Rudolf steiner



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ein persönliches Erlebnis anführen. Ich saß einmal in Leipzig zu-
sammen mit Haeckel und sagte ihm, es wäre ja eigentlich doch
schade, daß er bei so vielen Leuten dasjenige hervorriefe, was er
eigentlich gar nicht wolle, nämlich die Meinung, daß er den Geist
ganz ableugne. Da sagte er: Tue ich denn das? Ich möchte nur
einmal die Leute hinführen vor eine Retorte und ihnen zeigen,
wenn in der Retorte das und jenes vorgeht, wie da alles in Be-
wegung kommt. — Man sah, daß Haeckel sich unter Geschehnissen
des Geistes nichts anderes vorstellte als Geschehnisse der Bewe-
gung, aber in seiner Naivität konnte er nicht anders. Er sah die
Materie in Regsamkeit kommen und nannte das «geistig» sich
offenbaren. Er war gegenüber alledem, was man Geist und der-
gleichen nennt, im Grunde genommen naiv. Das gibt ein Urteil
über dasjenige, was in den neunziger Jahren bis zu der kleinen
Schrift «Haeckel und seine Gegner» hin von mir geschrieben wor-
den ist. Jeder, der wirklich lesen kann, wird gegenüber dieser
Schrift finden müssen, wie ich an entscheidender Stelle dasjenige
einfüge, was eine naturwissenschaftliche Grundlegung niemals bie-
ten kann. Es wird jeder sehen, daß ich in den neunziger Jahren
nichts anderes suchte als eine Auseinandersetzung zwischen dem,
was ich der allgemeinen Richtung nach in den achtziger Jahren in
meinen Goethe-Schriften angedeutet hatte, was ich dann in der
1897 erschienenen Schrift «Goethes Weltanschauung» weiter aus-
gebaut habe, und der naturwissenschaftlichen Richtung der Zeit.
Nichts anderes als eine gradlinige Fortsetzung alles dessen, um
was es sich damals handelte, ist dann gegeben in der fast gleich-
zeitig mit den «Welt- und Lebensanschauungen» geschriebenen
Schrift «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens
und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung». Es lag ein-
fach im gradlinigen Fortgange einer ernstgemeinten Forschung,
daß eingemündet werden mußte gerade aus den naturwissenschaft-
lichen Voraussetzungen heraus in dasjenige, was nun mit dieser
Schrift in Angriff genommen wurde. Ich glaube, man kann nicht
stärker und deutlicher diese Orientierung betonen, als es in der
Vorrede zu dieser Schrift geschehen ist.

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GOETHE ALS VATER EINER NEUEN ÄSTHETIK



Zur zweiten Auflage

Dieser Vortrag, der hiermit in zweiter Auflage erscheint, ist vor


mehr als zwanzig Jahren im Wiener Goethe-Verein gehalten wor-
den. Anläßlich dieser Neuausgabe einer meiner früheren Schriften
darf vielleicht das Folgende gesagt werden. Es ist vorgekommen,
daß man Änderungen meiner Anschauungen während meiner
schriftstellerischen Laufbahn gefunden hat. Wo gibt es ein Recht
hierzu, wenn eine mehr als zwanzig Jahre alte Schrift von mir
heute so erscheinen kann, daß auch nicht ein einziger Satz geändert
zu werden braucht? Und wenn man insbesondere in meinem gei-
steswissenschaftlichen (anthroposophischen) Wirken einen Um-
schwung in meinen Ideen hat finden wollen, so kann dem erwidert
werden, daß mir jetzt beim Durchlesen dieses Vortrags die in ihm
entwickelten Ideen als ein gesunder Unterbau der Anthroposophie
erscheinen. Ja, sogar erscheint es mir, daß gerade anthroposophische
Vorstellungsart zum Verständnisse dieser Ideen berufen ist. Bei
anderer Ideenrichtung wird man das Wichtigste, was gesagt ist,
kaum wirklich ins Bewußtsein aufnehmen. Was damals vor zwan-
zig Jahren hinter meiner Ideenwelt stand, ist seit jener Zeit von
mir nach den verschiedensten Richtungen ausgearbeitet worden;
das ist die vorliegende Tatsache, nicht eine Änderung der Welt-
anschauung.

