Leitfaden und
QRC für die Physiotherapie
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Leitfaden für die Physiotherapie bei Morbus
Parkinson.
Anpassung der Quick Reference Cards aus der englischen Fassung der „KNGF Guidelines for physical
therapy in patients with Parkinson's disease
(1)
für die Schweiz.
Morbus Parkinson gehört mit einer Prävalenz von 0,1 bis 0,3% in Europa (2) zu den häufigsten neurodegenerativen
Erkrankungen. Die Behandlung von Patienten mit Morbus Parkinson (MP) bleibt für die Physiotherapeuten eine
Herausforderung. Eine Vielzahl von Problemen, die im Krankheitsverlauf auftreten, wie z.B. Gang- und
Gleichgewichtsdefizite (3), sprechen nur unzureichend auf Medikamente an. Aus diesem Grund spielt die
Physiotherapie neben anderen nicht-medikamentösen Therapien eine wichtige Rolle in der erfolgreichen Behandlung
von Patienten mit MP (4).
Es gibt mittlerweile Studien (5) (6) (7), welche zeigen, dass eine gezielte Therapie die parkinsonspezifischen
Symptome und deren sekundäre Folgen hinauszögern oder reduzieren können. Die Evidenz dazu ist jedoch nicht
abschliessend geklärt (8) und die Nachfrage nach evidenzbasierter Therapie dementsprechend gross. Richtlinien und
Reviews können dabei einen Lösungsansatz darstellen, weil sie den einzelnen Therapeuten Anhaltspunkte bieten
seine Interventionen zu reflektieren und allenfalls notwendige Optimierungen vorzunehmen. Eine Guideline weckte
unser besonderes Interesse, weil diese speziell für die Physiotherapie erstellt wurde. Unter der Leitung des
niederländischen Berufsverbandes hat eine Forschergruppe 2004 die ersten Richtlinien für physiotherapeutische
Behandlungen bei Parkinsonpatienten publiziert (1). Das Ziel war, basierend auf Forschungsergebnissen die
physiotherapeutischen Behandlungen zu verbessern. Deshalb wurden Empfehlungen für Anamnese, Befund,
Behandlung und Assessments (Messungen) abgegeben , die jeder Therapeut für spezifische und problemorientierte
Behandlungen nutzen kann. Diese Richtlinien wurden ins Englische übersetzt und 2006 publiziert. Sie sind online
verfügbar (9).
Als eine Art Zusammenfassung der Guideline wurden sogenannte „Quick Reference Cards (QRC)“ erstellt. Die von
den Guideline-Entwicklern als wichtig erachteten Empfehlungen wurden tabellarisch dargestellt. Es sind 5 Tabellen:
Anamnese (QRC 1), Befund (QRC 2 und QRC 3), Stadien-spezifische Behandlungsziele (QRC 4) und „Cueing“ oder
Strategien (QRC 5). Die übersichtlich gestalteten QRC werden während der Behandlung als Checklisten zur
Unterstützung der Behandlungsprozesse eingesetzt.
Angeregt durch die niederländische Forschergruppe hat sich im Juni 2010 in der Schweiz eine Interessengruppe
gebildet. Die Gruppe verfolgt das Ziel, gestützt auf die Erkenntnisse der Guideline, die Behandlung von Patienten
mit MP zu optimieren. Die Erkenntnisse sollen den Physiotherapeuten in der Schweiz möglichst einfach, zugänglich
gemacht werden. Auf der Basis eines Beispiels aus England (10) wurden innerhalb der Gruppe im Rahmen eines
Konsensprozesses die QRC angepasst.
Die wichtigste Modifikation war die Anpassung an das bio- psychosoziale Modell der ICF. Das Modell und die
darauf gestützte Klassifikation der ICF bietet eine geeignete Systematik, um Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit
und Ressourcen bei Parkinsonpatienten zu identifizieren und mittels des klinischen Denkprozesses in
Zusammenhang zu bringen. Dabei werden alle Ebenen der Funktionsfähigkeit des Patienten einbezogen: die
Körperstrukturen und Körperfunktionen, die Aktivitäten und die Partizipation. Wie von Rentsch und Bucher (11)
beschrieben, gibt das Modell einen strukturierten Überblick über die Folgen der primären Symptome im Alltag.
Ergänzend sollen standardisierte Assessments angewendet werden für einen objektiven Befund, Verlaufskontrolle,
Outcome-Vergleich oder Austrittsbericht.
Beschreibung von Morbus Parkinson mit dem bio- psychosozialen Modell (ICF)
Die primären Defizite werden durch den Dopaminmangel in der Substantia Nigra verursacht. Im Anfangsstadium
(Hoehn &Yahr I-II) sind bis auf die posturale Instabilität alle drei anderen motorischen Kardinalsymptome je nach
Subtyp in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden: Akinese, Rigor und Tremor.
Die Spätstadien des MP (Hoehn & Yahr III-V) sind durch eine Zunahme der motorischen und nichtmotorischen
Symptome gekennzeichnet, resp. durch posturale Instabilität sowie autonome und kognitive Beschwerden.
