Landtag Plenarprotokoll Nordrhein-Westfalen 16/133 16. Wahlperiode 25. 01. 2017 133. Sitzung



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Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Mostofizadeh. – Für die Fraktion der Piraten spricht der Kollege Marsching.

Michele Marsching (PIRATEN): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!



Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Herr Kollege Marsching, wir haben uns schon bei früheren Plenarsitzungen gelegentlich über den Auftritt der Piraten im Zusammenhang mit ihrer Kleidung unterhalten. Ich möchte Ihnen auch heute noch einmal mitteilen, dass ich Ihre Kleidung mit einem solchen Pulli nicht für angemessen halte.

(Beifall von der CDU)



Michele Marsching (PIRATEN): Wenn das bei diesem Thema das wichtigste Problem ist, dann herzlichen Dank!

(Zurufe von der FDP: Mehr Respekt! – Jochen Ott [SPD]: Das ist respektlos!)

– Ja, mehr Respekt, klar.

Ich fange noch einmal an. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer auf der Tribüne und zu Hause! Ich möchte mich zunächst einmal bei Frau Ministerpräsidentin für den Anfang ihrer Rede bedanken. Ich finde, es war angemessen, dass wir kurz der Opfer gedacht und uns noch einmal daran erinnert haben, dass wir hier vor allen Dingen deswegen diskutieren, weil zwölf Menschen auf grausame Weise von einem Terroristen ermordet wurden, dessen Namen hier zu nennen ich eigentlich keine Lust habe. Wichtiger wären die Opfer. Nur, leider müssen wir heute über diesen Menschen reden.

Wir beschäftigen uns heute mit diesem Thema auch deshalb, weil es geschehen konnte, dass zwölf Menschen von einem Mann ermordet wurden, obwohl er im Fokus der Sicherheitsbehörden stand. Wir sind heute hier, weil ein Versagen der Sicherheitsbehörden vorlag. Wir sind heute hier, weil die Anwendung von Gesetzen versagt hat, die als solche eigentlich ausgereicht hätten. Und wir sind heute hier, weil der Innenminister so angeschossen ist, dass die Landesmutter ihn hier am Rednerpult verteidigen muss; denn sonst wäre diese Unterrichtung ja nicht nötig gewesen.

Frau Ministerpräsidentin, meiner Meinung nach haben Sie heute eine Chance verpasst. Sie hätten Herrn Minister Jäger entlassen können. Sie hätten sich von einem Klotz am Bein befreien können, Sie hätten Ballast loswerden können. Gerade jetzt im Wahlkampf wird Ihnen das anhängen. Ich sage Ihnen: Da haben Sie die größte Chance verpasst, die Sie in dieser Legislaturperiode hatten, den Unsicherheitsminister vor die Tür zu setzen.

(Beifall von den PIRATEN, Dr. Joachim Stamp [FDP] und Hendrik Schmitz [CDU])

Ja, ich gebe zu, Herr Minister Jäger, Frau Ministerpräsidentin: Ein Innenminister trägt keine persönliche Verantwortung für das, was passiert. Aber er trägt eine politische Verantwortung. Und Herr Minister Jäger geht immer wieder nach dem gleichen Muster vor: Probleme werden weggeschoben. Es sind keine Fehler passiert. – In diesem Zusammenhang muss ich den Ausspruch vom 5. Januar dieses Jahres noch einmal zitieren:

„Alle Behörden wussten alles. Es gab keine Informationslücken. Es war nicht so, dass jemand über Sachverhalte keine Kenntnisse hatte, der in irgendeiner Weise an dem Fall Amri beteiligt gewesen ist.“

– Zitat Ende. – Das ist einfach falsch, wenn wir jetzt wissen, dass die Staatsanwaltschaft Duisburg beim LKA Nordrhein-Westfalen angefragt hat: „Wo ist denn der Mann?“ und keine Info darüber bekommen hat, dass er in Ravensburg in Haft gesessen hat. Denn nur dann hätte die Staatsanwaltschaft überlegen können, ob die Gründe ausreichen, einen Haftbefehl zu erlassen.

