Kunst im Konflikt Strategien zeitgenössischer Kunst Dietrich Heißenbüttel


  Kunst im Konflikt: Strategien zeitgenössischer Kunst



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Kunst im Konflikt: Strategien zeitgenössischer Kunst 
können  wiederum,  was  die  Verbreitung  angeht, 
nicht mit den Massenmedien konkurrieren. Sie kön-
nen  aber  alternative  Sichtweisen  aufzeigen,  unaus-
gesprochene  Themen  zur  Sprache  bringen  und  al-
ternative Bilder in Umlauf bringen. Entscheidend ist 
in  diesem  Fall  nicht,  ob  oder  dass  Kunst  nur  ein 
kleines  Publikum  erreicht,  sondern  Bilder,  Informa-
tionen, Hintergründe oder Lösungsansätze zunächst 
einmal vorzustellen. Der Erfolg hängt dann weniger 
von der künstlerischen Arbeit selbst ab, als vielmehr 
davon,  was  das  Publikum  damit  anfängt.  Die  ver-
gleichsweise  marginale  Position  von  Kunst  wird 
dabei  bis  zu  einem  gewissen  Grad  dadurch  kom-
pensiert,  dass  sie  auf  ein  interessiertes,  zumeist  ge-
bildetes und intelligentes Publikum stößt, das in der 
Lage  ist,  Anregungen  aufzugreifen  und  weiter  zu 
verbreiten. 
Allein  die  Absicht,  in  einen  Konflikt  zu  intervenie-
ren,  impliziert  freilich,  dass  es  sich  nicht  um  Kunst 
innerhalb des „White Cube‚ handelt, also um „Wer-
ke‚,  die  in  Galerien,  Museen,  Kunsthallen  oder 
Kunstvereinen ausgestellt, verkauft, gesammelt und 
bewahrt werden, sondern dass ein Bezug zur gesell-
schaftlichen  Realität  außerhalb  der  Kunst  gesucht 
wird.  Die  Konsequenz  kann  sein,  aus  den  für  die 
Kunst reservierten  Räumen hinauszutreten und mit 
Handlungen und Objekten unmittelbar in räumliche 
Gegebenheiten zu intervenieren, aber auch ein Pub-
likum  anzusprechen,  das  normalerweise  nicht  in 
Galerien  und  Kunsthallen  anzutreffen  wäre.  Ande-
rerseits führen schon der zumeist ephemere Charak-
ter  solcher  Aktionen  und  die  Notwendigkeit,  sie  in 
einen Kunstdiskurs zurückzuführen, in den meisten 
Fällen dazu, dass sie nicht nur temporäre Ereignisse 
sind,  sondern  zugleich  Rohmaterial  für  Fotografien 
und  Videoaufzeichnungen,  die  dann  in  Ausstellun-
gen  gezeigt  werden.  Es  besteht  also,  wo  der  gesell-
schaftliche  Bezug  gewollt  ist,  zwischen  Arbeiten 
inner-  und  außerhalb  des  Ausstellungsraums  weni-
ger  ein  Gegensatz  als  eine  dialektische  Wechselbe-
ziehung. 
Auf längere Sicht kann Kunst im Konflikt so durch-
aus  eine  entscheidende  Rolle  spielen.  Sie  spricht 
nicht nur den Intellekt an, sondern auch das Gefühl 
und  vor  allem  die  Imagination.  Sie  ist  per se  immer 
auf  der  Suche  nach  neuen  Lösungen  und  Darstel-
lungsweisen.  Damit  kann  sie  verhärtete  Konfliktli-
nien,  wie  sie  in  allen  Konflikten  anzutreffen  sind, 
aufbrechen  und  tiefere  Schichten  des  Verdrängten 
und  Unbewussten  einschließlich  der  historischen 
Dimension  zu  Tage  fördern,  um  zum  Nachdenken 
und  zu  Neubewertungen  anzuregen.  Kunst  ist,  mit 
Kant  zu  sprechen,  allein  in  der  Lage,  ein  syntheti-
sches  Urteil  zu  fällen,  das  heißt  sie  ist  in  der  Lage, 
jenseits  vorab  festgelegter  Kriterien  die  Dinge  im 
Zusammenhang  zu  betrachten  und  diesem  Zusam-
menhang  eine  sinnlich  wahrnehmbare  Form  zu  ge-
ben. 
Latente Konflikte 
Wenn,  wie  gesagt  wurde,  Kunst  im  akuten  Fall  der 
bewaffneten  Auseinandersetzung  kaum  etwas  wird 
ausrichten  können,  stellt  sich  die  Frage,  ob  die  ein-
leitende Definition von Konflikt als bewaffnete Aus-
einandersetzung  zwischen  Gruppen  überhaupt  als 
ausreichend  betrachtet  werden  kann.  Sind  die  Mo-
mente,  in  denen  Kunst  versuchen  kann,  in  einen 
Konflikt  einzugreifen,  genau  genommen  nicht  im-
mer die vor oder nach dem Konflikt? Wann und wo 
beginnt  und  endet  überhaupt  ein  Konflikt?  Einer-
seits ist auch im herkömmlichen Sprachgebrauch ein 
Konflikt in dem Moment, wo er eskaliert, nicht erst 
am entstehen, sondern bereits vorhanden. Und auch 
ein  vorübergehendes  Aussetzen  des  Waffenganges 
muss  keinesfalls  bedeuten,  dass  der  Konflikt  been-
det  sei.  Andererseits  bedeutet  die  Definition  als  be-
waffnete  Auseinandersetzung  im  Zweifelsfall,  dass 
ein  Konflikt  sich  erst  in  der  Waffengewalt  manifes-
tiert  und  als  solcher  erkennbar  wird.  Häufig  wird 
dieser  Zusammenhang  mit  Metaphern  des  Feuers 
beschrieben: Man spricht von schwelenden Konflik-
ten, von einem Funken, der einen Konflikt auslösen 
kann,  dass  ein  bereits  beendet  geglaubter  Konflikt 
wieder aufflammt usw. 
Wie  schwer  es  fällt,  hier  eine  genaue  Grenze  anzu-
geben,  zeigen  die  aktuellen  Ereignisse  in  Nordafri-
ka.  Dem  Grundsatz  nach  handelt  es  sich  um  eine 
Demokratisierungsbewegung,  das  heißt  eine  breite 
Bevölkerungsmehrheit  sucht  sich  mit  friedlichen 
Mitteln  gegen  Autokraten  durchzusetzen.  Wenn 
aber  wie  in  Libyen  der  Herrscher  mit  militärischen 
Mitteln  gegen  sein  Volk  vorgeht,  wenn  im  Gegen-
zug  Regierungsgebäude  und  Polizeiwachen  in 
Brand gesetzt und Teile des Landes  befreit werden, 