Ein paar Anmerkungen, die zur Verdeutlichung am Schlüsse


angehängt werden, hätten ebensogut vor zwanzig Jahren geschrie-
ben werden können. Nun könnte noch die Frage aufgeworfen
werden, ob denn das im Vortrage Gesagte auch heute noch in
bezug auf die Ästhetik gilt. Denn in den letzten zwei Jahrzehnten
ist doch auch manches auf diesem Felde gearbeitet worden. Da
scheint mir, daß es gegenwärtig sogar noch mehr gilt als vor
zwanzig Jahren. Mit Bezug auf die Entwickelung der Ästhetik

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darf der groteske Satz gewagt werden: die Gedanken dieses Vor-


trags sind seit ihrem ersten Erscheinen noch wahrer geworden,
obgleich sie sich gar nicht geändert haben.

Basel, 15. September 1909.

Die Zahl der Schriften und Abhandlungen, die in unserer Zeit
erscheinen mit der Aufgabe, das Verhältnis Goethes zu den ver-
schiedensten Zweigen der modernen Wissenschaften und des
modernen Geisteslebens überhaupt zu bestimmen, ist eine er-
drückende. Die bloße Anführung der Titel würde wohl ein statt-
liches Bändchen füllen. Dieser Erscheinung liegt die Tatsache zu-
grunde, daß wir uns immer mehr bewußt werden, wir stehen in
Goethe einem Kulturfaktor gegenüber, mit dem sich alles, was an
dem geistigen Leben der Gegenwart teilnehmen will, notwendig
auseinandersetzen muß. Ein Vorübergehen bedeutete in diesem
Falle ein Verzichten auf die Grundlage unserer Kultur, ein Herum-
tummeln in der Tiefe ohne den Willen, sich zu erheben bis zur
lichten Höhe, von der alles Licht unserer Bildung ausgeht. Nur
wer es vermag, sich in irgendeinem Punkte an Goethe und seine
Zeit anzuschließen, der kann zur Klarheit darüber kommen, wel-
chen Weg unsere Kultur einschlägt, der kann sich der Ziele
bewußt werden, welche die moderne Menschheit zu wandeln hat;
wer diese Beziehung zu dem größten Geiste der neuen Zeit nicht
findet, wird einfach mitgezogen von seinen Mitmenschen und
geführt wie ein Blinder. Alle Dinge erscheinen uns in einem
neuen Zusammenhange, wenn wir sie mit dem Blick betrachten,
der sich an diesem Kulturquell geschärft hat.

So erfreulich aber das erwähnte Bestreben der Zeitgenossen ist,


irgendwo an Goethe anzuknüpfen, so kann doch keineswegs zu-
gestanden werden, daß die Art, in der es geschieht, eine durch-
wegs glückliche ist. Nur zu oft fehlt es an der gerade hier so
notwendigen Unbefangenheit, die sich erst in die volle Tiefe des
Goetheschen Genius versenkt, bevor sie sich auf den kritischen
Stuhl setzt. Man hält Goethe in vielen Dingen nur deswegen für

überholt, weil man seine ganze Bedeutung nicht erkennt. Man


glaubt weit über Goethe hinaus zu sein, während das Richtige
meist darinnen läge, daß wir seine umfassenden Prinzipien, seine
großartige Art, die Dinge anzuschauen, auf unsere jetzt vollkom-
meneren wissenschaftlichen Hilfsmittel und Tatsachen anwenden
sollten. Bei Goethe kommt es gar niemals darauf an, ob das Er-
gebnis seiner Forschungen mit dem der heutigen Wissenschaft
mehr oder weniger übereinstimmt, sondern stets nur darauf, wie
er die Sache angefaßt hat. Die Ergebnisse tragen den Stempel sei-
ner Zeit, das ist, sie gehen so weit, als wissenschaftliche Behelfe
und die Erfahrung seiner Zeit reichten; seine Art zu denken,
seine Art, die Probleme zu stellen, aber ist eine bleibende Errungen-
schaft, der man das größte Unrecht antut, wenn man sie von oben
herab behandelt. Aber unsere Zeit hat das Eigentümliche, daß ihr
die produktive Geisteskraft des Genies fast bedeutungslos erscheint.
Wie sollte es auch anders sein in einer Zeit, in der jedes Hinaus-
gehen über die physische Erfahrung in der Wissenschaft wie in
der Kunst verpönt ist. Zum bloßen sinnlichen Beobachten braucht
man weiter nichts als gesunde Sinne, und Genie ist dazu ein recht
entbehrliches Ding.

