der Grund, das Prinzip von Allem (wir hatten ja auch vorhin schon vom sichersten Prinzip,
dem Einheitsprinzip im Unterschied zum Widerspruchsverbot gehört).
Das bedeutet aber nun auch für den Geist, dass er dem Einen entspringt, dass er sein
Sein sich nicht selbst verdankt, sondern eben dem übergeordneten Prinzip des Einen. Das
widerspricht nicht nur dem modernen Denken, das den Geist, die mens, den mind, aus
sich selbst begründet (bei Descartes ist das nicht so klar, wie oft behauptet, aber dann z.B.
bei Kant und Husserl und erstrecht aktuell), sondern es widerspricht auch z.B. dem
Aristoteles. Der hatte ja gerade das höchste Seiende, das Göttliche, als νόησις νοήσεως
bezeichnet. Die Einheit dieses höchsten Seienden kann natürlich nur von sich selbst
herstammen. Es gibt für Aristoteles nichts mehr, das noch über dem Göttlichen Geist
stehen könnte.
Das ist bei Plotin anders. Warum? Schauen wir uns noch einmal das Denken an. Plotin
sagt in der schon erwähnten Enneade V 3 (Die erkennenden Wesenheiten): „Es muß
demnach das Denkende, wenn es denkt, in der Zweiheit sein, das Denken muß sich
immer in der Andersheit befinden und dabei doch auch notwendig in der Selbigkeit; und
das, was im echten Sinne gedacht wird, muß im Verhältnis zum Geiste sowohl ein
selbiges sein wie ein anderes. Aber auch jedes einzelne der gedachten Ding enthält
dieses Miteinander von Selbigkeit und Andersheit begrifflich in sich; was sollte das
Denkende denken, das nicht die Scheidung zwischen Einem und Andern enthielte? Auch
wenn das Einzelne logisch ist (also eine vernünftige Form hat), ist es ja Vielheit. So erfaßt
es sich selber dadurch, daß es ein bunt differenziertes Auge bunter Farben ist.“ Das
Denken hat es immer mit Andersheit, Vielheit zu tun, die es in Einem vereint, die es
synthetisch erfasst und versammelt. Oder auch andersherum: es löst das mit sich selbst
Identische in eine Vielheit auf, weil es selbst schon diese Differenzierung von Einheit und
Vielheit, d.h. eben eine Vielheit, in sich selbst hat.
Denken ist demnach immer eine Vielheit, eine Andersheit. Das ist auch nötig, sagt Plotin,
denn das Erfassen des Seienden und das Erfassen von sich selbst verlangt diese Vielheit
und Andersheit oder führt zur Entzweiung. Wäre es nicht diese Vielheit, hätte das Denken
nicht diese Andersheit in sich, wäre es nicht Entzweiung, könnte es im Grunde gar nichts
erfassen, es wäre dann, sagt Plotin, wie ein „Berühren, gleichsam ein reines Anfassen,
das nichts sagt und nichts denkt, dem Denken vorhergehend, bevor noch der Geist
entstanden“ sei „ohne dass das Berührende denkt“. Ein interessanter Gedanke, der uns
an das tierische Denken erinnert. Ist nicht dieses so etwas wie ein reines Berühren, das
nichts sagt und nichts denkt, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass das Tier sich
Unterschiede vernünftig bewusst machte.
Wenn das Denken aber diese Vielheit und Andersheit ist, in sich selbst stets es mit
Unterschieden und Unterscheidungen zu tun hat, dann fehlt ihm selbst das Eine und die
Einheit bzw. es muss diese immer schon voraussetzen bzw. es findet sie immer schon
vorausgesetzt. Ja, die Kraft und Fähigkeit zur Vereinigung, zur Synthesis, hat das Denken
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nicht von sich her, sondern von dieser Einheitstiftenden Macht des Einen. Es ist das Eine,
das demnach alle Differenzierung erst ermöglicht und alles Differente in sich
zusammenfasst. Voraussetzen muss das Denken das Eine, indem das Eine ihm - stets in
Ewigkeit gedacht und nicht in temporalen Verhältnissen - vorangeht.
Dieses Eine, das hatten wir ja schon gehört, ist das absolut Transzendente, das absolut
Jenseitige, das sich jeder Bestimmung entzieht. Es ist demnach so, dass die Konstitution
des Geistes und des Denkens auf etwas bezogen wird, das nicht selber schon im Denken
und als Denken anwesend ist. Das Eine ist eben der Ursprung von Allem und demnach
auch des Denkens.
Das aber, und damit schließe ich für heute, meint nicht, dass das Eine selbst das Denken
schafft oder erzeugt. In der Enneade VI 7 (Wie kam die Vielheit der Ideen zustande?) zeigt
Plotin, dass das Eine zwar der Ursprung von Allem und so auch des Geistes sei, doch
dem Geist bleibt dennoch die Aufgabe, die Gegenstände seines Denkens selber
hervorzubringen. Die Gegenstände des Denkens, die Ideen, sind demnach nicht im Einen
selbst. Das Eine gibt dem Geist eine δύναμις, ein Vermögen, eine Kraft, die Gegenstände
des Denkens und d.h. dann auch sich selbst zu konstituieren. Plotin kann aber nicht
umhin, diese Selbstkonstitution des Denkens als eine Art von Abfall vom Einen zu
verstehen. „Sondern aus dem Einen, das Jenes ist, wurde für ihn Vieles; denn da er das
Vermögen, das er bekam, nicht zu bewahren vermochte, zerbrach er es machte aus dem
Einheitlichen eine Vielheit, damit er so der Reihe nach die Dinge aufzunehmen
vermöchte.“ Die Herkunft aber dieses Vermögen und das Vermögen selber als solches ist
gut.
Wir halten also fest, dass Plotin den Ursprung von Allem nicht so denkt, als sei Alles, wie
es ist, schon in diesem Ursprung. Das geht ja auch nicht, da der Ursprung absolut Einer
ist. Es ist vielmehr so, dass in dem Hervorgang des Vielen aus diesem Einen einerseits
eine Notwendigkeit liegt, denn das Denken hat es eben stets mit dem Vielen zu tun, ist
selber ja schon Entzweiung und damit eine Vielheit, andererseits aber fließt in den
Hervorgang ein Verlust ein, der sich dann vor allem in der Materie, d.h. in dem äußeren
stofflichen Sein zeigt, mit dem der Mensch es zu tun hat. Alles, was diesseits des Einen
ist, ist irgendwie mangelhaft.
Das wird uns zuletzt auf die Frage führen, warum denn das Eine überhaupt hat aus sich
herausgehen müssen. Das ist vielleicht dann überhaupt die metaphysische Frage
schlechthin. Knapp 1200 Jahre später hat das Leibniz in den „Principes de la Nature et de
la Grace fondés en Raison“ auf den Punkt gebracht. Er spricht dort im 7. Kapitel über das
„Grand principe“, „que rien ne se fait sans raison suffisante“. Dann sagt er weiter: „Ce
principe posé: la première question qu’on a droit de faire, sera, pourquoi il y a plus tȏt
quelque chose que rien“. Ist dieses Prinzip vom zureichenden Grund aufgestellt, so wird
die erste Frage, die man mit Recht stellt, die sein: warum gibt es eher Etwas als Nichts.
Das ist die metaphysische Frage schlechthin, auf die wir auch hier in der Beschäftigung
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