Dabei ist es so einfach, zu sagen: Wir wissen es noch nicht, wir gucken noch. – Die Ministerpräsidentin hat gerade gesagt, man solle nicht vorschnell handeln. Aber genau dieser Fehler ist mal wieder passiert. Statt einfach zu sagen: „Ich als der Verantwortliche frage noch nach, ich kläre noch auf“, kam sofort ein schützendes Sich-vor-die-Behörden-Stellen: Alle wussten alles; es sind keine Fehler passiert.

Ja, die Bevölkerung will Sicherheit, und ja, ein Innenminister soll eigentlich alles wissen. Aber wann macht sich Politik endlich ehrlich und sagt: „Es ist unmöglich, als Minister alles zu wissen. Es ist unmöglich, alles mitteilen zu können und auch alles aufzunehmen – dafür sind die Informationen einfach zu viele. Und dir, liebe Öffentlichkeit, teile ich die Dinge dann mit, wenn ich sie weiß“?

Wann macht sich Politik endlich ehrlich und sagt nicht solche Sachen wie: „Teile dieser Antwort könnten die Bevölkerung verunsichern“? Wann macht sich Politik endlich ehrlich und sagt nicht: „Alle haben alles gewusst, es gab keine Informationslücken“? Wann macht sich Politik endlich ehrlich und sagt nicht: „Ich weiß, wer Kanzlerkandidat wird, aber ich sage es euch nicht“? Alles andere sind Unwahrheiten, alles andere sind Lügen, und die Menschen kommen sich verarscht vor.

(Beifall von den PIRATEN)

Und dann müssen Sie …

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Herr Kollege Marsching, ich möchte Sie jetzt nicht nur wegen Ihrer Kleidung, sondern wegen Ihrer Wortwahl kritisieren und Sie bitten, sich so auszudrücken, dass es der Würde des Hohen Hauses entspricht.

(Beifall von der CDU und der FDP)



Michele Marsching (PIRATEN): Ja, ich sage es beim nächsten Mal nicht mehr. Aber so denken die Menschen übrigens da draußen. Klar ist wieder, dass die gleichen Leute dafür auf den Tisch klopfen – unglaublich.

(Hendrik Schmitz [CDU]: Man kann das auch anders ausdrücken!)

Beantworten Sie sich bitte selbst einmal die folgenden Fragen: Warum hat das Innenministerium nicht gehandelt, als die Mehrfachidentitäten des Täters im März 2016 bekannt wurden? Warum hat das LKA Nordrhein-Westfalen zugeschaut, während Amri seine aufenthaltsrechtlichen Auflagen wieder und wieder und wieder verletzt hat? Und warum hat man ihn quer durch die Republik reisen lassen? Warum hat das LKA Nordrhein-Westfalen der Staatsanwaltschaft in Duisburg verschwiegen, wo sich der spätere Täter aufhielt? Warum hat das LKA Nordrhein-Westfalen der Ausländerbehörde in Kleve verschwiegen, wo sich der spätere Täter aufhielt?

Die Schlussfolgerungen aus all diesen Fragen müssten Sie erkennen lassen: Die bestehenden Gesetze hätten ausgereicht, wenn in diesem Fall das Landeskriminalamt seine Arbeit, seinen Job getan hätte. Der Fehler beim LKA muss aufgeklärt werden.

Herr Minister Jäger ist dafür einfach der falsche Minister, nachdem er sich in der Sondersitzung vor seine Behörden gestellt hat, sämtliche Fehler von sich gewiesen hat und gesagt hat: Es gab keinen Fehler, es gab keine Informationslücken.

Eines hilft nun überhaupt nicht, Herr Kollege Mostofizadeh, und zwar wenn Sie bei der Rede des Kollegen Laschet – nachdem er ausgeführt hat, was alles hätte passieren können – vom Platz aus dazwischenrufen: „Hätte, hätte, Fahrradkette!“, sich dann aber ans Pult stellen und sagen: Wenn die CDU in Berlin das und das gemacht hätte, dann wäre alles besser geworden. – Das ist eine Logik, die es hier nicht geben darf. Es darf nicht das Ziel der Politik sein, die Verantwortung hin und her zu schieben.

