Rudolf steiner



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mächtigen will. Wir sehen daraus, daß in keinem Falle die Wirk-
lichkeit, wie sie vor unseren Sinnen ausgebreitet daliegt, etwas ist,
bei dem der auf höherer Kulturstufe angelangte Mensch stehen-
bleiben kann. Nur indem der Menschengeist diese Wirklichkeit
überschreitet, die Schale zerbricht und zum Kerne vordringt, wird
ihm offenbar, was diese Welt im Innersten zusammenhält. Nim-
mermehr können wir am einzelnen Naturgeschehen, nur am Natur-
gesetze, nimmermehr am einzelnen Individuum, nur an der All-
gemeinheit Befriedigung finden. Bei Goethe kommt diese Tatsache
in der denkbar vollkommensten Form vor. Was auch bei ihm
stehenbleibt, ist die Tatsache, daß für den modernen Geist die
Wirklichkeit, das einzelne Individuum keine Befriedigung bietet,
weil wir nicht schon in ihm, sondern erst, wenn wir über dasselbe
hinausgehen, das finden, in dem wir das Höchste erkennen, das
wir als Göttliches verehren, das wir in der Wissenschaft als Idee
ansprechen. Während die bloße Erfahrung zur Versöhnung der
Gegensätze nicht kommen kann, weil sie wohl die Wirklichkeit,
aber noch nicht die Idee hat, kann die Wissenschaft zu dieser Aus-
söhnung nicht kommen, weil sie wohl die Idee, aber die Wirklich-
keit nicht mehr hat. Zwischen beiden bedarf der Mensch eines
neuen Reiches; eines Reiches, in dem das Einzelne schon und nicht
erst das Ganze die Idee darstellt, eines Reiches, in dem das Indi-
viduum schon so auftritt, daß ihm der Charakter der Allgemein-
heit und Notwendigkeit innewohnt. Eine solche Welt ist aber in
der Wirklichkeit nicht vorhanden, eine solche Welt muß sich der
Mensch erst selbst erschaffen, und diese Welt ist die Welt der
Kunst: ein notwendiges drittes Reich neben dem der Sinne und
dem der Vernunft.

Und die Kunst als dieses dritte Reich zu begreifen, hat die


Ästhetik als ihre Aufgabe anzusehen. Das Göttliche, dessen die

Naturdinge entbehren, muß ihnen der Mensch selbst einpflanzen,


und hierinnen liegt eine hohe Aufgabe, die den Künstlern er-
wächst. Sie haben sozusagen das Reich Gottes auf diese Erde zu
bringen. Diese, man darf es wohl so nennen, religiöse Sendung der
Kunst spricht Goethe — im Buch über Winckelmann — in folgen-
den herrlichen Worten aus:

«Indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so


sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals
einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er
sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl,
Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich endlich bis
zur Produktion des Kunstwerkes erhebt, das neben seinen übrigen
Taten und Werken einen glänzenden Platz einnimmt. Ist es ein-
mal hervorgebracht, steht es in seiner idealen Wirklichkeit vor der
Welt, so bringt es eine dauernde Wirkung, es bringt die höchste
hervor; denn indem es aus den gesamten Kräften sich geistig ent-
wickelt, so nimmt es alles Herrliche, Verehrungs- und Liebens-
würdige in sich auf und erhebt, indem es die menschliche Gestalt
beseelt, den Menschen über sich selbst, schließt seinen Lebens- und
Tatenkreis ab und vergöttert ihn für die Gegenwart, in der das
Vergangene und Künftige begriffen ist. Von solchen Gefühlen
wurden die ergriffen, die den olympischen Jupiter erblickten, wie
wir aus den Beschreibungen, Nachrichten und Zeugnissen der
Alten uns entwickeln können. Der Gott war zum Menschen ge-
worden, um den Menschen zum Gott zu erheben. Man erblickte
die höchste Würde und ward für die höchste Schönheit begeistert.»

