Rudolf steiner



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nung formlos und plump erscheint, weil sie von dem der Pflan-
zenbildung zugrunde liegenden Gesetz nichts verrät, da hört das
Naturding auf, schön zu sein. Deshalb heißt es in demselben

Spruch weiter: «Das Gesetz, das in die Erscheinung tritt, in der


größten Freiheit, nach seinen eigensten Bedingungen, bringt das
Objektiv-Schöne hervor, welches freilich würdige Subjekte finden
muß, von denen es aufgefaßt wird.» Und in entschiedenster
Weise kommt diese Ansicht Goethes in folgendem Ausspruch
zum Vorschein, den wir in den Gesprächen mit Eckermann fin-
den (III. 108): «Der Künstler muß freilich die Natur im einzel-
nen treu und fromm nachbilden... allein in den höhern Regio-
nen des künstlerischen Verfahrens, wodurch ein Bild zum eigent-
lichen Bilde wird, hat er ein freieres Spiel, und er darf hier sogar
zu Fiktionen schreiten.» Als die höchste Aufgabe der Kunst
bezeichnet Goethe: «durch den Schein die Täuschung einer höhe-
ren Wirklichkeit zu geben. Ein falsches Bestreben sei es aber, den
Schein so lange zu verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines
Wirkliche übrigbleibt.» (Dichtung und Wahrheit, III. 40.)

Fragen wir uns jetzt einmal nach dem Grund des Vergnügens


an Gegenständen der Kunst. Vor allem müssen wir uns klar sein
darüber, daß die Lust, welche an den Objekten des Schönen befrie-
digt wird, in nichts nachsteht der rein intellektuellen Lust, die wir
am rein Geistigen haben. Es bedeutet immer einen entschiedenen
Verfall der Kunst, wenn ihre Aufgabe in dem bloßen Amüsement,
in der Befriedigung einer niederen Lust gesucht wird. Es wird
also der Grund des Vergnügens an Gegenständen der Kunst kein
anderer sein als jener, der uns gegenüber der Ideenwelt überhaupt
jene freudige Erhebung empfinden läßt, die den ganzen Menschen
über sich selbst hinaushebt. Was gibt uns nun eine solche Befrie-
digung an der Ideenwelt? Nichts anderes als die innere himm-
lische Ruhe und Vollkommenheit, die sie in sich birgt. Kein
Widerspruch, kein Mißton regt sich in der in unserem eigenen
Innern aufsteigenden Gedankenwelt, weil sie ein Unendliches in
sich ist. Alles, was dieses Bild zu einem vollkommenen macht,
liegt in ihm selbst. Diese der Ideenwelt eingeborene Vollkom-
menheit, das ist der Grund unserer Erhebung, wenn wir ihr gegen-
überstehen. Soll uns das Schöne eine ähnliche Erhebung bieten,
dann muß es nach dem Muster der Idee aufgebaut sein. Und dies
ist etwas ganz anderes, als was die deutschen idealisierenden Ästhe-

tiker wollen. Das ist nicht die «Idee in Form der sinnlichen Er-


scheinung», das ist das gerade Umgekehrte, das ist eine «sinnliche
Erscheinung in der Form der Idee». Der Inhalt des Schönen, der
demselben zugrunde liegende Stoff ist also immer ein Reales, ein
unmittelbar Wirkliches, und die Form seines Auftretens ist die
ideelle. Wir sehen, es ist gerade das Umgekehrte von dem richtig,
was die deutsche Ästhetik sagt; diese hat die Dinge einfach auf
den Kopf gestellt. Das Schöne ist nicht das Göttliche in einem
sinnlich-wirklichen Gewände; nein, es ist das Sinnlich-Wirkliche
in einem göttlichen Gewände. Der Künstler bringt das Göttliche
nicht dadurch auf die Erde, daß er es in die Welt einfließen läßt,
sondern dadurch, daß er die Welt in die Sphäre der Göttlichkeit
erhebt. Das Schöne ist Schein, weil es eine Wirklichkeit vor unsere
Sinne zaubert, die sich als solche wie eine Idealwelt darstellt. Das
Was bedenke, mehr bedenke Wie, denn in dem Wie liegt es, wor-
auf es ankommt. Das Was bleibt ein Sinnliches, aber das Wie des
Auftretens wird ein Ideelles. Wo diese ideelle Erscheinungsform
am Sinnlichen am besten erscheint, da erscheint auch die Würde
der Kunst am höchsten. Goethe sagt darüber: «Die Würde der
Kunst erscheint bei der Musik vielleicht am eminentesten, weil
sie keinen Stoff hat, der abgerechnet werden müßte. Sie ist ganz
Form und Gehalt und erhöht und veredelt alles, was sie aus-
drückt.» Die Ästhetik nun, die von der Definition ausgeht: «das
Schöne ist ein sinnliches Wirkliche, das so erscheint, als wäre es
Idee», diese besteht noch nicht. Sie muß geschaffen werden. Sie
kann schlechterdings bezeichnet werden als die «Ästhetik der
Goetheschen Weltanschauung». Und das ist die Ästhetik der Zu-
kunft. Auch einer der neuesten Bearbeiter der Ästhetik, Eduard
von Hartmann, der in seiner «Philosophie des Schönen» ein ganz
ausgezeichnetes Werk geschaffen hat, huldigt dem alten Irrtum,
daß der Inhalt des Schönen die Idee sei. Er sagt ganz richtig, der
Grundbegriff, wovon alle Schönheitswissenschaft auszugehen hat,
sei der Begriff des ästhetischen Scheines. Ja, aber ist denn das
Erscheinen der Idealwelt als solcher je als Schein zu betrachten!
Die Idee ist doch die höchste Wahrheit; wenn sie erscheint, so
erscheint sie eben als Wahrheit und nicht als Schein. Ein wirk-