(Beifall von den PIRATEN)

Übrigens hilft es auch nicht, meine Damen und Herren, einen Gutachter der Landesregierung zu beauftragen. Ich nenne Ihnen nur einen einzigen Grund, der dagegenspricht – die Unruhe war groß, als wir das gerade gehört haben –: Der Gutachter der Landesregierung soll vollen Zugang zu allen Unterlagen bekommen. Das heißt, dass er mehr Zugang zu den Unterlagen bekommt als die Parlamentarier dieses Hauses.

(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Das ist eine Unverschämtheit. Das dürfen wir als Parlament so nicht stehen lassen.

(Zuruf von Britta Altenkamp [SPD])

Vor allen Dingen ist ein bestellter Gutachter eines nicht: unabhängig.

(Ministerpräsidentin Hannelore Kraft: Dann fordern Sie doch einen Untersuchungsausschuss!)

– Ja, dazu komme ich jetzt, Frau Ministerpräsidentin. Denn nach Art. 30 der Landesverfassung liegt die Kontrolle des Handelns der Landesregierung beim Parlament. Deswegen fordere ich die Kollegen Laschet, Lindner und Stamp hier offen auf: Lassen Sie uns gleich zusammensetzen, und lassen Sie uns diesen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss fordern. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, dass die Landesregierung einem Externen mehr Zugriff auf Unterlagen gewährt als den Parlamentariern dieses Hauses. Wir brauchen einen PUA, und zwar jetzt.

(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Meine Damen und Herren, liebe Zuschauer, wir müssen aufklären, was falsch gelaufen ist, um es in Zukunft besser zu machen.

Herr Minister Jäger ist dafür nicht der Richtige. Ich wiederhole die Forderung, die wir hier schon häufig gestellt haben: Das Fass ist übergelaufen. Es ist nicht voll, sondern es ist übergelaufen, und Herr Jäger muss weg. Wir brauchen echte Aufklärung. Wir brauchen echte Konsequenzen, um am Ende echte Sicherheit zu haben. – Danke schön.

(Beifall von den PIRATEN)



Vizepräsident Oliver Keymis: Der Fraktionsvorsitzende der Piraten, Herr Marsching, hat gesprochen. – Als Nächster spricht der fraktionslose Abgeordnete Schulz.

Dietmar Schulz (fraktionslos): Vielen Dank. – Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Von exakt dieser Stelle aus hatte ich Ihnen, Frau Ministerpräsidentin, vor ziemlich genau einem Jahr nahegelegt, dem Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen den Hut in die Hand zu geben, weil er weder ihn selbst nehmen noch Verantwortung übernehmen würde.

Sicher sind beide Ereignisse – das sage ich insbesondere mit Blick das Ereignis, über das wir hier und heute reden – bzw. die Folgen daraus nicht unbedingt vergleichbar. Letztes Jahr musste nicht Herr Minister Jäger seinen Hut nehmen, sondern der Polizeipräsident von Köln musste gehen.

Es gab andere Situationen, in denen zum Beispiel katastrophale Zustände in Flüchtlingseinrichtungen dazu geführt haben, dass ebenfalls nicht die Aufsichtsbehörde personelle Konsequenzen erleiden musste, sondern ein Regierungspräsident gehen musste.

Es gibt noch andere Beispiele wie Hogesa oder die Tatsache, dass – so viel zur Aufklärung und auch zu Gutachten und dergleichen mehr – die Loveparade-Umstände – für die Herr Minister Jäger, der gerade frisch im Amt war, sicherlich keine Verantwortung zu tragen hatte – bis heute nicht eindeutig und abschließend aufgeklärt sind.