Damit war der Kunst ihre hohe Bedeutung für den Kultur-


fortschritt der Menschheit zuerkannt. Und es ist bezeichnend für
das gewaltige Ethos des deutschen Volkes, daß ihm zuerst diese
Erkenntnis aufging, bezeichnend, daß seit einem Jahrhundert alle
deutschen Philosophen danach ringen, die würdigste wissenschaft-
liche Form für die eigentümliche Art zu finden, wie im Kunst-
werke Geistiges und Natürliches, Ideales und Reales miteinander
verschmelzen. Nichts anderes ist ja die Aufgabe der Ästhetik, als
diese Durchdringung in ihrem Wesen zu begreifen und in den
einzelnen Formen, in denen sie sich in den verschiedenen Kunst-

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gebieten darlebt, durchzuarbeiten. Das Problem, zuerst in der von


uns angedeuteten Weise angeregt und damit alle ästhetischen
Hauptfragen eigentlich in Fluß gebracht zu haben, ist das Ver-
dienst der im Jahre 1790 erschienenen «Kritik der Urteilskraft»
Kants, deren Auseinandersetzungen Goethe sogleich sympathisch
berührten. Bei allem Ernst der Arbeit aber, der auf die Sache ver-
wandt wurde, müssen wir doch heute gestehen, daß wir eine all-
seitig befriedigende Lösung der ästhetischen Aufgaben nicht haben.
Der Altmeister unserer Ästhetik, der scharfe Denker und Kri-
tiker Friedrich Theodor Vischer, hat bis zu seinem Lebensende an
der von ihm ausgesprochenen Überzeugung festgehalten: «Ästhetik
liegt noch in den Anfängen.» Damit hat er eingestanden, daß alle
Bestrebungen auf diesem Gebiete, seine eigene fünfbändige Ästhe-
tik mit inbegriffen, mehr oder weniger Irrwege bezeichnen. Und so
ist es auch. Dies ist — wenn ich hier meine Überzeugung ausspre-
chen darf — nur auf den Umstand zurückzuführen, weil man
Goethes fruchtbare Keime auf diesem Gebiete unberücksichtigt
gelassen hat, weil man ihn nicht für wissenschaftlich voll nahm.
Hätte man das getan, dann hätte man einfach die Ideen Schillers
ausgebaut, die ihm in der Anschauung des Goetheschen Genius
aufgegangen sind und die er in den «Briefen über ästhetische Er-
ziehung» niedergelegt hat. Auch diese Briefe werden vielfach von
den systematisierenden Ästhetikern nicht für genug wissenschaft-
lich genommen, und doch gehören sie zu dem Bedeutendsten, was
die Ästhetik überhaupt hervorgebracht hat. Schiller geht von Kant
aus. Dieser Philosoph hat die Natur des Schönen in mehrfacher
Hinsicht bestimmt. Zuerst untersucht er den Grund des Vergnü-
gens, das wir an den schönen Werken der Kunst empfinden. Diese
Lustempfindung findet er ganz verschieden von jeder anderen. Ver-
gleichen wir sie mit der Lust, die wir empfinden, wenn wir es mit
einem Gegenstande zu tun haben, dem wir etwas uns Nutzenbrin-
gendes verdanken. Diese Lust ist eine ganz andere. Diese Lust
hängt innig mit dem Begehren nach dem Dasein dieses Gegen-
standes zusammen. Die Lust am Nützlichen verschwindet, wenn
das Nützliche selbst nicht mehr ist. Das ist bei der Lust, die wir
dem Schönen gegenüber empfinden, anders. Diese Lust hat mit

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dem Besitze, mit der Existenz des Gegenstandes nichts zu tun. Sie