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lieber Schein aber ist es, wenn das Natürliche, Individuelle in


einem ewigen, unvergänglichen Gewände, ausgestattet mit dem
Charakter der Idee,
erscheint; denn dieses kommt ihr eben in
Wirklichkeit nicht zu.

In diesem Sinne genommen, erscheint uns der Künstler als der


Fortsetzer des Weltgeistes; jener setzt die Schöpfung da fort, wo
dieser sie aus den Händen gibt. Er erscheint uns in inniger Ver-
brüderang
mit dem Weltengeiste und die Kunst als die freie Fort-
setzung des Naturprozesses. Damit erhebt sich der Künstler über
das gemeine wirkliche Leben, und er erhebt uns, die wir uns in
seine Werke vertiefen, mit ihm. Er schafft nicht für die endliche
Welt, er wächst über sie hinaus. Goethe läßt diese seine Ansicht
in seiner Dichtung «Künstlers Apotheose» von der Muse dem
Künstler mit den Worten zurufen:

«So wirkt mit Macht der edle Mann

Jahrhunderte auf seinesgleichen:

Denn was ein guter Mensch erreichen kann,

Ist nicht im engen Raum des Lebens zu erreichen.

Drum lebt er auch nach seinem Tode fort

Und ist so wirksam, als er lebte;

Die gute Tat, das schöne Wort,

Es strebt unsterblich, wie er sterblich strebte.

So lebst auch du (der Künstler) durch ungemeßne Zeit;

Genieße der Unsterblichkeit!»

Dieses Gedicht bringt überhaupt Goethes Gedanken über diese,


ich möchte sagen, kosmische Sendung des Künstlers vortrefflich
zum Ausdruck.

Wer hat wie Goethe die Kunst in solcher Tiefe erfaßt, wer


wußte ihr eine solche Würde zu geben! Wenn er sagt: «Die hohen
Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Men-
schen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht wor-
den. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen: da ist die
Notwendigkeit, da ist Gott», so spricht dies wohl genugsam für
die volle Tiefe seiner Ansichten. Eine Ästhetik in seinem Geiste
kann gewiß nicht schlecht sein. Und das wird wohl auch noch für

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manch anderes Kapitel unserer modernen Wissenschaften gelten.


Als Walther von Goethe, des Dichters letzter Nachkomme, am
15. April 1885 starb und die Schätze des Goethehauses der Nation
zugänglich wurden, da mochte wohl mancher achselzuckend auf
den Eifer der Gelehrten blicken, der sich auch der kleinsten Über-
bleibsel aus dem Nachlasse Goethes annahm und ihn wie eine
teure Reliquie behandelte, die man im Hinblicke auf die For-
schung keineswegs geringschätzend ansehen dürfe. Aber das Genie
Goethes ist ein unerschöpfliches, das nicht mit einem Blick zu
überschauen ist, dem wir uns nur von verschiedenen Seiten immer
mehr annähern können. Und dazu muß uns alles willkommen sein.
Auch was im einzelnen wertlos erscheint, gewinnt Bedeutung,
wenn wir es im Zusammenhange mit der umfassenden Welt-
anschauung des Dichters betrachten. Nur wenn wir den vollen
Reichtum der Lebensäußerungen durchlaufen, in denen sich dieser
universelle Geist ausgelebt hat, tritt uns sein Wesen, tritt uns seine
Tendenz, aus der bei ihm alles entspringt und die einen Höhe-
punkt der Menschheit bezeichnet, vor die Seele. Erst wenn diese
Tendenz Gemeingut aller geistig Strebenden wird, wenn der Glaube
ein allgemeiner sein wird, daß wir die Weltansicht Goethes nicht
nur verstehen sollen, sondern daß wir in ihr, sie in uns leben
muß, erst dann hat Goethe seine Sendung erfüllt. Diese Welt-
ansicht muß für alle Glieder des deutschen Volkes und weit über
dieses hinaus das Zeichen sein, in dem sie sich als in einem
gemeinsamen Streben begegnen und erkennen.

EINIGE BEMERKUNGEN


[zur 2. Auflage, 1909]

Zu Seite 26. Es ist hier von der Ästhetik als einer selbständigen


Wissenschaft die Rede. Man kann natürlich Ausführungen über
die Künste bei leitenden Geistern früherer Zeiten durchaus fin-
den. Ein Geschichtsschreiber der Ästhetik könnte aber alles dieses
nur so behandeln, wie man sachgemäß alles philosophische Stre-
ben der Menschheit vor dem wirklichen Beginn der Philosophie
in Griechenland mit Thaies behandelt.