Jetzt hier Aufklärung zu fordern, ist zwar gut. Wir wissen aber, wo das enden kann – nämlich im politischen Alltagsgeschehen. Terror in Berlin durch Täter im engmaschigen Überwachungsnetz der Behörden unter Federführung Nordrhein-Westfalens – das ist schiefgegangen. Die Gründe dafür bedürfen der Aufklärung. Aber die politische Verantwortung wird an dieser Stelle erneut nicht übernommen.

In den vergangenen Wochen wurde öfters die Frage gestellt: Was muss eigentlich noch passieren, damit jemand hier persönliche Verantwortung insbesondere in politischer Hinsicht übernimmt?

Frau Ministerpräsidentin, ich befürchte, dass eine Äußerung, die ich vor einigen Wochen einmal auf Twitter gemacht habe, leider Gottes zur Wahrheit wird – nämlich, dass dieses Sicherheitsrisiko, welches durch Ihren Innenminister verkörpert wird, mittlerweile auch zu Ihrem persönlichen Risiko wird.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Denn eines muss man sagen: Während, wie auch immer, Herr Minister Jäger Chef der Behörden ist, um die es hier und heute geht und in den nächsten Wochen und Monaten sicher weiterhin gehen wird, sind Sie doch als Kabinettschefin diejenige, die die Verantwortung für die Gesamtregierung trägt. Dieser Verantwortung werden Sie so lange nicht gerecht werden können, was die Aufklärung angeht, solange Sie dieses Sicherheitsrisiko Jäger mit sich herumtragen.

Fehleinschätzungen wurden nach zahlreichen oppositionellen Angriffen in der Zwischenzeit – ich glaube, es war letzte Woche – vonseiten des Innenministeriums eingeräumt. Herr Minister Jäger befand sich auf dem Beobachtungsposten.

In diesem Zusammenhang möchte ich einmal den Antrag der Regierungskoalition in den Blick nehmen. Darin ist die Rede davon, dass man Gefährder in den Blick nehmen müsse. Das war im Fall Amri ja der Fall. Er war im Blick der Behörden, und zwar engmaschiger, dichter und intensiver, als man es sich im Hinblick auf einen Gefährder gar nicht wünschen kann.

An dieser Stelle danke ich Herrn Kollegen Stamp dafür, dass er aufgegriffen hat, was ich ebenfalls geäußert habe: Die Grenzen des Rechtsstaats werden nur dort berührt, wo Entscheidungen getroffen werden, die dann möglicherweise einer gerichtlichen Überprüfung anheimgestellt werden.

Dies ist nicht erfolgt. Da fehlte es definitiv an behördlichem Mut.

(Beifall von der FDP und den PIRATEN)

Die Frage, ob das aufseiten des Innenministers zu verantworten ist, muss ich Ihnen ganz ehrlich mit Ja beantworten. Die Behörden haben sicherlich gut gearbeitet. Aber die Schlussfolgerung aus der Arbeit der Behörden sowie die möglichen und notwendigen Konsequenzen daraus hat immer der Kopf der Aufsicht als Exekutive zu ziehen. Hier liegt also ein Exekutivversagen vor. Und verantwortlich ist nur einer, nämlich der Innenminister.

Frau Ministerpräsidentin, ich glaube, die Opposition kann es auch in Zeiten des Wahlkampfes, der hier und heute, aber auch bei der Aufklärung keine Rolle spielen sollte, gut verkraften, wenn Sie diesen Innenminister nicht entlassen; denn dann wird das weiterhin Thema im Wahlkampf sein. Und die innere Sicherheit ist ein Thema, das zu wichtig ist, als dass man es bloß dem Wahlkampf opfern sollte.

Deswegen unterstütze auch ich die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss. Das Versagen dieses Innenministers …



Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kollege Schulz. Die fünf Minuten sind um.

Dietmar Schulz (fraktionslos): Danke.

Vizepräsident Oliver Keymis: Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dietmar Schulz (fraktionslos): Ja. – Das Versagen Ihres Innenministers, das hier und heute durch die verschiedenen Reden deutlich zutage tritt, ist am Ende auch Ihr Versagen, Frau Ministerpräsidentin. Die Aufklärung sollte auch ruhig vonstattengehen. Mit diesem Innenminister wird das aber nicht möglich sein. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den PIRATEN)



Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Schulz. – Nun spricht der fraktionslose Abgeordnete Schwerd.

