Hans J. Wulff Emotionen, Affekte, Stimmungen: Affektivität als Element der Filmrezeption. Oder: Im Kino gewesen, geweint (gelacht, gegruselt ) wie es sich gehört!



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warteten und des Erlebten. Erfüllt ein Film die ver-

sprochene Emotion nicht, wird er als „enttäuschend“ 

qualifiziert. Darum sind Rezeptionserwartungen so 

bedeutsam für das Gelingen einer auch „affektiv er-

füllten“ Rezeption.

2.2 Rezeptive oder aktualgenetische Emotionen

Es wird in aller Regel erwartet, daß ein Film die 

ganze Zeitstrecke hindurch den einmal angeschlage-

nen emotionalen Tonfall (das emotionale Register

beibehält. Ein Thriller ist nicht für kurze Zeit Thril-

ler, sondern für die ganze Zeit. Interessant sind dar-

um Registerwechsel. Wenn also in Film als Komödie 

anfängt und dann zur Tragödie mutiert (wie Ken 

Loachs My Name Is Joe, Großbritannien 1998), 

wenn er als komödiantisches Road-Movie anhebt 

und sich dann zur allegorischen Geschichte über das 

Sterben wandelt (wie Children of Nature, BRD/Is-

land/Norwegen 1991, Friðrik Þór Friðriksson), dann 

wird eine einmal angelegte „emotionale Bahnung“ 

gebrochen, es erscheint nötig, die eigene Einstellung 

und das damit einhergehende emotionale Geschehen 

neu auszutarieren. Gerade Registerwechsel machen 

greifbar, daß auch in der Aktualgenese von Filmen 

der Zuschauer als kontrollierendes und evaluieren-

des Wesen aktiv beteiligt ist. Eine wie große Rolle 

das emotionale Register spielt, ist ablesbar an „un-

terbrochenen Rezeptionen“ (mittels Video oder 

DVD) - weil der Zuschauer offenbar das einmal ge-

setzte Register in Erinnerung behält und sich schnell 

wieder darauf einstellen kann, wenn die Besichti-

gung fortgesetzt wird.

Für die Aktualgenese im engeren Sinne gilt, daß die 

Ausbreitung von Emotionen episodal gegliedert ist. 

Man ist nicht in der ganzen Zeit der Rezeption in ei-

nem einzigen emotionalen Zustand, sondern nimmt 

immer wieder neue emotionale Entwicklungen auf. 

Das hat zum einen mit der Bezugsgröße der Szene zu 

tun - Szenen sind solche Einheiten der Erzählung, 

die funktional dazu dienen, eine einzelne Emotions-

episode zu stimulieren (das Modell der „Emotions-

episode“ verdanke ich Frijda 1993). Das hat zum 

zweiten mit einer dramaturgischen Rhythmik der in-

duzierten Emotionen zu tun. Die Kurve der emotio-

nalen Erregungen ist also nicht einsträngig, sondern 

bildet ein Sägezahnmuster aus, in dem die einzelnen 

Episoden die Spitzen der Sägezähne ausmachen. Oft 

gehört es zur Dramaturgie, Emotionen mit Kontere-



motionen auszugleichen. Darauf beruht die Stragie 

der komischen Zwischenspiele (comic reliefs), die 

nach einer „schweren“ eine „leichte“ Episode setzt, 

dem „schweren“ ein entsprechend „leichtes“ Gefühl 

entgegenzustellen. Von großer Bedeutung sind die 

Genres, die jeweils eigene Muster der emotionalen 

Erregung umfassen (dem will ich aber hier nicht 

weiter nachgehen).

