Rudolf steiner



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vorbeischreitet in die geistige Welt hinein.

Betrachten wir dasjenige, was wir so gewonnen haben im Hinblick


auf das Durchschreiten der Todespforte. Da wird der physische Leib
vollständig abgelegt. Das Geistig-Seelische tritt jetzt so in die geistige
Welt ein, daß es zunächst den Wunsch entwickelt, wieder zum phy-
sischen Leibe zurückzukehren. Und dieses Geistig-Seelische, nachdem
es den physischen Leib abgelegt hat, das kann jetzt wieder zum Vor-
stellen kommen ohne den physischen Leib. Dieses Geistig-Seelische
war einfach zunächst, während es im physischen Leibe verkörpert
war, zu schwach, um zu ertragen die zerstörenden Kräfte. Jetzt, mit
dem Durchschreiten der Todespforte muß dieses Geistig-Seelische aber
stark genug sein, um sich nicht mehr nach dem physischen Leibe zu-
rückzusehnen. Da es nicht weiter bewußtlos bleibt, sondern in ein
wirkliches Bewußtsein eintritt mit dem Überschreiten der Todes-
pforte, muß es ein gewisses Gedankenleben aufnehmen, denn nur im
Gedankenleben kann man wirklich voll bewußt werden. Und das ist
auch der gewaltige Unterschied zwischen dem Überschreiten der
Schwelle beim Einschlafen und beim Durchgang durch den Tod. Beim
Einschlafen wird einfach die Gedankenwelt abgedämpft und kommt
erst wieder zurück, wenn der Mensch wieder aufwachend den phy-
sischen Leib betritt. Beim Tode nimmt er die Gedankenwelt ohne Ver-
mittlung des physischen Leibes mit dem Geistig-Seelischen auf. Was
ist das?

Der Mensch würde niemals morgens in seinen physischen Leib zu-


rückkehren, wenn er die geistige Welt kennen würde, mit ihr zusam-
mengewachsen wäre und nicht den Wunsch hätte, der unbewußt in
ihm sitzt, wieder zum physischen Leibe, das heißt aber, in die phy-
sische Welt zurückzukehren. Wünsche sind aber etwas, was nicht mit
dem vollen klaren Bewußtsein zusammenhängt, sondern gerade herab-
dämpft und herabdämmert dieses klare Bewußtsein. Der Mensch
kehrt des Morgens zurück in den Leib durch den Wunsch, und gerade
diese Wünsche sind es aber, nach dem Leibe hin, die ihm diese Gedan-
kenwelt abdämpfen. Und so kann er erst wieder, wenn er in dem
Leibe ist, das Gedankenleben finden. Im Tode sind aber die Wünsche
ertötet. Der Mensch tritt ein in die Weltgedanken. Er hat als Geistig-
Seelisches nun ein Gedankenleben, aber er würde in dieselbe Welt ein-
treten, in die er beim Einschlafen jeden Abend eintritt, wenn er wirk-
lich unvorbereitet in den Tod eintreten würde. Man kann schon sagen,
wenn man das extrem in dieser Hinsicht ausdrücken will: Wenn der
Mensch unvorbereitet in den Tod eintritt, dann ist er im Grunde einer
fürchterlichen Lage ausgesetzt; er ist ausgesetzt der Lage, das anzu-
schauen, was eigentlich mit seinem physischen Leibe geschieht. Sein
physischer Leib wird zerpulvert im kosmischen Weltenzusammen-
hange, denn wenn man den Leib nicht verbrennt, dann verbrennt ihn
der Kosmos. Und diesem müßte der Mensch zuschauen, wenn er nicht
vorbereitet wäre.