Aber der wahre Fortschritt in den Wissenschaften wie in der


Kunst ist niemals durch solches Beobachten oder sklavisches Nach-
ahmen der Natur bewirkt worden. Gehen doch Tausende und
aber Tausende an einer Beobachtung vorüber, dann kommt einer
und macht an derselben Beobachtung die Entdeckung eines groß-
artigen wissenschaftlichen Gesetzes. Eine schwankende Kirchen-
lampe hat wohl mancher vor Galilei gesehen; doch dieser geniale
Kopf mußte kommen, um an ihr die für die Physik so bedeu-
tungsvollen Gesetze der Pendelbewegung zu finden. «Wär' nicht
das Auge sonnenhaft, wie könnten wir das Licht erblicken», ruft
Goethe aus; er will damit sagen, daß nur der in die Tiefen der
Natur zu blicken vermag, der die notwendige Veranlagung dazu
hat und die produktive Kraft, im Tatsächlichen mehr zu sehen als
die bloßen äußeren Tatsachen. Das will man nicht einsehen. Man
sollte die gewaltigen Errungenschaften, die wir dem Genie Goethes
verdanken, nicht verwechseln mit den Mängeln, die seinen For-

schungen infolge des damaligen beschränkten Standes der Erfah-


rungen anhaften. Goethe selbst hat das Verhältnis seiner wissen-
schaftlichen Resultate zum Fortschritte der Forschung in einem
trefflichen Bilde charakterisiert; er bezeichnet die letzteren als
Steine, mit denen er sich auf dem Brette vielleicht zu weit vor-
gewagt, aus denen man aber den Plan des Spielers erkennen solle.
Beherzigt man diese Worte, dann erwächst uns auf dem Gebiete
der Goethe-Forschung folgende hohe Aufgabe: sie muß überall
auf die Tendenzen, die Goethe hatte, zurückgehen. Was er selbst
als Ergebnisse gibt, mag nur als Beispiel gelten, wie er seine
großen Aufgaben mit beschränkten Mitteln zu lösen versuchte.
Wir müssen sie in seinem Geiste, aber mit unseren größeren Mit-
teln und auf Grund unserer reicheren Erfahrungen zu lösen suchen.
Auf diesem Wege werden alle Zweige der Forschung, denen
Goethe seine Aufmerksamkeit zugewendet, befruchtet werden
können und, was mehr ist: sie werden ein einheitliches Gepräge
tragen, durchaus Glieder einer einheitlichen großen Weltanschau-
ung sein. Die bloße philologische und kritische Forschung, der
ihre Berechtigung abzusprechen ja eine Torheit wäre, muß von
dieser Seite her ihre Ergänzung finden. Wir müssen uns der Ge-
danken- und Ideenfülle, die in Goethe liegt, bemächtigen und von
ihr ausgehend wissenschaftlich weiterarbeiten.

Hier soll es meine Aufgabe sein, zu zeigen, inwiefern die ent-


wickelten Grundsätze auf eine der jüngsten und zugleich am mei-
sten umstrittenen Wissenschaften, auf die Ästhetik, Anwendung
finden. Die Ästhetik, das ist die Wissenschaft, die sich mit der
Kunst und ihren Schöpfungen beschäftigt, ist kaum hundert Jahre
alt. Mit vollem Bewußtsein, damit ein neues wissenschaftliches
Gebiet zu eröffnen, ist erst Alexander Gottlieb Baumgarten im Jahre
1750 hervorgetreten. In dieselbe Zeit fallen die Bemühungen
Winckelmanns und Lessings, über prinzipielle Fragen der Kunst
zu einem gründlichen Urteile zu kommen. Alles, was vorher auf
diesem Felde versucht worden ist, kann nicht einmal als elemen-
tarster Ansatz zu dieser Wissenschaft bezeichnet werden. Selbst
der große Aristoteles, dieser geistige Riese, der auf alle Zweige
der Wissenschaft einen so maßgebenden Einfluß geübt hat, ist für

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die Ästhetik ganz unfruchtbar geblieben. Er hat die bildenden


Künste ganz aus dem Kreise seiner Betrachtung ausgeschlossen,
woraus hervorgeht, daß er den Begriff der Kunst überhaupt nicht
gehabt hat, und außerdem kennt er kein anderes Prinzip als das
der Nachahmung der Natur, was uns wieder zeigt, daß er die Auf-
gabe des Menschengeistes bei seinen Kunstschöpfungen nie be-
griffen hat.