Daniel Schwerd (fraktionslos): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne und am Stream! Anis Amri reiste mit einem Dutzend falscher Identitäten und falschen Papieren durch ganz Deutschland. Er absolvierte eine kriminelle Karriere – mit Sozialhilfebetrug, Diebstählen, Drogenhandel. Er verkehrte mit Islamisten. Er googelte im Internet nach Bombenbau. Er sprach mit zahlreichen Leuten, ob sie mit ihm gemeinsam Anschläge begehen wollen. Vom marokkanischen Geheimdienst kamen mindestens zwei Terrorwarnungen. Einem V-Mann des LKA erzählte er von seinen Plänen, sich Schnellfeuergewehre für einen Anschlag zu beschaffen, während dieser ihn im Auto nach Berlin fuhr.

Trotzdem hat all das keinen Alarm ausgelöst. Die Behörden haben im Fall Anis Amri krass versagt. Und das ist die eigentlich bittere Erkenntnis dieses Falls. Der Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz hätte möglicherweise verhindert werden können, hätte man diese Zeichen richtig gedeutet.

Jetzt wird also wieder nach neuen Strafen gerufen, nach leichterer Abschiebung, nach Fußfesseln, nach weiterer Aushöhlung des Rechts auf Asyl und unserer Bürgerrechte. Es wird noch mehr anlasslose Überwachung gefordert. Vermeintliche Rechtslücken sollen geschlossen werden.

Aber all das hat nichts mit dem Fall Anis Amri zu tun. All das wird nicht für mehr Sicherheit sorgen. Im Gegenteil: Das ist eine Scheinsicherheit, solange die tatsächlichen Probleme nicht angegangen werden.

In Deutschland halten sich 62 sogenannte Gefährder mit abgelehntem Asylantrag auf. Anis Amri war einer davon. War es nicht möglich, wenigstens diese lückenlos zu überwachen?

Anis Amri jedenfalls wurde nicht lückenlos überwacht. Er wurde nicht in Haft genommen. Das wurde nicht einmal versucht. Selbst die verfügbaren milderen Mittel des Asylrechts, beispielsweise Meldeauflagen, wurden nicht angewendet. Von den Grenzen des Rechtsstaates waren wir hier noch weit entfernt. Dann kann aber auch niemand behaupten, dass, wenn strengere Regeln im Asylrecht verfügbar gewesen wären, diese hier überhaupt auch angewendet worden wären.

Minister Jäger sagte vergangene Woche im Innenausschuss, dass er den Namen Anis Amri vor dem Anschlag nicht kannte. Der Minister lässt sich also nicht von seinem Ministerium über ausreisepflichtige Gefährder in NRW unterrichten.

(Christian Dahm [SPD]: Och nee! Das ist ja platt!)

Das ist besonders interessant; denn eine Abschiebungsanordnung nach § 58a Aufenthaltsgesetz hätte der Minister selbst veranlassen müssen. Das hat er also noch nicht einmal prüfen können. Und zu allem Überfluss hat die eine beteiligte Stelle nicht mit der anderen gesprochen, das LKA nicht mit der Ausländerbehörde Kleve und nicht mit der Staatsanwaltschaft Duisburg.

Wir müssen also konstatieren: Konsequente Anwendung des bestehenden Rechts hätte vielleicht schon ausgereicht. Funktionierende Kommunikation unter den Sicherheitsbehörden hätte vielleicht schon ausgereicht.

Schärfere Gesetze jedenfalls ersetzen keine Defizite im Vollzug. Kameras stoppen keine Lastwagen.

(Beifall von Michele Marsching [PIRATEN])

Nur herkömmliche Polizeiarbeit, gründliche Ermittlungen, anlassbezogene, konsequente Überwachung und funktionierende Kommunikation zwischen allen beteiligten Stellen bringen auch Sicherheit. Ja, das ist anstrengend. Ja, das braucht viel Personal. Und ja, dieses muss dann auch gut ausgerüstet und ausgebildet sein. Durch esoterische Sicherheitstechnik kann man das genauso wenig ersetzen wie durch noch mehr Gesetze und neue Strafen.

