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Kunst im Konflikt: Strategien zeitgenössischer Kunst
wenn gelegentlich von einer Opposition zwischen
verschiedenen „Stämmen‚ geredet wird, stellt sich
irgendwann die Frage, wo genau die Grenze zwi-
schen einer Revolution und einem bürgerkriegsarti-
gen Konflikt zu ziehen sei. Noch deutlicher wird das
Problem, wenn man die internationalen Beziehun-
gen mit bedenkt: Führt ein direktes Eingreifen euro-
päischer Armeen nicht einen Kriegszustand herbei?
Auch ohne dies wird erkennbar, dass der Konflikt
im Land auch mit einem internationalen, ja globalen
Konflikt verbunden ist, der bisher nur latent, unter-
schwellig, aber zweifellos vorhanden war und nun
in Form von Flüchtlingsströmen, der Frage, wer
über Energieressourcen entscheidet, über Konten
verfügt oder Waffen liefert oder die Lieferung aus-
setzt, plötzlich manifest werden kann.
Hunderte Flüchtlinge ertrinken jährlich im Mittel-
meer, weitere zwischen der senegalesischen Küste
und den kanarischen Inseln. Zwar wird nicht mit
Kanonen auf Fischerboote geschossen, doch die
Europäische Union setzt mit der Agentur Frontex,
die über 100 Boote, 20 Flugzeuge und 25 Hub-
schrauber verfügt, durchaus militärische Mittel ein,
um die Armutsflüchtlinge davon abzuhalten, den
Schengen-Raum zu betreten.
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Demnach handelt es
sich zweifelsfrei um einen latenten Konflikt, in dem
Mittel der Gewalt zum Einsatz gelangen, wenn es
sich auch nicht eigentlich um kriegerische Ausei-
nandersetzungen handelt.
Ebenso schwer fällt die Trennung, wenn es sich um
die Verarbeitung kollektiver Traumata handelt. Ein
Trauma kommt zustande aufgrund einer Situation
der Bedrohung, der Hilf- und Schutzlosigkeit, die
nicht verarbeitet werden kann: Der Betroffene bleibt
über lange Zeit hinweg traumatisiert. Auch Ereig-
nisse, die weit in der Vergangenheit liegen, können
daher unvermindert fortwirken. Kollektive Trauma-
ta können Konflikte auslösen oder zumindest den
Ausgleich zwischen verfeindeten Gruppen verhin-
dern. Sie können über die Lebenszeit der unmittel-
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Albert Scherr, „Innere Sicherheit und soziale Unsicherheit.
Sicherheitsdiskurse
als projektive Bearbeitung
gesellschaftsstrukturell bedingter Ängste?‚, in: Axel
Groenemeyer (Hrsg.):
Wege der Sicherheitsgesellschaft.
Gesellschaftliche Transformationen der Konstruktion und Regulierung
innerer Unsicherheiten, Wiesbaden 2010, S. 29.
bar Betroffenen auch auf nachfolgende Generatio-
nen fortwirken, insbesondere wenn es nicht zu einer
bewussten Auseinandersetzung kommt. Traumabe-
arbeitung kann insofern eine zwingend notwendige
Voraussetzung sein, um überhaupt zu einer friedli-
chen Einigung zu gelangen, welche die Relativie-
rung des eigenen und die Anerkennung des anderen
Leids mit einschließt. Lässt sich
aber die Bearbeitung
weit zurückliegender, traumatischer Ereignisse mit
künstlerischen Mitteln mit dem Begriffspaar Kunst
im Konflikt fassen?
Ohne hier eine abschließende Antwort geben zu
wollen oder zu können, möchte ich an die ersten
beiden Plattformen von Okwui Enwezors
Documenta
11 erinnern, auf denen es genau um die beiden hier
angesprochenen Themenbereiche ging, nämlich um
„Demokratie als unvollendeter Prozess‚ und „Pro-
zesse der Wahrheitsfindung und Versöhnung‚.
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Der zweite Band spielt schon im Titel an die Wahr-
heitsfindungskommissionen in Südafrika nach dem
Ende der Apartheid an: ein weiterer, bereits histori-
scher Fall eines solchen latenten Konflikts, in dem
Kunst in vielfacher Weise besonders produktiv zum
Einsatz kam. Genau genommen stellt sich sogar die
Frage, ob es nicht grundsätzlich eher latente Kon-
fliktsituationen sind, in die Kunst erfolgreich ein-
greifen kann, während ein manifester militärischer
Konflikt wenig Raum für künstlerische Aktivitäten
übrig lässt. Manche Konflikte wie etwa in Südafrika,
den Balkanländern oder Israel/ Palästina, wo es be-
merkenswerte künstlerische Initiativen gibt, sind
zugleich charakterisiert von einem Nebeneinander
des gewöhnlichen Alltags der Konsumgesellschaft
und militärischer Gewalt. Die folgende Auflistung
versucht ihre Netze eher breit auszuwerfen und
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Okwui Enwezor et al. (Hrsg.):
Demokratie als unvollendeter
Prozess, Documenta 11, Plattform 1, Ostfildern-Ruit 2002; s. dazu:
Christina Werner: „Demokratie als Prozess‚, in:
Zeitschrift für
KulturAustausch 2/2001,
http://cms.ifa.de/pub/kulturaustausch/archiv/zfk-2001/mit-kultur-
gegen-krisen/; Dietrich Heißenbüttel: „Kunst und die
Defizite der
Demokratie. Der Tagungsband zur ersten Plattform der
Documenta 11‚, in:
Neue Zürcher Zeitung, 26.11.2002,
http://www.artwritings.de/publikationen/nzz.jpg; Okwui
Enwezor et al. (Hrsg.):
Experimente mit der Wahrheit. Rechtssysteme
im Wandel und die Prozesse der Wahrheitsfindung und Versöhnung,
Documenta 11, Plattform 2, Ostfildern-Ruit 2002.