Was hat dies zur Folge und was hat nun zu geschehen, damit der


Mensch nicht bloß die Zerstörung sieht nach dem Tode, damit er nicht
bloß in zerstörenden Kräften lebt? Das hat zu geschehen, daß der
Mensch durch das Aufnehmen geistiger Inhalte, durch das Bewußtsein
in geistgemäßer Weltanschauung durch die Pforte des Todes eine in-
nere Verwandtschaft mit der göttlich-geistigen Welt trägt. Wenn der
Mensch nur ein Bewußtsein hat von einer physisch-materiellen Welt,
dann tritt er nach dem Tode allerdings furchtbar unvorbereitet in die
Welt der zerstörenden Kräfte ein wie in eine versengende Flammen-
welt. Durchdringt er sich mit den Vorstellungen einer geistigen Welt,
mit dem Bewußtsein von der geistigen Welt, dann wird die Flamme
zu der Geburtsstätte des Geistigen nach dem Tode, dann sieht man

nicht auf die Zerstörung allein hin, sondern in dem Herausfallen des


irdischen Staubes aus dem menschlichen Zusammenhang sieht man
sich erheben das Geistige. Und niemand darf sagen, man könne es ab-
warten, was geschieht, wenn der Tod eintritt, was die gewöhnliche
materialistische Vorstellung so gerne sagt! Nein, man muß hindurch-
tragen das Bewußtsein vom Geistigen durch die Pforte, damit man
das Zerstörende der Weltenkräfte, in die der Leichnam eintritt, mit
dem Geistig-Seelischen überwindet und damit sich aus dem Zerstören-
den das Geistig-Seelische neu schöpferisch erhebt.

Das entwickele ich Ihnen aus anthroposophischer Geisteswissen-


schaft heraus, aber Sie alle haben gewiß gehört von jener Furcht,
welche in älteren Zeiten die ahnende Erkenntnis der Menschen vor
dem Tode hatte, ahnende Erkenntnis der Menschen auch im Sinne der
Lehre des Apostels Paulus, der ja auch davon spricht, daß der Mensch
gerettet werden müsse davor, dem Tode zu verfallen mit seiner Seele.
Man war sich dessen bewußt, daß man nicht nur physisch sterben
kann dem Leichname nach, sondern auch der Seele nach. Von solchen
Dingen redet nur der Mensch nicht gerne, daß die Seele mitsterben
kann. Wenn Paulus vom Tode redet, redet er eigentlich nicht vom
physischen Tode, sondern von dem, was geschehen kann, indem der
physische Tod den geist-seelischen Tod nach sich ziehen möchte. Des-
sen muß der Mensch sich wieder bewußt werden, daß er etwas tun
muß, im physisch-sinnlichen Leben, um sein Bewußtsein mit dem See-
lisch-Geistigen zu verbinden, daß er etwas durch den Tod trägt, damit
sich ihm das Geistige erhebt aus der verzehrenden Flamme, die immer
da ist nach dem Tode.

Das muß daraus hervorgehen aus solchen Zusammenhängen, daß


es mit dem Leben im Weitenzusammenhange etwas furchtbar Ernstes
ist. Keine Weltanschauung ist eine des Menschen werte, die nicht
durch die innere Kraft zu einer moralischen Weltauffassung führt, die
nicht den ganzen Ernst des Lebens vor die menschliche Seele hinstellt.
Davon zu reden, daß physisch-chemische Kräfte die Erde aufgebaut
haben, daß daraus Lebewesen und zuletzt der Mensch sich ent-
wickelt haben, ist nicht nur eine einseitige Weltanschauung; das ist
auch eine Weltanschauung, welche dem Leben seinen Ernst nimmt