haftet demnach gar nicht am Objekte, sondern nur an der Vorstel-
lung von demselben. Während beim Zweckmäßigen, Nützlichen
sogleich das Bedürfnis entsteht, die Vorstellung in Realität umzu-
setzen, sind wir beim Schönen mit dem bloßen Bilde zufrieden.
Deshalb nennt Kant das Wohlgefallen am Schönen ein von jedem
realen Interesse unbeeinflußtes, ein «interesseloses Wohlgefallen».
Es wäre aber die Ansicht ganz falsch, daß damit von dem Schönen
die Zweckmäßigkeit ausgeschlossen wird; das geschieht nur mit
dem äußeren Zwecke. Und daraus fließt die zweite Erklärung des
Schönen: «Es ist ein in sich zweckmäßig Geformtes, aber ohne
einem äußeren Zwecke zu dienen.» Nehmen wir ein anderes Ding
der Natur oder ein Produkt der menschlichen Technik wahr, dann
kommt unser Verstand und fragt nach Nutzen und Zweck. Und
er ist nicht früher befriedigt, bis seine Frage nach dem «Wozu»
beantwortet ist. Beim Schönen liegt das Wozu in dem Dinge
selbst, und der Verstand braucht nicht über dasselbe hinauszu-
gehen. Hier setzt nun Schiller an. Und er tut dies, indem er die
Idee der Freiheit in die Gedankenreihe hineinverwebt in einer
Weise, die der Menschennatur die höchste Ehre macht. Zunächst
stellt Schiller zwei unablässig sich geltend machende Triebe des
Menschen einander gegenüber. Der erste ist der sogenannte Stoff-
trieb oder das Bedürfnis, unsere Sinne der einströmenden Außen-
welt offenzuhalten. Da dringt ein reicher Inhalt auf uns ein, aber
ohne daß wir selbst auf seine Natur einen bestimmenden Einfluß
nehmen könnten. Mit unbedingter Notwendigkeit geschieht hier
alles. Was wir wahrnehmen, wird von außen bestimmt; wir sind
hier unfrei, unterworfen, wir müssen einfach dem Gebote der
Naturnotwendigkeit gehorchen. Der zweite ist der Formtrieb. Das
ist nichts anderes als die Vernunft, die in das wirre Chaos des
Wahrnehmungsinhaltes Ordnung und Gesetz bringt. Durch ihre
Arbeit kommt System in die Erfahrung. Aber auch hier sind wir
nicht frei, findet Schiller. Denn bei dieser ihrer Arbeit ist die Ver-
nunft den unabänderlichen Gesetzen der Logik unterworfen. Wie
dort unter der Macht der Naturnotwendigkeit, so stehen wir hier
unter jener der Vernunftnotwendigkeit. Gegenüber beiden sucht

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die Freiheit eine Zufluchtstätte. Schiller weist ihr das Gebiet der


Kunst an, indem er die Analogie der Kunst mit dem Spiel des
Kindes hervorhebt. Worinnen liegt das Wesen des Spieles? Es
werden Dinge der Wirklichkeit genommen und in ihren Verhält-
nissen in beliebiger Weise verändert. Dabei ist bei dieser Umfor-
mung der Realität nicht ein Gesetz der logischen Notwendigkeit
maßgebend, wie wenn wir zum Beispiel eine Maschine bauen, wo
wir uns strenge den Gesetzen der Vernunft unterwerfen müssen,
sondern es wird einzig und allein einem subjektiven Bedürfnis ge-
dient. Der Spielende bringt die Dinge in einen Zusammenhang,
der ihm Freude macht; er legt sich keinerlei Zwang auf. Die
Naturnotwendigkeit achtet er nicht, denn er überwindet ihren
Zwang, indem er die ihm überlieferten Dinge ganz nach Willkür
verwendet; aber auch von der Vernunftnotwendigkeit fühlt er sich
nicht abhängig, denn die Ordnung, die er in die Dinge bringt, ist
seine Erfindung. So prägt der Spielende der Wirklichkeit seine
Subjektivität ein, und dieser letzteren hinwiederum verleiht er ob-
jektive Geltung. Das gesonderte Wirken der beiden Triebe hat
aufgehört; sie sind in eins zusammengeflossen und damit frei ge-
worden: Das Natürliche ist ein Geistiges, das Geistige ein Natür-
liches. Schiller nun, der Dichter der Freiheit, sieht so in der Kunst
nur ein freies Spiel des Menschen auf höherer Stufe und ruft be-
geistert aus: «Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt,
... und er spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch
ist.» Den der Kunst zugrunde liegenden Trieb nennt Schiller den
Spieltrieb. Dieser erzeugt im Künstler Werke, die schon in ihrem
sinnlichen Dasein unsere Vernunft befriedigen und deren Ver-
nunftinhalt zugleich als sinnliches Dasein gegenwärtig ist. Und das
Wesen des Menschen wirkt auf dieser Stufe so, daß seine Natur
zugleich geistig und sein Geist zugleich natürlich wirkt. Die Natur
wird zum Geiste erhoben, der Geist versenkt sich in die Natur.
Jene wird dadurch geadelt, dieser aus seiner unanschaulichen Höhe
in die sichtbare Welt gerückt. Die Werke, die dadurch entstehen,
sind nun freilich deshalb nicht völlig naturwahr, weil in der Wirk-
lichkeit sich nirgends Geist und Natur decken; wenn wir daher die
Werke der Kunst mit jenen der Natur zusammenstellen, so er-