Rentsch & Bucher beschrieben im Buch ICF in der Neurorehabilitation (11) die Parkinsonsymptomatik auf der
Funktionsebene und teilten diese auf in primäre, sekundäre und kombinierte Defizite.
Zusätzlich können andere
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Komponenten wie Nebenwirkungen von Medikamenten (klassifiziert in den Umweltfaktoren) und
andere Faktoren
(wie Person bezogene Faktoren) die Körperfunktionen fördernd oder hemmend beeinflussen (Tabelle 1).
Primäres Defizit:
Neurologische
Schädigungen
Sekundäres Defizit:
Nicht neurologische
Schädigungen
Kombiniertes Defizit:
Neurologische + nicht
neurologische Schädigungen
Medikamente
Nebenwirkungen
Andere Faktoren
• Akinese
• Rigor
• Tremor
• Posturale
Reaktionen
• Autonome
Dysfunktion
• Kognition
• Kontrakturen
• Dekonditionierung
• Muskelschwäche
• Gleichgewichtsstörung
• Flexionshaltung
• Mentale Situation
• Angst / Panik*
• Depression*
• Schlafstörung*
• Schmerzen
• On/Off
Phänomen
• Dyskinesien
• Orthostase*
• Halluzinationen
• Dystonien
• Alterungsprozesse
• Begleit-
erkrankungen
• Andere
Behinderungen
Tabelle 1: Parkinsonsymptomatik auf Funktionsebene
*
können auch Primärdefizite, resp. kombinierte Defizite sein
Nicht alle Patienten leiden unter allen Symptomen. Je nach Fall kann ein Krankheitszeichen ausgeprägter sein,
während ein anderes nur abgeschwächt, gar nicht oder erst im weiteren Verlauf nach Jahren auftritt. Jede Person hat
"ihren eigenen Parkinson". Die komplexen Defizite auf Funktionsebene wirken sich auf die Leistung im praktischen
Alltag aus. Die Behinderungen auf Aktivitäts-und Partizipationsebene sind abhängig von Krankheitsstadium, aktuell
dominanter Symptomatik, Person bezogenem und umgebungsbezogenem Kontext.
●
Im Anfangsstadium (
Hoehn & Yahr I-II, Tabelle 2) sind hauptsächlich Gehfunktionen betroffen und manuelle
Geschicklichkeit/Feinmotorik beeinträchtigt. Es manifestiert sich hauptsächlich in langsamer (Bradykinese)
oder kleineren (Hypokinese) Bewegungen, welche vielleicht noch zusätzlich durch Tremor erschwert werden.
●
In der Spätphase (Hoehn & Yahr III-V, Tabelle 2) werden auch grobmotorische Aktivitäten und
Selbstversorgung zunehmend schwierig. Vermehrte unbewegliche Phasen (Akinese) oder sekundäre Symptome
wie reduzierte Muskelkraft/Beweglichkeit/Kondition beeinträchtigen die ADL-Aktivitäten. Zudem steigt in der
Spätphase die Gehunsicherheit und Sturzgefahr, vor allem bei komplexen Bewegungsabläufen, bei „Freezing“
und / oder bei „Dual-tasking“ (z.B. beim Drehen und Tragen, Gehen und Sprechen).
Ein Überblick von möglichen betroffenen Aktivitäten und Schwierigkeiten auf Partizipationsebene wird in der QRC
3 aufgelistet.
Hoehn & Yahr (H&Y)
Die Symptome sind zu Beginn eher gering ausgeprägt. Da Parkinson eine progrediente Krankheit ist, nehmen die
Symptome und damit die Behinderung im Verlauf zu. Die Skala von Hoehn & Yahr (12) (Tabelle 2) beschreibt die
Parkinsonsymptomatik in ihrem Verlauf und teilt diese in verschiedene Stadien ein. Es war der erste
Klassifikationsversuch. Diese Einteilung beinhaltet gemischte ICF-Komponenten, welche heute nicht mehr als
Assessment angewendet wird, sondern häufig als ‚schnelle‘ Beurteilung der Ausprägung der Erkrankung dient.
Hoehn & Yahr
Beschreibung
1
Anfangsstadium, leichte Symptome unilateral
1,5
Symptome unilateral und beginnende axiale Probleme
2
Bilaterale Symptome, keine Gleichgewichtprobleme. Leichte kyphotische Haltung möglich,
Verlangsamung und Sprachschwierigkeiten. Intakte Haltungsreflexe.
2,5
Mässige Symptomatik. Patient macht mehr als 2 Schritte beim Retropulsionstest
3
Haltung und Gleichgewicht sind eingeschränkt. Das Gehen wird schwierig, Patient kann aber
trotzdem selbständig gehen ohne Hilfsmittel
4
Starke Behinderung; Patient kann noch selbständig gehen oder stehen (aber braucht Hilfsmittel
oder Begleitung).
5
Invalidität, Rollstuhlabhängigkeit, Pflegebedürftigkeit
Tabelle 2: Klassifikation nach Hoehn & Yahr