Die Tatsache, daß die Wissenschaft des Schönen so spät erst


entstanden ist, ist nun kein Zufall. Sie war früher gar nicht mög-
lich, einfach weil die Vorbedingungen dazu fehlten. Welche sind
nun diese? Das Bedürfnis nach der Kunst ist so alt wie die Mensch-
heit, jenes nach dem Erfassen ihrer Aufgabe konnte erst sehr spät
auftreten. Der griechische Geist, der vermöge seiner glücklichen
Organisation aus der unmittelbar uns umgebenden Wirklichkeit
seine Befriedigung schöpfte, brachte eine Kunstepoche hervor, die
ein Höchstes bedeutet; aber er tat es in ursprünglicher Naivität,
ohne das Bedürfnis, sich in der Kunst eine Welt zu erschaffen,
die eine Befriedigung bieten soll, die uns von keiner anderen Seite
werden kann. Der Grieche fand in der Wirklichkeit alles, was er
suchte; allem, wonach sein Herz verlangte, wonach sein Geist
dürstete, kam die Natur reichlich entgegen. Nie sollte es bei ihm
dazu kommen, daß in seinem Herzen die Sehnsucht entstände
nach einem Etwas, das wir vergebens in der uns umgebenden Welt
suchen. Der Grieche ist nicht herausgewachsen aus der Natur, des-
halb sind alle seine Bedürfnisse durch sie zu befriedigen. In un-
getrennter Einheit mit seinem ganzen Sein mit der Natur ver-
wachsen, schafft sie in ihm und weiß dann ganz gut, was sie ihm
anerschaffen darf, um es auch wieder befriedigen zu können. So
bildete denn bei diesem naiven Volke die Kunst nur eine Fort-
setzung des Lebens und Treibens innerhalb der Natur, war unmit-
telbar aus ihr herausgewachsen. Sie befriedigte dieselben Bedürf-
nisse wie ihre Mutter, nur im höheren Maße. Daher kommt es,
daß Aristoteles kein höheres Kunstprinzip kannte als die Naturnach-
ahmung. Man brauchte nicht mehr als die Natur zu erreichen,
weil man in der Natur schon den Quell aller Befriedigung hatte.
Was uns nur leer und bedeutungslos erscheinen müßte, die bloße

Naturnachahmung, war hier völlig ausreichend. Wir haben ver-


lernt, in der bloßen Natur das Höchste zu sehen, wonach unser
Geist verlangt; deswegen könnte uns der bloße Realismus, der
uns die jenes Höheren bare Wirklichkeit bietet, nimmer befrie-
digen. Diese Zeit mußte kommen. Sie war eine Notwendigkeit
für die sich zu immer höheren Stufen der Vollkommenheit fort-
entwickelnde Menschheit. Der Mensch konnte sich nur so lange
ganz innerhalb der Natur halten, solange er sich dessen nicht
bewußt war. Mit dem Augenblicke, da er sein eigenes Selbst in
voller Klarheit erkannte, mit dem Augenblicke, als er einsah, daß
in seinem Innern ein jener Außenwelt mindestens ebenbürtiges
Reich lebt, da mußte er sich losmachen von den Fesseln der Natur.
Jetzt konnte er sich ihr nicht mehr ganz ergeben, auf daß sie
mit ihm schalte und walte, daß sie seine Bedürfnisse erzeuge und
wieder befriedige. Jetzt mußte er ihr gegenübertreten, und damit
hatte er sich faktisch von ihr losgelöst, hatte sich in seinem Innern
eine neue Welt erschaffen, und aus dieser fließt jetzt seine Sehn-
sucht, aus dieser kommen seine Wünsche. Ob diese Wünsche, jetzt
abseits von der Mutter Natur erzeugt, von dieser auch befriedigt
werden können, bleibt natürlich dem Zufall überlassen. Jedenfalls
trennt den Menschen jetzt eine scharfe Kluft von der Wirklich-
keit, und er muß die Harmonie erst herstellen, die früher in ur-
sprünglicher Vollkommenheit da war. Damit sind die Konflikte
des Ideals mit der Wirklichkeit, des Gewollten mit dem Erreich-
ten, kurz alles dessen gegeben, was eine Menschenseele in ein
wahres geistiges Labyrinth führt. Die Natur steht uns da gegen-
über seelenlos, bar alles dessen, was uns unser Inneres als ein Gött-
liches ankündigt. Die nächste Folge ist das Abwenden von allem,
was Natur ist, die Flucht vor dem unmittelbar Wirklichen. Dies
ist das gerade Gegenteil des Griechentums. So wie das letztere alles
in der Natur gefunden hat, so findet diese Weltanschauung gar
nichts in ihr. Und in diesem Lichte muß uns das christliche Mittel-
alter erscheinen. Sowenig das Griechentum das Wesen der Kunst
zu erkennen vermochte, weil sie deren Hinausgehen über die Na-
tur, das Erzeugen einer höheren Natur gegenüber der unmittel-
baren, nicht begreifen konnte, ebensowenig konnte es die christ-