Zur aktualgenetischen Aneignung der angebotenen 

Emotionen gehört eine metarezeptive Einstellung, 

die dafür sorgen kann, daß sich ein Zuschauer wei-

gert, sich auf die Emotion einzulassen (wie wohl in 



Titanic, USA 1997, James Cameron, vielfach zu be-

obachten war); der Zuschauer kann also ein angebo-

tenes Gefühl blockieren, was sich manchmal als ei-

gene Aktivität äußert. Insbesondere das befreiende 

Lachen scheint genauerer Beobachtung wert. Der 

Zuschauer ist dem Film also nicht hilflos ausgelie-

fert, er reagiert nicht wie ein Pawlowscher Hund, 

sondern moderiert die eigene emotionale Empfäng-

lichkeit, er kontrolliert, welche Emotionen zulässig 

sind und welche abgewehrt, unterdrückt oder umde-

finiert werden müssen. Zwar scheint es normal zu 

sein, sich dem emotionalen Strom eines Films aus-

zuliefern, doch zeigen Blockierungen, Maskierungen 

und Umdefinitionen, daß Zuschauerbewußtsein nicht 

ausgeschaltet ist, sondern im Bedarfsfall jederzeit 

aktiviert werden kann.

Emotionale Aktualgenesen im Kino sind nicht rein 

individuell, sondern finden in einem kollektiven 



Raum statt. Der Zuschauer ist nicht isoliert, sondern 

nimmt die Realität des Zuschauersaals als normales 

Environment wahr, bekommt also auch die Reaktio-

nen der anderen mit. Gelächter, Schluchzen, Unruhe, 

Schock und Schreck, allgemeine Heiterkeit breiten 

sich aus und sind dem einzelnen sozialer Rahmen 

für eigenes emotionales Erleben. Das rezipierende 

Subjekt erfährt sich selbst im Spiegel des umgeben-

den Kollektivs, so daß Emotionalität hier in einem 

zweiten Prozeß evaluiert wird. Dazu kann es auch zu 

Nichtübereinstimmungen kommen - eigene Empö-

rung steht allgemeiner Belustigung entgegen, eigene 

Emotion wird als isoliert und nicht kollektivisiert 

wahrgenommen etc.



2.3 Postrezeptive Emotionen und Emotionserin-

nerungen

Nach dem Film kann im Gespräch schnell die Liste 

der Szenen geöffnet werden, die als emotional be-



sonders eindrücklich erfahren wurden. Es scheint 

eine ausgesprochen genaue Emotionserinnerung zu 

geben. Hier ist nicht Geschmacksurteil Gegenstand 

des Gesprächs, sondern das Festhalten eigener Ange-

rührtheit. Gelegentlich wird im Gespräch von sol-

chen Szenen ausgegangen und dargelegt, warum 

derartige Szenen eindrücklich sind, was in ihnen zur 

Sprache kommt, was sie eindrücklich macht etc. Das 

Gespräch dient also der Evaluation der eigenen emo-

tionalen Beteiligung am Film. Gleiches gilt im übri-

gen - filmbezogen - für die Besprechung von Sze-

nen, die man „empörend“ oder „unglaubwürdig“ 

fand oder die - publikumsbezogen - von anderen als 

„lustig“ oder „spannend“ aufgefaßt wurden, ohne 

daß man dieses Urteil teilte.

Nach dem Abschluß der Rezeption stellt sich eine 



resultative Emotion ein, die sich sowohl aus dem er-

folgten mood management wie aber auch als Summe 

der einzelnen Emotions-Episoden verstehen läßt 

(oder als Resultat von beidem).