(Beifall von den PIRATEN)

Und ja, es ist aufwendig, vor einen Richter zu treten und eine rechtliche Maßnahme wie zum Beispiel eine Abschiebungsanordnung zu begründen. Aber das muss sein. Das ist keine Rechtslücke. Wir brauchen diese Instanz, damit das Recht gewahrt bleiben. Dieser muss man sich dann als Exekutive auch stellen.

Über die sozialen Gründe, warum junge Menschen zu Fanatikern werden, haben wir hier noch gar nicht gesprochen. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, im Fall Anis Amri sind krasse Fehler im Vollzug offenbar geworden. Diese müssen jetzt weiter aufgeklärt werden, und zwar in einem Untersuchungsausschuss.

Außerdem muss das Versagen Folgen haben. Minister Jäger trägt die politische Verantwortung für dieses Desaster und sollte die Konsequenzen ziehen.

Jetzt aber den kurzen Weg zu gehen und einfach einen Katalog neuer Gesetze und einen bunten Strauß neuer Überwachungstechnik zu fordern, ist keine Lösung. Den nächsten Anis Amri wird das nicht aufhalten. – Vielen herzlichen Dank.

(Beifall von den PIRATEN – Michele Marsching [PIRATEN]: Wie wahr! Leider ist alles wahr, was er sagt!)



Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Schwerd. – Als nächster Redner hat sich für die Landesregierung Herr Minister Jäger zu Wort gemeldet. Bitte schön. Sie haben das Wort, Herr Minister.

Ralf Jäger, Minister für Inneres und Kommunales: Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Gefährder Anis Amri war insgesamt siebenmal Gegenstand von Beratungen im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum. Bei diesem Gremium handelt es sich um Experten aller Sicherheitsbehörden des Bundes und aller Länder, die an einem Tisch sitzen; es sind insgesamt 40 Behörden. Übereinstimmend wurde dort die Einschätzung getroffen, dass von Amri keine konkrete Gefahr ausgehe bzw. eher unwahrscheinlich sei.

Mit dem Wissen von heute ist eines klar: Diese Einschätzung war falsch, meine Damen und Herren.

Wie es zu dieser Fehleinschätzung kommen konnte, das bereiten im Moment alle am Fall beteiligten Behörden des Bundes und der Länder – so auch Nordrhein-Westfalen – auf. Dieser Aufklärung stellen sich die Behörden in Nordrhein-Westfalen selbstverständlich auch.

Meine Damen und Herren, die Landesregierung trägt ihren Teil zur Aufklärung von Anfang an bei. Das tut sie umfassend und transparent. Dasselbe werden die anderen im GTAZ vertretenen Länder- und Bundesbehörden tun; denn wir brauchen im Fall Amri ein umfassendes, ein vollständiges Bild. Ohne dieses vollständige Bild sind Bewertungen, Feststellungen oder Schuldzuweisungen zum jetzigen Zeitpunkt unseriös.

Herr Laschet, was Bewertungen in diesem Zusammenhang angeht, so hatten Sie der Ministerpräsidentin und, ich glaube, auch mir vorgeworfen, in der Frage des Einbuchens Herrn Amris als Gefährder nur die halbe Wahrheit gesagt und das Wiedereinbuchen in Nordrhein-Westfalen nicht genannt zu haben.

Ich zitiere aus dem Protokoll der Sondersitzung vom 5. Januar dieses Jahres Herrn Landeskriminaldirektor Schürmann.

(Armin Laschet [CDU]: Nein, bei der Pressekonferenz!)