und im Grunde nur aus der Bequemlichkeit der Menschen folgt. Aus


einer Weltanschauung, die die richtige Stellung zum Geiste gewinnt,
folgt der Lebensernst, weil die Möglichkeit vor den Menschen sich
hinstellt, verbunden zu werden, wenn er durch die Todespforte geht,
mit den zerstörenden Kräften. Dem Menschen ist durch sein phy-
sisches Leben hindurch Gelegenheit gegeben, sich in entsprechender
Weise vorzubereiten, indem er behütet wird, jeden Abend beim Ein-
schlafen die zerstörende Welt, mit der er doch verwandt ist, zu
schauen, indem ihm Zeit gelassen ist, aufzunehmen dasjenige, was ihn
dann durch die Todespforte so leitet, daß er dann in der zerstörenden
Welt das Geistige erschauen kann. Das kann nicht genug betont wer-
den, daß Gefühle und Empfindungen in selbstverständlicher Weise
über das Leben erfolgen müssen aus einer Weltanschauung, daß eine
Weltanschauung nicht eine bloß abstrakte Theorie bleiben darf, son-
dern etwas Lebendiges werden muß, das Gefühl und Wille ergreift.
Und zu einem solchen Anschauen von der Welt muß sich die zivili-
sierte Menschheit wiederum hindurchringen. Dann wird sie in allem,
was vergänglich ist, wiederum das Unvergängliche sehen, dann aber
wird sie auch aus demjenigen, was nicht in einer feineren Weise egoi-
stisch im Menschen sich auslebt, zu dem Ewigen, zu dem Unsterb-
lichen vordringen.

Betrachten Sie von diesem Gesichtspunkte einmal die heutige Le-


benspraxis. Man muß es schon nicht übelnehmen, wenn derjenige, der
die Wahrheit zu sagen hat, auch so unangenehme Dinge zu sagen hat.
Betrachten wir zum Beispiel religiöse Unterweisungen. Auf was wird
eigentlich dabei gebaut? Auf den Egoismus! Man spricht zu dem
Menschen so, daß man ihm seine Unsterblichkeit, sein bewußtes
Durchgehen durch den Tod klarmachen will, weil der Mensch über
den Tod hinaus leben möchte. Diesen Wunsch hat der Mensch und ihn
will man ihm befriedigen, und weil es unbequem ist, an die Erkenntnis
zu appellieren, läßt man die Erkenntnis weg und beschränkt sich auf
den bloßen Glauben. Aber man redet da nur zu dem menschlichen
Egoismus, der sich interessiert, wie es nach dem Tode ausschaut, denn
das muß er abwarten. Wie es vor der Geburt ausschaut, das inter-
essiert ihn nicht. Das kann man nur durch Erkenntnis erfahren.

Durch Erkenntnis lernt man überhaupt das Ewige kennen, das sich


nicht nur über den Tod, sondern auch über die Empfängnis hinaus
erstreckt.

Bis in den Sprachgebrauch hinein zeigt sich, daß wir nur eine halbe


Erkenntnis haben über die Ewigkeit des Menschen; wir haben nur Un-
sterblichkeit. Wir müßten auch das Wort Ungeborenheit haben. Erst
wenn wir den Zusammenhang zwischen beiden erfassen, erfassen wir
endgültig des Menschen Ewigkeit. Bis in die Sprache hinein hat der
Mensch in unserem Zeitalter seinen Zusammenhang mit der geistigen
Welt abgeschworen. Dieser Zusammenhang muß wieder gefunden
werden. Ohne dieses Wiederfinden ist eine wirkliche Lebenspraxis
vollständig unmöglich, und es müßte ein vollständiger Niedergang der
gegenwärtigen Kultur erfolgen.