Von besonderer Art sind moralische Emotionen, die 

schon während der Aktualgenese auftreten können, 

die meist aber erst nach dem Film formuliert und 

klarer gefaßt werden. Damit wird die Grenze der 

Fiktionalität aufgebrochen, der Film (sein Inhalt, die 

Handlung und ihre Konflikte, die Figuren-Konstella-

tion usw.) wird auf die Realität des Zuschauers zu-

rückbezogen. Dies kann durch Aktualisierung ge-

schehen, dann ist das moralische Urteil, das der Film 

angestoßen hat, von aktueller Geltung; dies kann 

durch Historisierung geschehen, dann wird die mög-

liche Welt des Films auf Distanz zur Lebenswelt des 

Zuschauers gesetzt; dies kann durch Derealisierung 

geschehen, dann wird dem Film eine Äquivalenz zur 

Realität abgesprochen. Im Extremfall richtet sich 

moralische Emotion nicht mehr auf den Film, son-

dern auf den Zuschauer und seine Rolle als Subjekt 

in der Welt selbst. Dies ist zum einen eine Utopie der 

Propaganda, ist aber auch bei manchen Sujets wie 

Krieg (wie z.B. bei manchen Antikriegsfilmen), ras-

sistischen Darstellungen (oder antirassistischen Fil-

men) und ähnlichem erkennbar.



2.4 Aktualgenese der Affekte

Wie werden Affekte realisiert? Ein vollständiger Af-

fekt ist bestimmt zum einen durch einen Gegen-

stand, der Objekt des Affektes, Anlaß der affektuell-

emotiven Reaktion und Steuermittel derselben dar-

stellte, zum anderen durch die Reihe der Gemütsbe-

wegungen auf jenen Gegenstand zu - seine Auswahl 

aus dem Gegenstandsfeld, seine Konstitution als Ob-

jekt der Aufmerksamkeit, seine Ausrichtung in den 

Affekt-Erwartungen und -Bedürfnissen, den Beginn 

der Aneignungstätigkeit selbst. Er steht nicht fest, 

sondern wird an die Vorgaben des Gegenstandes an-

geschmiegt ebenso wie an die Konditionen, die das 

Subjekt einbringt. 

Affekte resultieren gelegentlich in physiologischen 

Reaktionen, manchmal in Handlungen (Weinen, Ab-

wendungen, Lachen, Verbergen des Gesichtes etc.). 

Affekte sind Beziehungen des Subjekts zum Objekt 

der Aneignung, darum umfaßt der affektive Prozeß 

natürlich die Veränderung der inneren Haltung, der 

Einstellung und Beziehung zum Geschehen. Emotio-

nen sind nun solche Gefühlszustände und Verände-

rungen von Zuständen, die am Subjekt auftreten, 

vom Subjekt wahrgenommen werden und erkennbar 

mit dem rezipierten Inhalt korrespondieren.

Die vollständige Definition von Emotion muß (1) 



neurale, (2) expressive und (3) erlebnishafte Kom-

ponenten berücksichtigen (so auch Izard 1981, 34f). 

Greg Smith nimmt Emotionen als multidimensionale 

Antwort-Syndrome (1999, 107); sie gliedern sich in 

sechs Subsysteme: (1) Gesichtsnerven und -mus-

keln; (2) Vokalisierung - Variation der Stimme; (3) 

Körperhaltung, Körpermuskeln; (4) autonomes (ve-

getatives) Nervensystem; (5) bewußte Kognition; (6) 

unbewußte Verarbeitung durch das vegetative Ner-

vensystem (1999, 107; dazu: Anm. 10). All diese 

Überlegungen deuten darauf hin, daß emotionales 

Erleben die Gesamtheit der Aneignungs-Ebenen des 

Zuschauers beschäftigt. Kognition steht den emotio-

nalen Prozessen nicht entgegen oder ist unabhängig 

von diesen, sondern bildet einen wesentlichen An-

teil. Darum steht es auch zu vermuten, daß alle Ebe-

nen der Textaneignung am Zustandekommen emo-

tionaler Zustände oder Prozesse beteiligt sind:

(1) Textverarbeitung im engeren Sinne als kognitive 

Tätigkeit,

(2) die Zuordnung von (emotionalen und morali-

schen) Bewertungen,

(3) die Empathie als Rekonstitution der inneren 

Handlungswelt der abgebildeten Figuren sowie

(4) die moralische Evaluation von Handlungen, Zu-

staänden und Ereignissen.

Diesem Verarbeitungskomplex ist ein ganzes En-

semble von Prozessen zugeordnet, die auf die darun-

ter liegende Aneignung des Textes hindeuten und die 



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