im Juli 2005 endlich eine Druckfassung des Verfassungs-

vertrags in tschechischer Sprache vorlag, war die Auflage binnen Kurzem

vergriffen. Ein breites politisches Interesse ist vorhanden, doch gibt es auch

hier einen deutlich negativen Einfluss nach dem 29. Mai 2005.

Die Schwierigkeiten türmen sich zusammen mit anderen großen Projek-

ten auf, die mit der EU verbunden sind. Insbesondere die Überlagerung der

Verfassungsfrage mit der Türkei-Debatte, die in Wirklichkeit nichts mit-

einander zu tun haben, wirkt sich verhängnisvoll aus. Darüber hinaus fes-

selt die französische Ablehnung alle, denn Frankreich ist kein Sonderfall

wie Großbritannien, sondern Ausgangs- und Ideenmittelpunkt der europä-

ischen Integration. Kumulativ entsteht darüber hinaus die neue Problematik

einer Gewichtung der Stimmen, da die teilweise große Zustimmung nicht

voranschreiten kann und darf. Dort, wo zumeist mit überwältigender Mehr-

heit trotz Parteienkonkurrenz parlamentarisch ratifiziert wurde, fragen sich

zudem viele Bürger, warum sie bei einer so grundsätzlichen Frage, die alle

betrifft, nicht abstimmen konnten. Diese Frage wiederum führt unabweis-

bar dazu, dass die direkte Demokratie auf nationaler wie transnationaler

europäischer Ebene immer mehr auf die Tagesordnung kommt. Dies kann

man beklagen und problematisch finden, wenn man direkte Demokratie

23

Erklärung zur Ratifikation des Vertrags über eine Verfassung für Europa (2005),



in: Vertrag über eine Verfassung für Europa, Luxemburg, S. 472.


25

Erweiterung ohne Vertiefung

mit Populismusanfälligkeit und Populismus mit der Produktion von Feind-

bildern kurzschließt. Andererseits könnte auch ein paneuropäisches Refe-

rendum nach Modifikationen des Verfassungsentwurfs daran anknüpfen.

Allerdings haben (Volks-)Initiativen dazu noch „keinen Ort“, das heißt, sie

sind buchstäblich utopisch. Indes: Vieles, was gestern noch utopisch war,

ist heute Realität.



Verfassung als Prozess

Wie man in der politischen Theorie analysiert und bewertet, hängt von den

Erwartungen ab, die man hegt. Was erwarten wir von einer europäischen

Verfassung? Das heißt zum einen: Welche Erwartungen richtet der Ver-

fassungsentwurf an sich selbst? Und zum anderen: Schafft er Grundlagen

für die Einlösung seiner normativen Erwartungen? Die Fragen von Laeken,

der Konvent sowie der Konventsentwurf, sofern man ihn an den richtigen

Fragen von Laeken Ende 2001 misst, sind Fortschritte gewesen – bei allen

berechtigten Kritikpunkten vor allem an Teil III

24

, der eigentlich nicht in



eine Verfassung gehört. Widersprüche und unbefriedigende Kompromisse

sind unvermeidlich, wenn verschiedene politische Akteure, die konsensual

arbeiten müssen, ins Spiel kommen, was seit Ende der 1990er Jahre der Fall

ist. Überraschender sind dagegen doch die „gefundenen“ historischen und

systematischen Kompromisse, wie sie im Verfassungsentwurf durchschau-

bar werden und mit denen auf eine transparente Weise umgegangen wer-

den kann.

Die Ratifizierungskrise liegt weder am Konvent noch am Konvents-

entwurf, der immerhin für die Abstimmung im Rat reif war, sondern an den

ungünstigen innenpolitischen Umständen in Frankreich, den Niederlanden

sowie anderen Ländern und ihren Regierungen, die nicht nur sich selbst

überschätzt haben, sondern auch nicht in der Lage waren, den unter den

gegebenen Umständen optimalen Entwurf klar und überzeugend zu vertre-

ten. Nicht das „Nein“ der Bürger ist für die vorübergehende Panne oder

tiefergehende Krise verantwortlich. Dort, wo das „Nein“ im Rahmen einer

demokratischen Auseinandersetzung zustande gekommen ist, wird es sogar

einen nachhaltigen Effekt für die Zukunft haben, die es politisch ohnehin

nur mit mehr direkter Demokratie und Bürgergesellschaft geben wird. Nizza

und „Nizza plus“ funktionieren zwar auch, sie werden jedoch im weiteren

europapolitischen Prozess nicht dazu führen, die „implizite Verfassung“ der

EU zu einer expliziten „europäischen Verfassung“ werden zu lassen, wel-

che orientierend und legitimitätsstiftend zugleich wirken kann. Eine solche

24

Teil III nimmt die Artikel der bereits bestehenden Verträge auf und präzisiert



die Politikbereiche und Arbeitsweise der EU.


26

Heinz Kleger

Verfassung wird von der Mehrheit der Bürger nach wie vor gewünscht: Es

wäre eine EU-Verfassung für die Bürger und nicht für die Regierungen. Sol-

che komplexen Prozesse brauchen allerdings Zeit. Auch der Konventsentwurf

war natürlich „nur“ ein Entwurf, der erst einmal diskutiert werden muss.

Das ist sein Paradox.

Zu unserem Verfassungsverständnis kommt die möglichst breite Diskus-

sion der direktdemokratischen Legitimation hinzu. Nur so kann den Bür-

gern als Mitentscheidern diese zusätzliche Ebene letztlich wirklich näher

gebracht werden. Diese Ebene ist die Supranationalität, die einher geht mit

einer erweiterten politischen Solidarität und einer erweiterten Demokratie.

Die deliberative Konventsarbeit unter Einbezug einer größeren Öffentlich-

keit, welche die Logik der Regierungskonferenzen durchbrach, bedeutete

in diesen drei wesentlichen Hinsichten einen Fortschritt, welcher eine re-

flektierte Forcierung des Integrationsprozesses darstellt, der die EU mit neuem

demokratischen Leben erfüllt. Sowohl die Stärkung des europäischen Par-

laments als auch die Verbesserung der Beziehungen zwischen den nationa-

len Parlamenten und dem EU-Parlament sowie ein vorsichtiger Einstieg in

die direkte Demokratie sind vorgesehen. Daran gilt es festzuhalten. 2009

könnte dann ein paneuropäisches Referendum über die wirklich grundle-

genden Verfassungsfragen der Union durchgeführt werden.



Das Karolingische Reich um 800

Document Outline

  • Erweiterung ohne Vertiefung : Vom Konvent zur Ratifizierungskrise
    • Das spanische Referendum als Auftakt
    • L’Europe sociale versus L’Europe libérale
    • Krise! Welche Krise?
    • European reality check
    • Auswege aus der Ratifizierungskrise
    • Verfassung als Prozess

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