1.3 Kino-Affekte und wissenschaftliche Emotions-
Psychologie
Gegenüber dieser These verhält sich die Psychologie
der emotionalen Prozesse eher zurückhaltend. Izard
(1981) geht wie die meisten anderen Emotionspsy-
chologen auch von zehn primären Emotionen aus,
die angeboren sind und zur biologischen Ausstattung
des Menschen zählen: Interesse, Freude, Überra-
schung, Kummer, Zorn, Ehre, Geringschätzung,
Furcht, Scham und Schuldgefühl (Kleinginna/Klein-
ginna 1981 haben 92 Definitionen des Emotionsbe-
griffs zusammengetragen). Alle anderen Emotionen
sind sekundär und setzen sich aus primären Emotio-
nen zusammen. Emotionen schließen die Konstrukte
Aktiviertheit, Aufmerksamkeit und Involvement ein.
Eine Emotion enthält immer die Interpretation eines
Sachverhalts. Emotionen werden teilweise bewußt
vom Subjekt wahrgenommen, sind also Bewußt-
seinstatsachen. Sie sind aber oft als innere Bilder ge-
geben, als visuelle Vorstellungen, manchmal auch
nur als allgemeine Stimmungen, die nicht, nur sehr
schwer oder in Umschreibung verbalisiert werden
können. Emotionen wird vor allem eine Antriebs-
funktion zugeordnet, sind also funktional weniger als
Reaktionen, sondern vielmehr als Bahnungen von
Erlebnissen zu bestimmen. Vom Kinoerlebnis ist
nicht die Rede - und es liegt die Vermutung nahe,
hier einige fundamentale Differenzen zur Realität
der Emotionen im Alltagsleben anzunehmen.
Die Besonderheit der Emotionen im Kino ist auch in
den wissenschaftlichen Überlegungen zur Einstel-
lung festzuhalten - sie korrespondieren zwar den Be-
stimmungselementen der Einstellung, erfüllen sie
aber nur in Teilen. Einstellungen werden manchmal
in drei Komponenten aufgegliedert: (1) Affektive
Komponente: Sie enthält die mit der Einstellung ver-
bundene gefühlsmäßige Einschätzung eines Objekts.
(2) Kognitive Komponente: Sie beinhaltet die mit ei-
ner Einstellung verbundenen Gedanken resp. das
subjektive Wissen über das Objekt der Einstellung.
(3) Konative Komponente: Sie bezeichnet eine mit
der Einstellung verbundene Handlungstendenz oder
Handlungsabsicht (im weiteren vgl. Meffert 1998,
114ff, sowie Hermanns 2002).
Eine letzte Überlegung zur „Flächigkeit“ der Affekte
oder Emotionen: Manche sind sehr spezifisch, ant-
worten auf szenische Konstellationen. Andere sind
szenenübergreifend, beziehen sich auf Teiltexte oder
sogar auf den ganzen Film. Und nochmals andere
sind unabhängig, umgreifen den besonderen Film
bzw. die Kinoveranstaltung.
Letztere sind von eigener Art. Oft ist die Wahl eines
Films die Abstimmung des Films, seines Genres
oder des Tonfalls, in dem er erzählt wird, auf jene
umgreifende Gestimmtheit des Zuschauers. Mood ist
in der wissenschaftlichen Psychologie als Gefühls-
status des Subjekts gefaßt, der ohne Objekt aus-
kommt: „an affective state or process that has no ob-
ject or only fleeting, shifting objects, or that has the
environment as a whole as its object“ (Frijda 1993).
Frijda (1993) gibt die drei Kriterien (1) längere Dau-
er, (2) niedrigere Intensität und (3) Diffusheit oder
Globalität (diffuseness or globality) als Charakteris-
tiken des mood, wobei seine Diffusheit besonders
wichtig ist.
Das Gesamt der Rahmenemotionen (der moods) ist
ein mehrdimensionales assoziatives System, dessen
Knoten von dreierlei Art sind: (1) Emotionen und
emotionale Zustände, (2) jeweils verbunden mit be-
sonderen Gedanken und Erinnerungen sowie (3) mit
physiologischen Reaktionen (Smith 1999, 108). Die
Aktivierung dieses komplexen Systems schafft eine
besondere Beziehung zwischen Objekt der Aneig-
nung und dem aneignenden Subjekt, weil subjektive
Emotionserinnerungen ebenso wie Präferenzen oder
signifikante Beispiele mit-aktiviert werden. Da der
„reine Affekt“ (affect proper), der dem mood zu-
grundeliegt, aber nur in der An- bzw. Abwesenheit
von pleasantness besteht, also am Ende nicht weiter
analysierbar ist, scheint der Mood-Begriff zu wenig
objektorientiert zu sein, um der Frage, ob und wie
Textdramaturgien als affektive Steuerungsstrategien
verstanden werden können, dienlich zu sein. Aber er
bildet offensichtlich einen emotionalen Rahmen, in
den sich die emotionalen Prozesse im Kino einfü-
gen.
2. Affektive Dimensionen der Rezeption
Ich werde im folgenden von Affekt sprechen, um die
Besonderheit des Affekts gegen andere Tatsachen
des Seelenlebens, vor allem gegen die Gefühle im
engeren Sinne, deutlicher abgrenzen zu können. Ich
will Affekt hier als theoretischen Terminus handha-
ben, nicht in der alltagssprachlichen Bedeutung von
„Stimmung“ oder „Laune“.