Wir haben in Stuttgart die Waldorfschule gegründet mit der Wal-


dorfschul-Pädagogik. Wenn man davon redet, knüpfen die Leute
allerlei Betrachtungen daran. Jüngst sagte man: Ja, warum beachtet
denn die Waldorfschul-Pädagogik so wenig die Ermüdung der Kin-
der. — Man muß doch heute sorgfältig die Ermüdung studieren. Es
gibt heute eine sogenannte experimentelle Psychologie. Man registriert,
wie das Kind unzusammenhängende Worte aufsagen kann und nach
einiger Zeit konstatiert man die Ermüdung, auch durch die Folge der
Lehrgegenstände, und ist sehr stolz darauf. Und nun bemerkt man:
Die Waldorfschul-Pädagogik redet nicht so viel von der Ermüdung
der Kinder, sie ist also nicht modern, sie beachtet das nicht. — War-
um ist das so? Die Waldorfschule redet weniger von der Ermüdung,
aber sie redet davon, daß die Kinder nach dem Zahnwechsel zunächst
so gepflegt und erzogen werden müssen, daß man die Erziehung vor-
zugsweise auf das rhythmische System hin anlegen muß, daß man
Künstlerisches pflegen muß, das den Rhythmus anregt; erst später
das abstrakte Schreiben und dann noch später das abstrakte Lesen. Es
wird nicht an den Kopf appelliert, sondern an das Künstlerische. Wer
so unterrichtet, wie das heute gemacht wird, wer mit den Kindern
immer nur solche Dinge treibt, die an den Kopf appellieren, der muß
mit der Ermüdung rechnen. Wenn man aber so erzieht, daß man vor-
zugsweise das Rhythmische, das Künstlerische in Anspruch nimmt,

da frage ich Sie: Ermüdet denn das Herz das Leben hindurch? Das


Herz muß schlagen, die Atmung muß fortdauern, und die Waldorf-
schul-Pädagogik braucht deshalb nicht von Ermüdung zu reden, weil
sie darauf hinarbeitet, die Kinder so zu erziehen, daß sie überhaupt
wenig ermüden. Die experimentelle Pädagogik ist eben zu einem Sy-
stem gekommen, das furchtbar ermüdet, weil sie selbst erst diese
furchtbare Ermüdung heraufbeschworen hat. [Lücken in der Nach-
schrift.] Bei der Waldorfschul-Pädagogik wird der Zusammenhang
von Leib, Seele und Geist ins Auge gefaßt und dasjenige verfolgt, was
aus der geistig-seelischen Welt sich mit der Körperlichkeit verbindet
und mit dem Tode sie wieder verläßt. Wenn es darauf ankommt, das
Materielle zu verstehen, dann ist es gerade Anthroposophie, welche
das Materielle verstehen kann.

Was ist am Kinde am regsten? Gerade die Gehirntätigkeit! Von


dieser strahlt aus die plastische Gestaltung des ganzen Leibes. Am
regsten ist diese bis zum Zahnwechsel. Beim Zahnwechsel überträgt
sich diese Bildungsfähigkeit auf das Atmungs-Herzsystem und bis
zur Geschlechtsreife hat man es mit diesem zu tun und da kann man
nur künstlerisch wirken, nicht theoretisch. Die Muskeln bilden sich so
innerlich zwischen dem siebenten und vierzehnten Jahre aus, daß das
dem rhythmischen System angepaßt ist. Und wenn das vierzehnte
Jahr herannaht, dann erst erfaßt das Seelisch-Geistige den ganzen
Menschen, und es ist interessant zu verfolgen, wie vorher die Muskeln
sich gerichtet haben nach dem Herzschlag, Pulsschlag und Atmen. So
fangen sie dann an, sich durch die Sehnen mit den Knochen zu be-
freunden, mit dem Skelett, und passen sich den äußeren Bewegungen
an. Lernen Sie nur ordentlich zu beobachten, wie der junge Mensch
sich ändert in diesem Lebensalter. [Lücken in der Nachschrift.] Vom
Kopf geht es aus, das Seelische wächst immer weiter und weiter der
Oberfläche des Menschen zu und ergreift zuletzt die Knochen, füllt
dann den Menschen ganz aus und verbraucht ihn, befreundet sich im-
mer mehr und mehr mit den Absterbekräften, bis diese Absterbekräfte
im Moment des Todes den Sieg davontragen.