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liehe Wissenschaft des Mittelalters zu einer Kunsterkenntnis brin-


gen, weil ja die Kunst doch nur mit den Mitteln der Natur arbei-
ten konnte und die Gelehrsamkeit es nicht fassen konnte, wie man
innerhalb der gottlosen Wirklichkeit Werke schaffen kann, die
den nach Göttlichem strebenden Geist befriedigen können. Auch
hier tat die Hilflosigkeit der Wissenschaft der Kunstentwickelung
keinen Abbruch. Während die erstere nicht wußte, was sie darüber
denken solle, entstanden die herrlichsten Werke christlicher Kunst.
Die Philosophie, die in jener Zeit der Theologie die Schleppe
nachtrug, wußte der Kunst ebensowenig einen Platz in dem Kul-
turfortschritte einzuräumen, wie es der große Idealist der Griechen,
der «göttliche Plato», vermochte. Plato erklärte ja die bildende
Kunst und die Dramatik einfach für schädlich. Von einer selb-
ständigen Aufgabe der Kunst hat er so wenig einen Begriff, daß
er der Musik gegenüber nur deshalb Gnade für Recht walten läßt,
weil sie die Tapferkeit im Kriege befördert.

In der Zeit, in der Geist und Natur so innig verbunden waren,


konnte die Kunstwissenschaft nicht entstehen, sie konnte es aber
auch nicht in jener, in der sie sich als unversöhnte Gegensätze
gegenüberstanden. Zur Entstehung der Ästhetik war jene Zeit not-
wendig, in der der Mensch frei und unabhängig von den Fesseln
der Natur den Geist in seiner ungetrübten Klarheit erblickte, in
der aber auch schon wieder ein Zusammenfließen mit der Natur
möglich ist. Daß der Mensch sich über den Standpunkt des Grie-
chentums erhebt, hat seinen guten Grund. Denn in der Summe
von Zufälligkeiten, aus denen die Welt zusammengesetzt ist, in
die wir uns versetzt fühlen, können wir nimmer das Göttliche, das
Notwendige finden. Wir sehen ja nichts um uns als Tatsachen, die
ebensogut auch anders sein könnten; wir sehen nichts als Indivi-
duen, und unser Geist strebt nach dem Gattungsmäßigen, Urbild-
lichen; wir sehen nichts als Endliches, Vergängliches, und unser
Geist strebt nach dem Unendlichen, Unvergänglichen, Ewigen.
Wenn also der der Natur entfremdete Menschengeist zur Natur
zurückkehren sollte, so mußte dies zu etwas anderem sein als zu
jener Summe von Zufälligkeiten. Und diese Rückkehr bedeutet
Goethe: Rückkehr zur Natur, aber Rückkehr mit dem vollen

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Reichtum des entwickelten Geistes, mit der Bildungshöhe der


neuen Zeit.