 
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Kunst im Konflikt: Strategien zeitgenössischer Kunst 
wenn  gelegentlich  von  einer  Opposition  zwischen 
verschiedenen  „Stämmen‚  geredet  wird,  stellt  sich 
irgendwann  die  Frage,  wo  genau  die  Grenze  zwi-
schen einer Revolution und einem bürgerkriegsarti-
gen Konflikt zu ziehen sei. Noch deutlicher wird das 
Problem,  wenn  man  die  internationalen  Beziehun-
gen mit bedenkt: Führt ein direktes Eingreifen euro-
päischer  Armeen  nicht  einen  Kriegszustand  herbei? 
Auch  ohne  dies  wird  erkennbar,  dass  der  Konflikt 
im Land auch mit einem internationalen, ja globalen 
Konflikt verbunden ist, der bisher nur latent, unter-
schwellig,  aber  zweifellos  vorhanden  war  und  nun 
in  Form  von  Flüchtlingsströmen,  der  Frage,  wer 
über  Energieressourcen  entscheidet,  über  Konten 
verfügt  oder  Waffen  liefert  oder  die  Lieferung  aus-
setzt, plötzlich manifest werden kann. 
Hunderte  Flüchtlinge  ertrinken  jährlich  im  Mittel-
meer,  weitere  zwischen  der  senegalesischen  Küste 
und  den  kanarischen  Inseln.  Zwar  wird  nicht  mit 
Kanonen  auf  Fischerboote  geschossen,  doch  die 
Europäische  Union  setzt  mit  der  Agentur  Frontex, 
die  über  100  Boote,  20  Flugzeuge  und  25  Hub-
schrauber  verfügt,  durchaus  militärische  Mittel  ein, 
um  die  Armutsflüchtlinge  davon  abzuhalten,  den 
Schengen-Raum  zu  betreten.
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 Demnach  handelt  es 
sich zweifelsfrei um einen latenten Konflikt, in dem 
Mittel  der  Gewalt  zum  Einsatz  gelangen,  wenn  es 
sich  auch  nicht  eigentlich  um  kriegerische  Ausei-
nandersetzungen handelt. 
Ebenso schwer fällt die Trennung, wenn es sich um 
die  Verarbeitung  kollektiver  Traumata  handelt.  Ein 
Trauma  kommt  zustande  aufgrund  einer  Situation 
der  Bedrohung,  der  Hilf-  und  Schutzlosigkeit,  die 
nicht verarbeitet werden kann: Der Betroffene bleibt 
über  lange  Zeit  hinweg  traumatisiert.  Auch  Ereig-
nisse,  die  weit in  der  Vergangenheit  liegen,  können 
daher unvermindert fortwirken. Kollektive Trauma-
ta  können  Konflikte  auslösen  oder  zumindest  den 
Ausgleich  zwischen  verfeindeten  Gruppen  verhin-
dern.  Sie  können  über  die  Lebenszeit  der  unmittel-
 