Bis in die geringsten Einzelheiten hinein verfolgt anthroposophische


Geisteswissenschaft die geistigen Prozesse, wie sie sich in das mate-

Helle Leben hinein versenken und wie das Geistig-Seelische vom Kopf


aus den ganzen Menschen ergreift. Erst von solcher Erkenntnis aus
wird man Menschen wieder erziehen können. Der Verstand ist nötig,
damit wir die Freiheit finden können, aber er vertreibt die Sicherheit
der Instinkte. Ich hatte einen Freund. Der war, als wir beide jung
waren, ein ganz netter Mensch. Dann habe ich ihn wieder besucht,
denn ich wurde von ihm eingeladen. Ich hatte niemals an einem Mit-
tagsmahle teilgenommen, wo man eine Waage mit Gewichten auf-
gestellt hat. Da wurde eine Waage aufgetragen und er wog sich alles
dasjenige, was er aß, zuerst ab! Der Intellekt hatte herausgefunden,
wieviel man braucht, um den Leib zu erhalten, und das wurde dem
Leibe zugeführt. Der Intellekt vertreibt die Instinkte in Kleinigkeiten,
aber auch im Großen, und man muß den Weg wieder zurückfinden.
Es wird wiederum die Sicherheit des Lebens, der selbstverständliche
Halt des Lebens erlangt, denn man findet das zeitliche Leben gerade
dadurch in der richtigen Weise, daß man den ewigen Anteil an diesem
Zeitlichen findet, daß man weiß, wie dieses Ewige im Zeitlichen drin-
nen lebt; und das braucht unsere gegenwärtige Zivilisation.

Man muß diese Dinge schon auch als Weltfragen behandeln. Man


beachtet heute gar nicht, welche Gegensätze zwischen den Menschen
des Westens und des Ostens vorhanden sind. Man behandelt die äuße-
ren Fragen in äußerlicher Weise, redet auf Kongressen über den Aus-
gleich der schweren Lage, aber man beachtet nicht, daß Ost und West
nur dann zu einem wirtschaftlichen Ausgleich kommen können, wenn
sie Vertrauen zueinander haben. Die Asiaten werden niemals mit dem
Westen in der richtigen Weise zusammenwirken können, wenn sie
sich mit diesem nicht verstehen können. Verstehen aber kann man sich
nur aus der Seele heraus. Zu dem Wirtschaften in der Welt gehört also
seelisches Verständnis; dieses aber ist nur zu erringen durch Vertie-
fung des Seelenlebens. Deshalb sind heute die intimen Fragen des
menschlichen Seelenlebens zu gleicher Zeit die großen Weltfragen.
Man wird nicht eindringen in dasjenige, was die Welt heute braucht
auch in den äußeren öffentlichen Angelegenheiten, wenn man sich
nicht bequemen wird, hinzuhören auf das, was die Wissenschaft vom
Übersinnlichen zu sagen hat, denn die Welt ist anders geworden im

Laufe der Zeitentwickelung. Besonders das Menschengeschlecht ist


anders geworden.

Wir blicken zurück, wenn wir die Menschheitsentwickelung über-


schauen, zu demjenigen Ereignis, das dieser Menschheits- und Erden-
entwickelung überhaupt den Sinn gibt: zum Mysterium von Golgatha.
Dieses Mysterium von Golgatha, es war ja das Hereinkommen eines
Göttlichen durch einen irdischen Leib in die Erdenverhältnisse. Der
Christus ist in den Leib des Jesus von Nazareth eingetreten, um nun
überhaupt mit der Erde zu wirken. Die Erde hätte zugrunde gehen
müssen, verfallen müssen im Weltenzusammenhang, wenn nicht eine
neue Befruchtung durch das Hereinkommen des Christus geschehen
wäre. Nun wissen Sie auch, daß es vor alten Zeiten eine instinktive
Wissenschaft gegeben hat, eine Urweltweisheit, doch zur Zeit des
Mysteriums von Golgatha war nur noch wenig davon da in der abend-
ländischen Zivilisation. Aber so viel noch war da, daß das Mysterium
von Golgatha durch vier Jahrhunderte wenigstens noch instinktiv hat
begriffen werden können. Und wer wirklich kennt, wie in den ersten
Jahrhunderten der christlichen Entwickelung das Mysterium von
Golgatha in seiner übersinnlichen Bedeutung aufgefaßt worden ist,
der weiß, daß bis in das 4. Jahrhundert hinein die maßgebenden
christlichen Lehrer von dem Hereinkommen des Christus-Sonnengei-
stes in den Menschen Jesus von Nazareth gewußt haben.