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scheinen sie uns als bloßer Schein. Aber sie müssen Schein sein,


weil sie sonst nicht wahrhafte Kunstwerke wären. Mit dem Be-
griffe des Scheines in diesem Zusammenhange steht Schiller als
Ästhetiker einzig da, unübertroffen, unerreicht. Hier hätte man
weiter bauen sollen und die zunächst nur einseitige Lösung des
Schönheitsproblemes durch die Anlehnung an Goethes Kunst-
betrachtung weiterführen sollen. Statt dessen tritt Schelling mit
einer vollständig verfehlten Grundansicht auf den Plan und inau-
guriert einen Irrtum, aus dem die deutsche Ästhetik nicht wieder
herausgekommen ist. Wie die ganze moderne Philosophie findet
auch Schelling die Aufgabe des höchsten menschlichen Strebens in
dem Erfassen der ewigen Urbilder der Dinge. Der Geist schreitet
hinweg über die wirkliche Welt und erhebt sich zu den Höhen,
wo das Göttliche thront. Dort geht ihm alle Wahrheit und Schön-
heit auf. Nur was ewig ist, ist wahr und ist auch schön. Die eigent-
liche Schönheit kann also nach Schelling nur der schauen, der sich
zur höchsten Wahrheit erhebt, denn sie sind ja nur eines und das-
selbe. Alle sinnliche Schönheit ist ja nur ein schwacher Abglanz
jener unendlichen Schönheit, die wir nie mit den Sinnen wahrneh-
men können. Wir sehen, worauf das hinauskommt: Das Kunst-
werk ist nicht um seiner selbst willen und durch das, was es ist,
schön, sondern weil es die Idee der Schönheit abbildet. Es ist dann
nur eine Konsequenz dieser Ansicht, daß der Inhalt der Kunst der-
selbe ist wie jener der Wissenschaft, weil sie ja beide die ewige
Wahrheit, die zugleich Schönheit ist, zugrunde legen. Für Schelling
ist Kunst nur die objektiv gewordene Wissenschaft. Worauf es
nun hier ankommt, das ist, woran sich unser Wohlgefallen am
Kunstwerke knüpft. Das ist hier nur die ausgedrückte Idee. Das
sinnliche Bild ist nur Ausdrucksmittel, die Form, in der sich ein
übersinnlicher Inhalt ausspricht. Und hierin folgen alle Ästhetiker
der idealistischen Richtung Schellings. Ich kann nämlich nicht
übereinstimmen mit dem, was der neueste Geschichtsschreiber und
Systematiker der Ästhetik, Eduard von Hartmann, findet, daß Hegel
wesentlich über Schelling in diesem Punkte hinausgekommen ist.
Ich sage in diesem Punkte, denn es gibt vieles andere, wo er ihn
turmhoch überragt. Hegel sagt ja auch: «Das Schöne ist das sinn-

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liehe Scheinen der Idee.» Damit gibt auch er zu, daß er in der


ausgedrückten Idee das sieht, worauf es in der Kunst ankommt.
Noch deutlicher wird dies aus folgenden Worten: «Die harte Rinde
der Natur und der gewöhnlichen Welt machen es dem Geiste
saurer, zur Idee durchzudringen, als die Werke der Kunst.» Nun,
darinnen ist doch ganz klar gesagt, daß das Ziel der Kunst das-
selbe ist wie das der Wissenschaft, nämlich zur Idee vorzudringen.
Die Kunst suche nur zu veranschaulichen, was die Wissenschaft
unmittelbar in der Gedankenform zum Ausdrucke bringt. Fried-
rich Theodor Vischer nennt die Schönheit «die Erscheinung der
Idee» und setzt damit gleichfalls den Inhalt der Kunst mit der
Wahrheit identisch. Man mag dagegen einwenden, was man will;
wer in der ausgedrückten Idee das Wesen des Schönen sieht, kann
es nimmermehr von der Wahrheit trennen. Was dann die Kunst
neben der Wissenschaft noch für eine selbständige Aufgabe haben
soll, ist nicht einzusehen. Was sie uns bietet, erfahren wir auf dem
Wege des Denkens ja in reinerer, ungetrübterer Gestalt, nicht erst
verhüllt durch einen sinnlichen Schleier. Nur durch Sophisterei
kommt man vom Standpunkte dieser Ästhetik über die eigentliche
kompromittierende Konsequenz hinweg, daß in den bildenden
Künsten die Allegorie und in der Dichtkunst die didaktische Poesie
die höchsten Kunstformen seien. Die selbständige Bedeutung der
Kunst kann diese Ästhetik nicht begreifen. Sie hat sich daher auch
als unfruchtbar erwiesen. Man darf aber nicht zu weit gehen und
deswegen alles Streben nach einer widerspruchslosen Ästhetik auf-
geben. Und es gehen in dieser Richtung zu weit jene, die alle
Ästhetik in Kunstgeschichte auflösen wollen. Diese Wissenschaft
kann denn, ohne sich auf authentische Prinzipien zu stützen, nichts
anderes sein als ein Sammelplatz für Notizensammlungen über
die Künstler und ihre Werke, an die sich mehr oder weniger geist-
reiche Bemerkungen schließen, die aber, ganz der Willkür des sub-
jektiven Raisonnements entstammend, ohne Wert sind. Von der
anderen Seite ist man der Ästhetik zu Leibe gegangen, indem man
ihr eine Art Physiologie des Geschmacks gegenüberstellt. Man
will die einfachsten, elementarsten Fälle, in denen wir eine Lust-
empfindung haben, untersuchen und dann zu immer komplizierte-

