3
Die Spätstadien des MP (Hoehn & Yahr IV-V, Tabelle 1) sind durch eine Zunahme der motorischen
und nichtmotorischen Symptome gekennzeichnet, respektive durch posturale Instabilität sowie
autonome und kognitive Beschwerden. MP ist eine komplexe Krankheit mit einer grossen Diversität.
Die Defizite können sowohl direkt durch den Dopaminmangel als auch durch parkinsonspezifische
Medikamente verursacht werden, oder mit Inaktivität der Betroffenen oder mit altersbedingten Faktoren
zusammen hängen.
3.2.1 Beeinträchtigung der motorischen Funktionen
77% bis 98% aller PMPs leiden unter Bradykinesie (langsame Bewegungen) und Hypokinese (kleines
Bewegungsausmass)
14
. Obwohl Ruhetremor das bekannteste Symptom ist, ist es nicht bei allen PMP als
Erstzeichen vorhanden. Bei Diagnosestellung zeigen ca 70% der PMP einen Ruhetremor
22
, im Verlauf
der Krankheit steigert sich dies auf bis zu 100%
14,23
. Rigor wurde in 89% bis 99% der Fälle in den
Extremitäten gefunden
14,15
und kann durch passives Durchbewegen der Extremitäten als gesteigerter
Widerstand gespürt werden. PMP beschreiben Rigor eher als eine Art Steifigkeit, welche häufig
Schmerzen auslöst, wie z.B. Schulterschmerzen, welches eine zusätzliche Beeinträchtigung sein
kann
15,24
. Auch im Bereich von Nacken und Rumpf kann (axialer) Rigor auftreten. Axialer Rigor spielt
eine wichtige Rolle im Entstehen von Haltungsdeformitäten wie Anterocollis, Skoliose, Pisasyndrom
und flektierter Nacken- und Rumpfhaltung mit flektierten Ellbogen und Knien
15
. Im späteren Verlauf
treten erste Stürze als Folge von reduzierten Haltungs-und posturalen Reflexen auf.
3.2.2 Beinträchtigungen der nicht-motorischen Funktionen
Nebst den motorischen Symptomen kommen zunehmend auch nicht-motorische Defizite zum
Vorschein
25,26
. Möglicherweise treten diese sogar vor dem Erscheinen der motorischen Symptome auf:
Störung des Riechsinnes, REM Schlaf Verhaltensstörung, Verstopfung und Depression
26–28
. Auch
mentale Beeinträchtigungen wie z.B. Gedächtnisdefizite, verlängerte Reaktionszeit, reduzierte
exekutive Funktionen (wie z.B. Planung, Dual Tasks, Selbstregulation) können beim Auftreten der
Erkrankung
29
vorhanden sein. Es sind eher die nicht-motorischen Symptome, welche die Lebensqualität
negativ beeinflussen
30
.
Im späteren Verlauf können weitere nicht-motorische Beeinträchtigungen dazu kommen: demenzielle
Entwicklung, Inkontinenz, innerliche Unruhe (40% der PMP ), Apathie (bis zu 50% der PMP)
31–33
und
sexuelle Dysfunktionen. Schätzungsweise 1 von 5
PMP erleiden eine Depression
31
.
3.3 Beeinträchtigungen auf Aktivitäts- und Partizipationsebene S.24
Aktivitätseinschränkungen, die hauptsächlich das tägliche Leben von PMP beeinträchtigen, sind
Schwierigkeiten bei Transfers (Aufstehen, Bettmobilität), Feinmotorik, Kommunikation, Essen, Gehen
und gangbezogenen Aktivitäten
34,35
. Die Einschränkungen sind abhängig vom Krankheitsstadium und
vom personen- sowie umgebungsbezogenen Kontext. Zusätzlich besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit,
dass PMP inaktiv werden. Inaktivität reduziert die allgemeine Kraft und Ausdauer massiv, was zu
weiteren Beeinträchtigungen der Aktivität und Vergrösserung der Risiken der Ko-Morbidität führt.
3.4 Lebensqualität S. 25
Der Verlust von Lebensqualität steigt mit fortschreitendem Krankheitsverlauf von durchschnittlich 33%
in der Frühphase bis zu 82% in der Spätphase. Hauptsächlich späte motorische und nicht-motorische
Defizite beeinflussen die Lebensqualität dramatisch: Depression und psychosoziales Wohlbefinden
30,36
,
bewegungsbezogene Einschränkungen, Schwierigkeiten beim Drehen und häufige Stürze
30,36,37
.
3.5 Krankheitsfortschritt, prognostische Faktoren und Sterblichkeit S.25
Der Krankheitsverlauf von MP wurde bereits 1976 von Hoehn&Yahr in 5 Stadien eingeteilt. Auch in
der klinischen Praxis verwenden viele Ärzte diese Skala (H&Y, Tabelle 1), um den Krankheitsfortschritt
zu klassifizieren. Er beinhaltet jedoch keine nicht-motorischen Symptome und ist nicht linear
38
. In H&Y
1 bis 2 werden PMP eingestuft, die in der frühen oder unkomplizierten Phase sind. Sie haben wenig
Schwierigkeiten in den ADL’s. In der komplizierten Phase (H&Y 3 bis 4) treten häufig ADL-
Schwierigkeiten sowie erste Stürze auf. H&Y 3 wird durch das Auftreten von verminderter aufrechter
Haltung charakterisiert und mit einer herabgesetzten Lebensqualität verbunden
39
. Schätzungsweise 4%
4
der PMP erreichen die späte Phase
40
(H&Y 5), wo PMP meist auf viel Hilfe angewiesen sind. In dieser
letzten Phase sind Pneumonien die häufigste Todesursache bei PMP
41–43
.
