Hans J. Wulff
Emotionen, Affekte, Stimmungen: Affektivität als Element der
Filmrezeption. Oder: Im Kino gewesen, geweint (gelacht, gegruselt...) - wie
es sich gehört!
[Für Thomas Koebner zum Geburtstag]
Eine erste Fassung dieses Artikels erschien in: Mit allen Sinnen. Gefühl und Empfindung im Kino. [Festschrift für
Thomas Koebner zum 65.] Hrsg. v. Susanne Marschall u. Fabienne Liptay. Marburg: Schüren 2006, S. 17-31.
Bibliographische Angabe dieser Online-Fassung: http://www.derwulff.de/2-134.
1. Affekt und Kinorezeption
1.1 Affekt und Denken
1.2 Affekte als intentionale Horizonte des Dramaturgi-
schen
1.3 Kino-Affekte und wissenschaftliche Emotions-Psy-
chologie
2. Affektive Dimensionen
der Rezeption
2.1 Prärezeptive Emotionen
2.2 Rezeptive oder aktualgenetische Emotionen
2.3 Postrezeptive Emotionen und Emotionserinnerungen
2.4 Aktualgenese der Affekte
3. Affektmanagement, Mood Management
4. Spezifikation und Operationalisierung
4.1 Epistemische Aspekte des Affektivischen
4.2 Affektivische Operationen
4.3 Die Affektivität der Genres
5. Summa
1. Affekt und Kinorezeption
Ein Affekt ist die Ausrichtung eines Subjekts auf ein
Objekt. Das unterscheidet die Affekte von den Emo-
tionen, Gefühlen, Stimmungen usw.: Sie sind relatio-
nale Tatsachen, bedürfen eines Gegenstandes, auf
den sie gerichtet sind. Affekte begründen sich in der
grundsätzlichen Gerichtetheit menschlichen Be-
wußtseins.
Diese Vorklärung ist wichtig, weil sie die affektuelle
Orientierung des Textverstehens unterscheidet von
diffusen Gefühlen, die durch die Rezeption angeregt
oder verstärkt sein mögen. Ein Blick in die Wörter-
bücher zeigt, daß die Rede vom Affekt durchaus
nicht eindeutig bestimmt ist. Außerdem wird schnell
deutlich, daß die Beschreibung von Affekten mit
verschiedenen anderen Konzepten und Vorstellungen
von der Struktur des Gemüts- und Handlungslebens
verbunden ist, mit Motivationen, Einstellungen, Be-
dürfniskonzepten etc. Es soll darauf geachtet wer-
den, die ganzheitliche Verklammerung der Affekte
mit den anderen Tatsachen des Denkens, Fühlens,
Wollens und Handelns nicht aufzulösen, es bildet
eine Einheit der Erkenntnistätigkeiten und ein kom-
plexes Zugleich verschiedener intentionaler Orien-
tierungen. Daß es schwer ist, diese Ganzheit einer-
seits zu achten und zu beachten, auf der anderen Sei-
te aber analytisch das Phänomen der Aneignung im
weiten Sinne zu zergliedern und in einzelne Facetten
und Teiltätigkeiten aufzusplittern, ist unmittelbar
einsichtig.
1.1 Affekt und Denken
Wahrigs Wörterbuch gibt heftige Gemütsbewegung
als erste Bestimmung von „Affekt“, und eine „Af-
fekthandlung“ ist eine Handlung, die ausschließlich
aus einem Affekt heraus begangen wird, eine unbe-
dachte und unbesonnene Handlung, für die der Täter
keine wirkliche Verantwortung trägt. Wer sich dem
Affekt hingibt, läßt die Verhaltens-, Persönlichkeits-
und Realitätskontrolle zurücktreten, hieße das. Der
Affekt stünde dem Denken gegenüber. Der Affekt ist
unbesonnen, er plant nicht, er ist blind für die Di-
mension der Wirkung der Verantwortung. Er ist „un-
bedacht“, steht dem Prinzip der Rationalität gegen-
über. Die Gegenüberstellung von „Affekt“ und „Ra-
tio“ des Deutschen kennt das Englische in dieser
Schärfe nicht - hier ist es die Beeinflussung und Be-
ziehung zweier Objekte, die als „affect“ ausgedrückt
wird. Dazu rechnen auch die Formen der affection -
solche Bindungen an Objekte, die mit Gefühl, mit
Wunschenergien usw. aufgeladen sind.
Viele nehmen Affekte als etwas, das Emotionen ähn-
lich ist. Nach allgemeinem wissenschaftlichen Ver-
ständnis sind Emotionen jene psychischen Erregun-
gen, die subjektiv und zugleich „als subjektiv“ wahr-
genommen werden. Eine Emotion ist eine Erregung,
die denjenigen erfaßt, der das Gefühl hat. Und der
gleichzeitig empfindet, dass er dieses Gefühl hat.
Emotionen sind in dieser Hinsicht reflexiv, selbstbe-
spiegelnd, selbst-gewiß. Man kann Emotionen vor-
spielen, indem man Ausdrucksgesten nutzt, die ge-
meinhin als Ausdruck emotionaler Angerührtheit
dienen. Aber man kann Emotionen nicht „haben“,
indem man sie vorspiegelt. Man kann sie nur haben,
wenn man sie hat. Die Objektbindung der Affekte
haben sie aber jeden Falls.