Wer hat denn eigentlich heute noch ein lebendiges Bewußtsein, was


es heißt, ob in dem Menschen Jesus von Nazareth zwei Naturen, eine
göttliche und eine menschliche sind, oder nur eine? Das war aber
durchaus eine Lebensfrage in den ersten christlichen Jahrhunderten,
etwas, was im Leben eine Bedeutung hatte. Man hatte ein lebendiges
Bewußtsein davon, wie aus den Weltenweiten sich der Christus-Geist
verbunden hat mit dem Jesus. Da haben wir zwei Naturen in der
einen Persönlichkeit; den Gott und den Menschen.

Sie werden öfters gehört haben, daß der vierte nachatlantische


Zeitraum gedauert hat von 747 vor dem Mysterium von Golgatha un-
gefähr bis 1413 nach dem Mysterium von Golgatha. Seit dem ersten
Drittel des 15. Jahrhunderts beginnt der eigentliche Intellektualismus.
Wir schauen nun hinein in physische Kräfte, rechnen und treiben

Physik, aber wissen nichts mehr davon, daß da draußen geistige


Kräfte wirksam sind und daß da draußen wirklicher Geist vorhanden
ist, was man früher gewußt hat. Aber nehmen Sie diesen Zeitraum
von 747 vor Christus bis 1413, es ist der Zeitraum der vierten nach-
atlantischen Epoche. Wenn Sie 747 nehmen und dann bis 1413 gehen,
so bekommen Sie, wenn Sie halbieren, einen Zeitabschnitt, der gerade
in das vierte Jahrhundert nach Christus fällt, der auch zusammenfällt
mit dem vollständigen Abklingen derjenigen Weisheit, die noch das
Mysterium von Golgatha in spirituellem Sinne hat erfassen können.
Nachher war es nur ein verstandesmäßiges Diskutieren. Und als dann
das 15. Jahrhundert herankam, wurde der Menschenverstand für die
menschliche Zivilisation Alleinherrscher. Dadurch aber wurde das,
was auch eine lebendige Verbindung des Menschen mit dem Christus
darstellt, immer mehr und mehr hereingezogen in das bloß materielle
menschliche Denken. Und dann erlebte man im 19. Jahrhundert, wie
der Christus gerade für die fortgeschrittenste Theologie ganz ver-
lorengegangen ist, wie man es für aufgeklärt hielt, von einem bloßen
«Menschen von Nazareth» zu sprechen. Wenn man das in der ganzen
Schwere wiederum empfindet, muß man zu der Sehnsucht kommen,
die Christus-Wesenheit wiederum zu finden. Und diese Sehnsucht, den
Christus wieder finden zu können, möchte für die großen Welten-
fragen anthroposophische Weltanschauung befriedigen, und dazu ist
man wirklich gerade in Mitteleuropa ganz besonders vorbereitet, Sie
können das aus verschiedenen Symptomen sehen.