Die individuellen Schwankungen im Fortschreiten der Krankheit sind gross. Alter und Geschlecht
scheinen jedoch trotzdem eine Rolle zu spielen: Aus einem früheren Krankheitsbeginn (junges Alter bei
Krankheitsbeginn) resultiert eine höhere Wahrscheinlichkeit für Bewegungskomplikationen
44
und
Frauen erreichen die H&Y Phase 3 früher als Männer
44
, wobei sie auch früher
Bewegungskomplikationen erfahren, wie z.B. On-Off Tagesschwankungen oder Dyskinesien.
Hoehn &
Yahr
Beschreibung
1
leichte Symptome unilateral, minimale oder keine funktionellen Defizite
2
bilaterale oder axiale Symptome, keine Gleichgewichtsprobleme
3
bilaterale Symptome, leichte bis mässige funktionelle Defizite, reduzierte posturale
Reflexe, reduzierte Selbständigkeit
4
starke Behinderung in den Alltagsaktivitäten; fähig selbständig zu gehen oder stehen
5
Rollstuhlabhängigkeit, Bettlägerigkeit oder hohe Pflegebedürftigkeit
Tabelle 1:
Beschreibung der Krankheitsphasen nach Hoehn & Yahr
Im späteren Krankheitsverlauf werden PMP häufig in ein Altersheim eingewiesen. Bei 7 bis 27% der
PMP ist dies 10 Jahre nach Diagnose. Sehr häufig sind Stürze, Halluzinationen, demenzielle
Entwicklung oder hohe Belastung der pflegenden Angehörigen ein Grund für die Einweisung
45–48
. Eine
spezialisierte klinische Betreuung kann die medikamentöse Therapie optimieren, die Anzahl
Hüftfrakturen reduzieren
49,50
und die pflegenden Angehörigen entlasten. Somit kann die Einweisung in
ein Altersheim hinausgezögert werden.
4. Physiotherapie für PMP: Schwerpunkte
Gemäss den Europäischen Richtlinien
51
sind 5 Schwerpunkte der Physiotherapie bei PMP definierbar:
körperliche Leistungsfähigkeit, Transfers, Hand-/ Armgebrauch, Gleichgewicht und das Gehen
52,53
. Die
Therapie für die Haltung wird in den anderen Schwerpunkten integriert. Respiratorische Funktionen und
das Schmerzmanagement werden erläutert, da sie ebenfalls eine wichtige Rolle in der
physiotherapeutischen Behandlung der PMP
54
spielen. Der Fokus der Physiotherapie und das
Behandlungsziel sind personenspezifisch, und auf das aktuelle Stadium und das Fortschreiten der
Erkrankung bezogen (siehe QRC 3)
11,53
.
4.1 Körperliche Leistungsfähigkeit S. 37
PMP haben eine Tendenz zu einer eher inaktiven Lebensweise im Vergleich zu gleichaltrigen gesunden
Menschen: sie sind bis zu 1/3 weniger aktiv
55
. 24% dieser Inaktivität wurde durch die Schwere der
Krankheit, die Einbussen beim Gehen und der Behinderung in ADL
55
als vorhersehbar berechnet.
Mentale Symptome (z.B. Depression, Apathie, dementielle Entwicklung), Müdigkeit und persönliche
Faktoren wie Eigeninitiative beeinflussen dieses Verhalten ebenfalls
56
. Ausserdem kann Inaktivität Teil
einer kompensatorischen, fallverhindernden Strategie sein. Sturzangst ist ein vielfach auftretendes
Symptom bei PMP und kann zu einer Verminderung der auswärtigen, physischen Aktivitäten führen
57
.
Inaktivität spielt eine wichtige Rolle bei reduzierter Muskelkraft und Muskellänge, vor allem in den
gewichttragenden Muskeln bei älteren Personen
58
. Bei PMP wurde reduzierte Muskelkraft in den Beinen
mit erhöhtem Sturzrisiko und reduzierter Gehgeschwindigkeit assoziiert
59,60
. Gegenüber gleichaltrigen,
gesunden Personen ist für PMP die Kraft der Hüfte assoziiert mit dem Aufstehen und nicht mit der Kraft
der Knieextensoren
60
. Ausserdem ist bei PMP die Muskelkraft ein wichtiger Parameter für reduzierte
Muskelleistung und nicht Bradykinesie. Reduzierte Muskelkraft hängt auch mit der Leistungsminderung
des Gleichgewichts und der Mobilität zusammen
59,61,62
. Viele PMP zeigen aus noch unbekannten
Gründen zusätzlich eine allgemeine Veränderung der Haltung Richtung Flexion, häufig in Kombination
mit Lateroflexion. Langfristig führen posturale Veränderungen zu sekundärer Muskelschwäche, vor
allem in lumbalen und zervikalen Extensoren aber auch Schulteradduktoren, Hüft-/ und Knieextensoren.