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ren Fällen aufsteigen, um so der «Ästhetik von oben» eine «Ästhe-


tik von unten» entgegenzusetzen. Diesen Weg hat Fechner in
seiner «Vorschule der Ästhetik» eingeschlagen. Es ist eigentlich
unbegreiflich, daß ein solches Werk bei einem Volke, das einen
Kant gehabt hat, Anhänger finden kann. Die Ästhetik soll von
der Untersuchung der Lustempfindung ausgehen; als ob jede Lust-
empfindung schon eine ästhetische wäre und als ob wir die ästhe-
tische Natur einer Lustempfindung von der einer anderen durch
irgend etwas anderes unterscheiden könnten als durch den Gegen-
stand, durch den sie hervorgebracht wird. Wir wissen nur, daß
eine Lust eine ästhetische Empfindung ist, wenn wir den Gegen-
stand als einen schönen erkennen, denn psychologisch als Lust
unterscheidet sich die ästhetische in nichts von einer ändern. Es
handelt sich immer um die Erkenntnis des Objektes. Wodurch
wird ein Gegenstand schön? Das ist die Grundfrage aller Ästhetik.
Viel besser als die «Ästhetiker von unten» kommen wir der
Sache bei, wenn wir uns an Goethe anlehnen. Merck bezeichnet
einmal Goethes Schaffen mit den Worten: «Du schaffst ganz
anders als die übrigen; diese suchen das sogenannte Imaginative
zu verkörpern, das gibt nur dummes Zeug; du aber suchst dem
Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben.»

Damit ist ungefähr dasselbe gesagt wie mit Goethes Worten im


zweiten Teil des «Faust»: «Das Was bedenke, mehr bedenke Wie.»
Es ist deutlich gesagt, worauf es in der Kunst ankommt. Nicht auf
ein Verkörpern eines Übersinnlichen, sondern um ein Umgestal-
ten des Sinnlich-Tatsächlichen. Das Wirkliche soll nicht zum Aus-
drucksmittel herabsinken: nein, es soll in seiner vollen Selbständig-
keit bestehen bleiben; nur soll es eine neue Gestalt bekommen,
eine Gestalt, in der es uns befriedigt. Indem wir irgendein Einzel-
wesen aus dem Kreise seiner Umgebung herausheben und es in
dieser gesonderten Stellung vor unser Auge stellen, wird uns daran
sogleich vieles unbegreiflich erscheinen. Wir können es mit dem
Begriffe, mit der Idee, die wir ihm notwendig zugrunde legen
müssen, nicht in Einklang bringen. Seine Bildung in der Wirk-
lichkeit ist eben nicht nur die Folge seiner eigenen Gesetzlichkeit,
sondern es ist die angrenzende Wirklichkeit unmittelbar mitbestim-