Ein
Affekt ist danach
eine Orientierung auf ein Objekt der Aneignung,
folgt den zeitlichen Bewegungen des Objekts (so-
fern es sich wie bei Texten um Zeitobjekte han-
delt)
und wird in Auseinandersetzung mit den Objekt-
angeboten weiterentwickelt, modifiziert und ab-
geschattet, möglicherweise neu formiert.
Ein Affekt findet zwischen Subjekt und Objekt
statt, ist Teil einer Austauschbeziehung, steht
nicht allein in der Kontrolle des Subjekts, son-
dern wird auch vom Objekt zumindest teilweise
gesteuert. Aber das Subjekt ist nicht festgelegt,
Affekte sind nicht determiniert (genauer: nicht
vollständig determiniert), entstehen in der Inter-
aktion von Text und Subjekt.
In diese Prozesse sind Voreinstellungen (Meinun-
gen, Haltungen, Vorurteile, Angst- oder Wunsch-
besetzungen von Objekten usw.) und kognitives
Wissen einbezogen.
In dieser Hinsicht sind Affekte immer Aushand-
lungen zwischen Text und Adressat. Die negotia-
tion (Aushandlung; in der Terminologie der briti-
schen Cultural Studies; cf. Hall 1980) ist die ein-
zige Grundform der Text-Adressat-Beziehung.
Natürlich gibt es nicht nur mehrere Typen realisier-
ter Affekte, die in Auseinandersetzung und im Dialog
mit einer Geschichte auftreten, sondern auch der ei-
gentlichen Rezeption vorausliegende Affekt-Erwar-
tungen und dieser folgende Affekt-Erinnerungen. Es
ist also sinnvoll, „Aktual-Affekte“ von den Zeitfor-
men der Protention und der Retention zu trennen.
Diese erste Unterscheidung der Felder der Emotio-
nalität im Kino scheint nützlich zu sein:
(1) Prärezeptive Emotionen oder Emotionserwartun-
gen liegen vor der Besichtigung.
(2) Rezeptive Emotionen entfalten sich während der
eigentlichen Rezeption.
(3) Postrezeptive Emotionen oder Emotionserinne-
rungen sind solche, die nach der Rezeption erst gel-
ten.
Mit der dreiteiligen Typologie, die die Affekte im
zeitlichen Feld orientiert, will ich dem Problem der
Emotionspsychologie begegnen, daß Emotionen als
Antriebe von Wahrnehmungen und anderen Zuwen-
dungstätigkeiten angesehen werden, daß aber dar-
über hinaus sicherlich auch eine Austauschbezie-
hung mit ihrem Objekt vorliegen muß.
Weitere Differenzierung ist nötig.
2.1 Prärezeptive Emotionen
Jeder geht in eine Kinovorstellung in einem jeweils
besonderen emotionalen Gemütszustand - er ist an-
gespannt oder abgespannt, er will sich vergnügen
oder bereit, sich auf „große Gefühle“ einzulassen.
Man nennt diese allgemeine emotionale Stimmung
oft mood, und wir wissen, daß Filme den mood be-
einflussen. Nach dem Film ist man in anderer Stim-
mung als vorher. Man hat die Stimmung gesteigert,
hat Anspannungen abgebaut, ist angenehm erregt,
vielleicht sogar empört, in seiner moralischen Sensi-
bilität gesteigert. Die Gefühlslage vor dem Film ist
unabhängig von dem besonderen Film, der laufen
wird. Allerdings ist auch deutlich, daß der Zuschauer
im Kino ein mood management betreibt - er sucht,
den allgemeinen Gefühlszustand zu beeinflussen, sei
es, daß er besondere Inhalte oder Stilformen sucht,
sei es, daß er sie vermeidet. Soll sagen, daß das Zu-
wendungsverhalten zu einem Film getragen ist von
dem Bemühen, das eigene Gefühlsleben zu modulie-
ren. Wir wissen aus den Untersuchungen Zillmanns,
daß heitere Inhalte den Zuschauer heiterer stimmen,
daß bedrückende Inhalte ihn nachdenklicher stim-
men, daß patriotische Inhalte ihn moralisch aufrüs-
ten (sofern es dazu Voreinstellungen gibt, die das
auch zulassen). Zuschauer und Film gehen so eine
gemeinsame Aufgabe an, nämlich den Gefühlshaus-
halt zu beeinflussen. Darauf wird zurückzukommen
sein.
Etwas anderes sind konkrete Emotionserwartungen,
die aus der Kenntnis des kommenden Films entstam-
men. Emotionserwartungen gehören zum kommuni-
kativen Pakt, der zwischen Zuschauer und Film ge-
schlossen wird. Eine besondere Rolle scheinen hier
die Genres zu spielen - ein Film verspricht Span-
nung oder Thrill, Horror oder große Gefühle, er ver-
spricht, weinen oder lachen zu machen. Aber auch
die Inhalte sind von Belang - eine Geschichte über
das Sterben (wie jüngst Mar adentro von Alejandro
Amenábar, Spanien 2004) wird mit Sicherheit Rüh-
rung verursachen. Schließlich können auch Personen
(Schauspieler, Regisseure etc.) und Figuren (Serien-
helden, Comic-Helden, mythische Figuren usw.) als
Garanten eines impliziten Gratifikationsverspre-
chens gelten. Jeder Film ist Gegenstand einer Eva-
luation durch den Zuschauer. Oder genauer: Jede
Rezeption eines Films ist auch ein Abgleich des Er-