                                                           
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 Albert Scherr, „Innere Sicherheit und soziale Unsicherheit. 
Sicherheitsdiskurse als projektive Bearbeitung 
gesellschaftsstrukturell bedingter Ängste?‚, in: Axel 
Groenemeyer (Hrsg.): Wege der Sicherheitsgesellschaft. 
Gesellschaftliche Transformationen der Konstruktion und Regulierung 
innerer Unsicherheiten, Wiesbaden 2010, S. 29.  
bar  Betroffenen  auch  auf  nachfolgende  Generatio-
nen fortwirken, insbesondere wenn es nicht zu einer 
bewussten  Auseinandersetzung  kommt.  Traumabe-
arbeitung kann insofern eine zwingend notwendige 
Voraussetzung  sein,  um  überhaupt  zu  einer  friedli-
chen  Einigung  zu  gelangen,  welche  die  Relativie-
rung des eigenen und die Anerkennung des anderen 
Leids mit einschließt. Lässt sich aber die Bearbeitung 
weit  zurückliegender,  traumatischer  Ereignisse  mit 
künstlerischen  Mitteln  mit  dem  Begriffspaar  Kunst 
im Konflikt fassen? 
Ohne  hier  eine  abschließende  Antwort  geben  zu 
wollen  oder  zu  können,  möchte  ich  an  die  ersten 
beiden Plattformen von Okwui Enwezors Documenta 
11 erinnern, auf denen es genau um die beiden hier 
angesprochenen  Themenbereiche  ging,  nämlich  um 
„Demokratie  als  unvollendeter  Prozess‚  und  „Pro-
zesse  der  Wahrheitsfindung  und  Versöhnung‚.
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Der zweite Band spielt schon im Titel an die Wahr-
heitsfindungskommissionen  in  Südafrika  nach  dem 
Ende der Apartheid an: ein weiterer, bereits histori-
scher  Fall  eines  solchen  latenten  Konflikts,  in  dem 
Kunst in vielfacher Weise besonders produktiv zum 
Einsatz kam. Genau genommen stellt sich sogar die 
Frage,  ob  es  nicht  grundsätzlich  eher  latente  Kon-
fliktsituationen  sind,  in  die  Kunst  erfolgreich  ein-
greifen  kann,  während  ein  manifester  militärischer 
Konflikt  wenig  Raum  für  künstlerische  Aktivitäten 
übrig lässt. Manche Konflikte wie etwa in Südafrika, 
den  Balkanländern  oder  Israel/  Palästina,  wo  es  be-
merkenswerte  künstlerische  Initiativen  gibt,  sind 
zugleich  charakterisiert  von  einem  Nebeneinander 
des  gewöhnlichen  Alltags  der  Konsumgesellschaft 
und  militärischer  Gewalt.  Die  folgende  Auflistung 
versucht  ihre  Netze  eher  breit  auszuwerfen  und 
 
                                                           
37
 Okwui Enwezor et al. (Hrsg.): Demokratie als unvollendeter 
Prozess, Documenta 11, Plattform 1, Ostfildern-Ruit 2002; s. dazu: 
Christina Werner: „Demokratie als Prozess‚, in: Zeitschrift für 
KulturAustausch 2/2001, 
http://cms.ifa.de/pub/kulturaustausch/archiv/zfk-2001/mit-kultur-
gegen-krisen/; Dietrich Heißenbüttel: „Kunst und die Defizite der 
Demokratie. Der Tagungsband zur ersten Plattform der 
Documenta 11‚, in: Neue Zürcher Zeitung, 26.11.2002, 
http://www.artwritings.de/publikationen/nzz.jpg; Okwui 
Enwezor et al. (Hrsg.): Experimente mit der Wahrheit. Rechtssysteme 
im Wandel und die Prozesse der Wahrheitsfindung und Versöhnung, 
Documenta 11, Plattform 2, Ostfildern-Ruit 2002.  


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