„Das Landeskriminalamt Berlin nahm das in Nordrhein-Westfalen durch Asylantragstellung eingeleitete förmliche Asylverfahren zum Anlass,

(Jochen Ott [SPD]: Hören Sie doch mal zu! – Zuruf von Armin Laschet [CDU])

Amri am 6. Mai 2016 als Gefährder auszustufen.“

Mein Einschub: obwohl er weiterhin seinen Lebensmittelpunkt in Berlin hatte.

„Am 10. Mai 2016 wurde Amri daraufhin durch das Polizeipräsidium Essen – der Asylantrag erstreckte sich zuvor auf die Stadt Oberhausen; deshalb das Polizeipräsidium Essen – erneut als Gefährder eingestuft; diesmal in Nordrhein-Westfalen deshalb, weil er hier behördlich gemeldet war.“

(Armin Laschet [CDU]: Das hat er nicht gesagt!)

– Herr Laschet, ich mache Ihnen nicht zum Vorwurf, dass Sie als Fraktionsvorsitzender nicht ein komplettes Protokoll lesen könnten.

(Armin Laschet [CDU]: Sie sagen die Unwahrheit, Herr Jäger!)

Aber mit dem Wissen dieses wörtlichen Zitates würde ich Ihnen vorschlagen,

(Zuruf von Armin Laschet [CDU])

eine solche Behauptung, Herr Laschet,

(Unruhe – Glocke)

nicht mehr zu wiederholen.

(Zurufe von Josef Hovenjürgen [CDU] und Armin Laschet [CDU])

Meine sehr verehrten Damen und Herren, an dieser Stelle möchte ich

(Armin Laschet [CDU]: Er hat von Kleinkriminellen geredet!)

– Herr Laschet, Sie müssen lauter schreien, damit ich Sie hier vorne verstehen kann – auf eines grundsätzlich hinweisen: Ausländerrecht ist kein Substitut für Strafrecht.

(Armin Laschet [CDU]: Wenn der WDR kommt oder der NDR!)

Es kann das Strafrecht nicht ersetzen oder stattdessen hilfsweise angewandt werden. Abschiebungshaft dient nicht der Verhinderung von Straftaten.

(Lutz Lienenkämper [CDU]: War voriges Jahr auch da!)

Sie hat zurzeit nur einen Zweck: die Sicherung der Abschiebung.

(Armin Laschet [CDU]: Sie haben selbst die Ministerpräsidentin auflaufen lassen!)

Um einen Haftrichter von der Anordnung einer Abschiebungshaft zu überzeugen, braucht es immer zwei Voraussetzungen, Herr Laschet: Es bedarf eines Haftgrundes,

(Fortgesetzt Zurufe von der CDU – Gegenruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Das hat er nicht gesagt!)

und die Haft darf nicht unzulässig sein. Die Anforderungen sind hoch; denn Haft ist ein massiver Eingriff in die Freiheit einer Person.

Meine Damen und Herren, Haftgründe lagen in der Rückschau im Fall Amri zweifelsfrei vor. Wer wie Amri unerlaubt seine Wohnorte wechselte und über seine Identität täuschte, kann wegen Behinderung der Abschiebung oder Fluchtgefahr in Sicherungshaft genommen werden.

(Zuruf von Jochen Ott [SPD])

Dies wurde auch nie in Abrede gestellt. Da sagt auch das Gutachten der FDP, Herr Stamp, nichts Neues.

Die Haft war jedoch unzulässig. Das will ich kurz erklären. Bei der Beantragung von Abschiebehaft muss die Ausländerbehörde zwingend eine Prognose zur Durchführbarkeit der Abschiebung vorbringen. Aus dieser Prognose muss für einen Richter erkennbar werden, dass die Abschiebung innerhalb der vom Gesetz geforderten Dreimonatsfrist durchführbar ist.

Der BGH fordert in mehreren Entscheidungen für eine Haftanordnung den Nachweis, dass die vom Gesetz geforderte zeitnahe Abschiebung üblicherweise innerhalb der sogenannten Dreimonatsfrist durchgeführt werden kann. Dazu hätte man einem Haftrichter Fälle nachweisen müssen, in denen die tunesische Regierung Passersatzpapiere innerhalb von drei Monaten ausgestellt hat.