Ein großer Denker Westeuropas, Herbert Spencer, hat eine Schrift


über Erziehung geschrieben, die den Materialisten sehr gefällt, und
darin sagt er, alle Erziehung tauge nichts, wenn der Mensch nicht
dazu erzogen werde, wiederum den Menschen zu erziehen. Wie be-
gründet er das? Er sagt: Das Höchste, wozu es der Mensch bringen
kann im Leben, ist, wiederum Menschen zu erzeugen. Also muß auch
Erziehung das Höchste sein. — Das westliche Denken ist von der einen
Seite her richtig. Was sagt nun ein östlicher Denker? Bei Wladimir
Solowjew lebt aus dem Geiste des Ostens noch etwas sehr Altes. Für
die westliche Kultur ist die Urweisheit ganz verschwunden. Im Osten
hat sie sich noch als ein Gefühl erhalten. Solowjew hat noch etwas

von der wirklich christlichen Weisheit. Hier in Mittel- und West-


europa hat man nur ein Gottesbewußtsein; man hat kaum mehr ein
Wissen von dem Sohne. Harnack zum Beispiel spricht von Gott so, als
ob der Christus, der Sohn, gar nicht in die Evangelien gehöre, sondern
nur der Vater. Nur noch das Vaterbewußtsein ist da, das Gottes-
bewußtsein. Und was er sagt von dem Sohn, muß von dem Vater ge-
sagt werden. Solowjew hat eben noch etwas von dem Christus-
Bewußtsein, und wenn er redet, hat man manchmal das Gefühl, als
ob die alten Kirchenväter vor dem Konzil von Nicäa redeten.
Solowjew hat schon ganz andere Titel über seine Abhandlungen ge-
setzt, so zum Beispiel eine Abhandlung «Von Freiheit, Notwendig-
keit, Gnade und Sünde». Suchen Sie sich bei den westlichen Philo-
sophen eine Abhandlung über Gnade oder Sünde, bei Spencer oder
Mill oder Bergson, oder Wundt! Das gibt es im Westen nicht, ist ganz
undenkbar, das taucht in diesem Zusammenhang dort gar nicht auf.
Der östliche Philosoph redet noch so, und was sagt er? Ein Leben,
das den Menschen gegeben wäre auf dieser Erde, das nicht streben
müßte nach Vervollkommnung in der Wahrheit, das wäre kein wirk-
liches Menschenleben, das wäre wertlos, aber auch die Vervollkomm-
nung in der Wahrheit wäre wertlos, wenn der Mensch nicht Anteil an
der Unsterblichkeit hätte. Ein Weltbetrug wäre ein solches Leben. So
redet Solowjew, der östliche Philosoph. Und dann sagt er: Die eigent-
liche geistige Menschenaufgabe beginnt erst dann, wenn der Mensch
in das geschlechtsreife Alter eingetreten ist. — Der vollständige Gegen-
satz zu Spencer! Spencer schließt die Entwickelung ab mit der Erzeu-
gung der Nachkommenschaft, und der östliche Philosoph beginnt sie
erst da. So ist es in allen Fragen bis in die Fragen des wirtschaftlichen
Lebens hinein. So redet heute der westliche Wirtschafter, ohne etwas
zu verstehen von dem, was die Gefühle des östlichen Menschen sind
beim Wirtschaftsleben. Wir brauchen auch in den großen Weltfragen
eine welthistorische Besinnung heute und wir müssen uns klar sein,
daß das große Unglück der Menschheit im zweiten Jahrzehnt des
20. Jahrhunderts die große Aufforderung, die gewaltige Prüfung an
die Menschheit ist zu dieser Besinnung. Es muß aus den Untergründen
der Seele heraufsteigen eine ganz andere Behandlung des Lebens. Die

großen Fragen des Lebens, die über Geburt und Tod hinausliegen,


müssen in das gewöhnliche Menschenleben hineinspielen. Die Fragen
der Gegenwart müssen von dem Lichte der Ewigkeit beleuchtet wer-
den, sonst werden die Menschen von Kongreß zu Kongreß eilen und
immer mehr und mehr ins Unglück hineinsinken.

FÜNFTER VORTRAG


Breslau, 1. Februar 1922

Vorerst lassen Sie mich sagen, welche tiefe Befriedigung es mir ge-


währt, unter den Breslauer Freunden zu sein. Wir alle haben eine
schwere Zeit durchgemacht, die aber gerade uns vor Augen bringt,

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