Goethes Anschauungen entspricht die grundsätzliche Trennung


von Natur und Geist nicht; er will in der Welt nur ein großes
Ganzes erblicken, eine einheitliche Entwickelungskette von Wesen,
innerhalb welcher der Mensch ein Glied, wenn auch das höchste,
bildet. «Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen -
unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in
sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in
den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis
wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen.» (Siehe Goethes
Werke. Naturwissenschaftliche Schriften, 2. Bd. Hg. von Rudolf
Steiner in Kürschners Deutsche Nat.-Lit., S. 5f.) Und im Buche
über Winckelmann: «Wenn die gesunde Natur des Menschen als
ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen,
schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmo-
nische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt: dann
würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an
sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eignen Werdens
und Wesens bewundern.» Hierinnen liegt das echt Goethesche
weite Hinausgehen über die unmittelbare Natur, ohne sich auch
nur im geringsten von dem zu entfernen, was das Wesen der
Natur ausmacht. Fremd ist ihm, was er selbst bei vielen besonders
begabten Menschen findet: «Die Eigenheit, eine Art von Scheu
vor dem wirklichen Leben zu empfinden, sich in sich selbst zu-
rückzuziehen, in sich selbst eine eigene Welt zu erschaffen und
auf diese Weise das Vortrefflichste nach innen bezüglich zu lei-
sten.» Goethe flieht die Wirklichkeit nicht, um sich eine abstrakte
Gedankenwelt zu schaffen, die nichts mit jener gemein hat; nein,
er vertieft sich in dieselbe, um in ihrem ewigen Wandel, in ihrem
Werden und Bewegen, ihre unwandelbaren Gesetze zu finden, er
stellt sich dem Individuum gegenüber, um in ihm das Urbild zu
erschauen. So erstand in seinem Geiste die Urpflanze, so das
Urtier, die ja nichts anderes sind als die Ideen des Tieres und der
Pflanze. Das sind keine leeren Allgemeinbegriffe, die einer grauen
Theorie angehören, das sind die wesentlichen Grundlagen der Or-

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ganismen mit einem reichen, konkreten Inhalt, lebensvoll und an-


schaulich. Anschaulich freilich nicht für die äußeren Sinne, son-
dern nur für jenes höhere Anschauungsvermögen, das Goethe in
dem Aufsatze über «Anschauende Urteilskraft» bespricht. Die Ideen
im Goetheschen Sinne sind ebenso objektiv wie die Farben und
Gestalten der Dinge, aber sie sind nur für den wahrnehmbar, des-
sen Fassungsvermögen dazu eingerichtet ist, so wie Farben und
Formen nur für den Sehenden und nicht für den Blinden da sind.
Wenn wir dem Objektiven eben nicht mit einem empfänglichen
Geiste entgegenkommen, enthüllt es sich nicht vor uns. Ohne das
instinktive Vermögen, Ideen wahrzunehmen, bleiben uns diese im-
mer ein verschlossenes Feld. Tiefer als jeder andere hat hier Schil-
ler in das Gefüge des Goetheschen Genius geschaut.

Am 23. August 1794 klärte er Goethe über das Wesen, das sei-


nem Geist zugrunde liegt, mit folgenden Worten auf: «Sie neh-
men die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu
bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den
Erklärungsgrund für das Individuum auf. Von der einfachen Or-
ganisation steigen Sie, Schritt vor Schritt, zu der mehr verwickel-
ten auf, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen,
genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu er-
bauen. Dadurch, daß Sie ihn der Natur gleichsam nacherschaffen,
suchen Sie in seine verborgene Technik einzudringen.» In diesem
Nacherschaffen liegt ein Schlüssel zum Verständnis der Welt-
anschauung Goethes. Wollen wir wirklich zu den Urbildern der
Dinge, zu dem Unwandelbaren im ewigen Wechsel aufsteigen,
dann dürfen wir nicht das Fertiggewordene betrachten, denn dieses
entspricht nicht mehr ganz der Idee, die sich in ihm ausspricht,
wir müssen auf das Werden zurückgehen, wir müssen die Natur
im Schaffen belauschen. Das ist der Sinn der Goetheschen Worte
in dem Aufsatze «Anschauende Urteilskraft»: «Wenn wir ja im
Sittlichen durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns
in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern
sollen, so dürfte es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß
wir uns durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur
geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten. Hatte

ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes Urbild-


liche, Typische rastlos gedrungen.» (Goethes Werke, wie oben.
l. Bd. d. Naturw. Schr. S. 115.) Die Goetheschen Urbilder sind also
nicht leere Schemen, sondern sie sind die treibenden Kräfte hinter
den Erscheinungen.

Das ist die «höhere Natur» in der Natur, der sich Goethe be-


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