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mend. Hätte das Ding sich unabhängig und frei, unbeeinflußt


von anderen Dingen entwickeln können, dann nur lebte es seine
eigene Idee dar. Diese dem Dinge zugrunde liegende, aber in der
Wirklichkeit in freier Entfaltung gestörte Idee muß der Künstler
ergreifen und sie zur Entwickelung bringen. Er muß in dem Objekte
den Punkt finden, aus dem sich ein Gegenstand in seiner voll-
kommensten Gestalt entwickeln läßt, in der er sich aber in der
Natur selbst nicht entwickeln kann. Die Natur bleibt eben in jedem
Einzelding hinter ihrer Absicht zurück; neben dieser Pflanze schafft
sie eine zweite, dritte und so fort; keine bringt die volle Idee zu
konkretem Leben; die eine diese, die andere jene Seite, soweit es
die Umstände gestatten. Der Künstler muß aber auf das zurück-
gehen, was ihm als die Tendenz der Natur erscheint. Und das
meint Goethe, wenn er sein Schaffen mit den Worten ausspricht:
«Ich raste nicht, bis ich einen prägnanten Punkt finde, von dem
sich vieles ableiten läßt.» Beim Künstler muß das ganze Äußere
seines Werkes das ganze Innere zum Ausdruck bringen; beim
Naturprodukt bleibt jenes hinter diesem zurück, und der for-
schende Menschengeist muß es erst erkennen. So sind die Gesetze,
nach denen der Künstler verfährt, nichts anderes als die ewigen
Gesetze der Natur, aber rein, unbeeinflußt von jeder Hemmung.
Nicht was ist, liegt also den Schöpfungen der Kunst zugrunde,
sondern was sein könnte, nicht das Wirkliche, sondern das Mög-
liche. Der Künstler schafft nach denselben Prinzipien, nach denen
die Natur schafft; aber er behandelt nach diesen Prinzipien die
Individuen, während, um mit einem Goetheschen Worte zu reden,
die Natur sich nichts aus den Individuen macht. «Sie baut immer
und zerstört immer», weil sie nicht mit dem Einzelnen, sondern
mit dem Ganzen das Vollkommene erreichen will. Der Inhalt eines
Kunstwerkes ist irgendein sinnenfällig wirklicher — dies ist das
Was; in der Gestalt, die ihm der Künstler gibt, geht sein Bestre-
ben dahin, die Natur in ihren eigenen Tendenzen zu übertreffen,
das, was mit ihren Mitteln und Gesetzen möglich ist, in höherem
Maße zu erreichen, als sie es selbst imstande ist.

Der Gegenstand, den der Künstler vor uns stellt, ist vollkom-


mener, als er in seinem Naturdasein ist; aber er trägt doch keine

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andere Vollkommenheit als seine eigene an sich. In diesem Hinaus-


gehen des Gegenstandes über sich selbst, aber doch nur auf Grund-
lage dessen, was in ihm schon verborgen ist, liegt das Schöne.
Das Schöne ist also kein Unnatürliches; und Goethe kann mit
Recht sagen: «Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Natur-
gesetze, die ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen
geblieben», oder an einem anderen Orte: «Wem die Natur ihr
offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine
unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der
Kunst.» In demselben Sinne, in dem man sagen kann, das Schöne
sei ein Unreales, Unwahres, es sei bloßer Schein, denn was es dar-
stellt, finde sich in dieser Vollkommenheit nirgends in der Natur,
kann man auch sagen: das Schöne sei wahrer als die Natur, indem
es das darstellt, was die Natur sein will und nur nicht sein kann.
Über diese Frage der Realität in der Kunst sagt Goethe: «Der
Dichter» — und wir können seine Worte ganz gut auf die gesamte
Kunst ausdehnen — «der Dichter ist angewiesen auf Darstellung.
Das Höchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wett-
eifert, das heißt wenn ihre Schilderungen durch den Geist der-
gestalt lebendig sind, daß sie als gegenwärtig für jedermann gelten
können.» Goethe findet: «Es ist in der Natur nichts schön, was
nicht naturgesetzlich als wahr motiviert wäre.» (Gespräche mit
Eckermann III, 82.) Und die andere Seite des Scheines, das Über-
treffen des Wesens durch sich selbst, finden wir als Goethes An-
sicht ausgesprochen in «Sprüche in Prosa» (Goethes Werke, wie
oben. 4. Bd. d. Naturw. Sehr. 2. Abtig., S. 495): «In den Blüten tritt
das vegetabilische Gesetz in seine höchste Erscheinung, und die
Rose wäre nur wieder der Gipfel dieser Erscheinung... Die Frucht
kann nie schön sein, denn da tritt das vegetabilische Gesetz in
sich (ins bloße Gesetz) zurück.» Nun, da haben wir es doch ganz
deutlich, wo sich die Idee ausbildet und auslebt, da tritt das Schöne
ein, wo wir in der äußeren Erscheinung unmittelbar das Gesetz
wahrnehmen; wo hingegen, wie in der Frucht, die äußere Erschei-


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