1.2 Affekte als intentionale Horizonte des Drama-
turgischen
Nun sind Emotionen, die Rezeptionen begleiten, oft
durchsichtig. Gerade in trivialen Erzählformen ist
absehbar und durchsichtig, dass Formeln eingesetzt
werden, die Zuschauer-Emotionen auslösen sollen.
Setzt man sich ihnen aus, „hat“ man sie. Aber sie
stellt sich nicht automatisch ein. Und sie treten nicht
zwangsläufig auf. Erkennt man die Formel, weiß
man, dass eine besondere Gefühlslage des Zuschau-
ers den intentionalen Horizont des Textes bildet.
Man erkennt das „angestrebte Gefühl“, ohne sich
ihm ausliefern zu müssen. Man sieht, worauf die je-
weilige Szene hinauslaufen soll, ohne sich dem ak-
tualgenetisch hingeben zu müssen.
Kino-Emotionen lassen sich auf Film-Emotionen zu-
rückführen. Gefühl findet in den tatsächlichen Re-
zeptionen im Kino statt. Aber es hat seine Grundla-
gen in Darstellungsstrategien der Filme, ist den Fil-
men zugeordnet, durch sie induziert und angeregt.
Für den Filmwissenschaftler dreht sich die Perspek-
tive am Ende um - sein Gegenstand sind Textdrama-
turgien, die er als affektive Steuerungsstrategien dar-
zustellen versucht. Es geht nicht um Emotionsdar-
stellung, das ist ein anderes Thema und ein anderes
Problem. Es geht um Zuschauer-Emotionen, die auf
filmischen Strukturen basieren, die auf diese antwor-
ten, sie reflektieren oder durch sie verursacht wer-
den. Im Erleben von Zuschauern spiegelt sich die
Geltung von Darstellungsmitteln, die nicht primär
auf Informationsvermittlung ausgerichtet, sondern
die dem Zuschauererleben zugeordnet sind (dagegen
Brewer/Lichtenstein 1982, die eine enge Koordinati-
on behaupten).
Nochmals die These: Filme sind auf die emotionalen
Aneignungsprozesse von Zuschauern ausgerichtet,
diese bilden ihren intentionalen Horizont. Zuschau-
er-Emotionen korrespondieren dramaturgischen Mit-
teln, die selbst konventioneller, stereotyper oder seri-
eller Natur und darum durchsichtig sind. Der drama-
turgischen Wendung im Text ist eine intendierte
Emotionalität des Zuschauers korreliert, die eine so-
lidarische Funktion des Textes ist und als formal be-
stimmter, inhaltlich offener Korrespondent des Tex-
tes diesem wesenhaft zugehört. So, wie die Rücksei-
te eines Gegenstandes im Bewusstsein des Wahrneh-
menden konstituiert wird - formal anwesend, inhalt-
lich unbestimmt und nur auf Grund eines Schlusses
konkretisierbar -, ist einer „spannenden Szene“ das
Gefühl der Spannung, einem melancholischen Ereig-
nis auf der Leinwand eine sentimentalische Regung
des Zuschauers koordiniert.
So sehr und so notwendig affektive Reaktionen dem
Dargestellten oder der Darstellung zugeordnet sind,
so wenig ist die Reaktion determiniert. Man kann
nun den „angestrebten Emotionen“ gegenüber skep-
tisch sein, hatte ich oben schon behauptet, und man
aktualisiert dann nur eine der beiden Komponenten
der Emotion (Ergriffenheit und Bewußtheit). Das
hängt damit zusammen, dass die kommunikative Ba-
sis der Emotionen im Kino hochgradig bewusst ist
(zum Zusammenhang mit ästhetischer Distanz vgl.
Andringa 1996) - Emotionen in den Prozessen der
Textaneignung sind kommunikative Effekte. Das un-
terscheidet sie von Emotionen im Alltagsleben.
Erzählungen (aber nicht nur diese) sind darauf aus-
gerichtet, gewisse Zuschauer-Emotionen zu erzielen.
Dazu komponieren Filme und andere Medien der
Mitteilung das Material nach oft durchsichtigen
Strategien. Souveränität und Kompetenz im Umgang
mit Medien äußert sich auch darin, derartige Muster
der Erzählung und Inszenierung zu erkennen. Man
muß sich der „angestrebten Emotion“ nicht ausset-
zen, sie muß sich nicht aktualgenetisch ausbreiten.
Dennoch ist die Emotion damit nicht unterdrückt
oder verdrängt - auch wenn sie nur formal erschlos-
sen wird, wird der Text um den Horizont des Zu-
schauer-Emotionalen erweitert.
Jene Fälle, in denen ein Zuschauer die „angestrebte
Emotion“ erkennt, sie aber aktualgenetisch nicht
„hat“, will ich „sekundäre Emotionalität“ nennen.
Filme sind „Emotionsmaschinen“, um den Titel ei-
ner wichtigen Untersuchung von Ed Tan zu para-
phrasieren. Aber sie sind keine determinierenden
Maschinen, haben den Zuschauer nicht unter Kon-
trolle und entmündigen ihn nicht. Das hängt mit der
Doppelgesichtigkeit des Emotionalen im Kino zu-
sammen. Ich werde darauf zurückkommen.