(Dr. Joachim Stamp [FDP]: Das stimmt nicht! – Armin Laschet [CDU]: Sie sind ein Jurist! Ein schlauer Jurist!)

Maßgebend für die Prognose ist dabei der Zeitpunkt der Haftanordnung.

Zum damaligen Zeitpunkt, Herr Laschet, lag für Amris Heimatland Tunesien jedoch kein Referenzfall von unter drei Monaten vor. Allein durch die überlangen Bearbeitungszeiten verstreichen dann mehr als die vom Gesetz vorgesehenen drei Monate.

(Marc Lürbke [FDP]: Nein!)

Das dauert in der Regel und erfahrungsgemäß bei Tunesien sechs bis 14 Monate. So war es auch im Fall Amri, meine Damen und Herren.

(Dr. Joachim Stamp [FDP]: Aber im September war das schon ein halbes Jahr her!)

Dass Interpol in Tunis die Identität Amris im Oktober 2016 gegenüber dem BKA bestätigt hat, ändert rechtlich daran nichts. Man kann daraus nicht, wie der Gutachter der FDP, den Schluss ziehen, es sei nunmehr damit zu rechnen, dass die Passersatzpapiere innerhalb von drei Monaten einträfen, womit dann eine Abschiebung von Amri möglich gewesen wäre. Das trifft nicht zu.

Denn die tunesische Regierung hatte nur wenige Tage vor der Auskunft durch Interpol Herkunft und Identität von Amri bestritten, obwohl ihr alle Informationen und Belege zur Person vorlagen. Die Mitteilung von Interpol ersetzt nämlich nicht die Erklärung der für Hoheitsangelegenheiten zuständigen tunesischen Behörden.

Die Annahme, jetzt sei eine erfolgreiche Abschiebung binnen drei Monaten zu erwarten, basiert auf einer bloßen Hoffnung.

(Dr. Joachim Stamp [FDP]: Sie haben es doch nicht mal versucht!)

Ein Haftrichter fragt aber nicht nach Hoffnung. Er fragt nach Belegen, Herr Stamp. Und diese Belege gab es nicht. Im Gegenteil: Die Zentrale Ausländerbehörde Köln hat mit Tunesien langjährige Erfahrungen und weiß, wie schwierig das Geschäft der Passersatzpapierbeschaffung ist. Sie konnte keinen Fall angeben, in dem auch bei der Vorlage von Belegen eine Abschiebung nach Tunesien innerhalb der Dreimonatsfrist möglich gewesen wäre. Auch darauf nimmt Ihr Gutachter, Herr Stamp, keinen Bezug.

Bei den Ausführungen zu einer möglichen Ausweisung fehlt das entscheidende Element. Der Gutachter betrachtet rein rechtstheoretisch die Frage, ob die Voraussetzungen für ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse hätten begründet werden können. Dabei lässt er ein entscheidendes Kriterium völlig außer Acht: Die gerichtsverwertbaren Erkenntnisse

(Beifall von Hans-Willi Körfges [SPD])

hinsichtlich der Gefährdung lagen nicht vor, Herr Stamp.

(Zuruf von der SPD: Genau so ist es!)

Im Übrigen war eine Ausweisungsverfügung zu diesem Zeitpunkt weder als Grundlage für die Abschiebung noch für die Abschiebungshaft erforderlich. Amri war bereits vollziehbar zur Ausreise verpflichtet. Fluchtgefahr als Haftgrund lag vor. Das entscheidende Hindernis für die Abschiebungshaft war die Tatsache der Durchführbarkeit der Abschiebung in sein Herkunftsland Tunesien innerhalb der vom Gesetzgeber geforderten Dreimonatsfrist.

Meine Damen und Herren, die Erfahrungen im Fall Amri zeigen: Hier besteht eine gesetzgeberische Lücke. Hier besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf. – Das haben auch der Bundesinnenminister und der Bundesjustizminister erkannt und daher gemeinsam einen Vorschlag vorgelegt, die Dreimonatsfrist zu ändern.


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