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Zu Seiten 28 und 29. Es könnte auffallen, daß in diesen Ausfüh-


rungen gesagt wird: das mittelalterliche Denken finde «gar nichts»
in der Natur. Man könnte dagegen halten die großen Denker und
Mystiker des Mittelalters. Nun beruht aber ein solcher Einwand
auf einem völligen Mißverständnis. Es ist hier nicht gesagt, daß
mittelalterliches Denken nicht imstande gewesen wäre, sich Be-
griffe zu bilden von der Bedeutung der Wahrnehmung und so
weiter, sondern lediglich, daß der Menschengeist in jener Zeit
dem Geistigen als solchem, in seiner ureigenen Gestalt, zugewen-
det war und keine Neigung verspürte, mit den Einzeltatsachen der
Natur sich auseinanderzusetzen.

Zu Seite 37. Mit der «verfehlten Grundansicht» Schellings ist


keineswegs gemeint das Erheben des Geistes «zu den Höhen, wo
das Göttliche thront», sondern die Anwendung, die Schelling da-
von auf die Betrachtung der Kunst macht. Es soll das besonders
hervorgehoben werden, damit das hier gegen Schelling Gesagte
nicht mit den Kritiken verwechselt werde, die vielfach gegenwär-
tig im Umlauf sind gegen diesen Philosophen und gegen den philo-
sophischen Idealismus überhaupt. Man kann Schelling sehr hoch
stellen, wie es der Verfasser dieser Abhandlung tut, und dennoch
gegen Einzelheiten in seinen Leistungen viel einzuwenden haben.

Zu Seiten 40 und 41. Es wird die sinnliche Wirklichkeit in der


Kunst verklärt dadurch, daß sie so erscheint, als wenn sie Geist
wäre. Insofern ist das Kunstschaffen nicht eine Nachahmung von
irgend etwas schon Vorhandenem, sondern eine aus der mensch-
lichen Seele entsprungene Fortsetzung des Weltprozesses. Die bloße
Nachahmung des Natürlichen schafft ebensowenig ein Neues wie
die Verbildlichung des schon vorhandenen Geistes. Als einen wirk-
lich starken Künstler kann man nicht den empfinden, welcher auf
den Beobachter den Eindruck von treuer Wiedergabe eines Wirk-
lichen macht, sondern denjenigen, welcher zum Mitgehen mit
ihm zwingt, wenn er schöpferisch den Weltprozeß in seinen Wer-
ken fortführt.

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EINHEITLICHE NATURANSCHAUUNG


UND ERKENNTNISGRENZEN

Die Ansichten über den Wert und die Fruchtbarkeit der Philo-


sophie haben innerhalb unserer Nation in der jüngsten Zeit eine
tiefgehende Veränderung erfahren. Während zu Anfang des
Jahrhunderts Fichte, Schelling und Hegel mit kühnem Denker-
mute an der Lösung der Welträtsel arbeiteten und das mensch-
liche Erkenntnisvermögen fähig hielten, in die tiefsten Geheim-
nisse des Daseins einzudringen, vermeidet man es heute, auf die
zentralen Probleme der Wissenschaften einzugehen, denn man ist
überzeugt, daß die Beantwortung der letzten und höchsten Fragen
dem menschlichen Geiste unmöglich ist. Das Vertrauen in das
Denken ist uns verlorengegangen. Die Mutlosigkeit auf philoso-
phischem Gebiete wird immer allgemeiner. Wir können das an
der Wandlung sehen, die ein bedeutender und verdienstvoller Phi-
losoph der Gegenwart seit seinem in die Mitte der siebziger Jahre
fallenden ersten Auftreten durchgemacht hat. Ich meine Johannes
Volkelt. In scharfen Worten tadelte dieser Gelehrte 1875 in der
Einleitung zu seinem Buche über «Die Traum-Phantasie» die
Halbheit und Kraftlosigkeit des Denkens seiner Zeitgenossen, das
nicht in die Tiefen der Gegenstände eindringen will, sondern zag-
haft und unsicher an der Oberfläche derselben herumtastet. Und
als er im Jahre 1883 bei Übernahme der Philosophie-Professur in
Basel seine Antrittsrede hielt, da hatte diese Zaghaftigkeit ihn
selbst bis zu dem Grade ergriffen, daß er es als notwendige For-
derung beim philosophischen Denken proklamierte, auf eindeu-
tige, allseitig befriedigende Lösungen der letzten Fragen zu ver-
zichten und sich mit der Auffindung der verschiedenen Lösungs-
möglichkeiten sowie der Mittel und Wege, die zum Ziele führen
könnten, zu begnügen. Das heißt aber doch die Unsicherheit zu
einer charakteristischen Eigenschaft aller in die Tiefen gehenden
Forschung erklären. Ein deutlicher Beweis für die Entmutigung
auf philosophischem Gebiete ist die Entstehung einer Unzahl von
Schriften über Erkenntnistheorie. Niemand wagt es heute, sein
Erkenntnisvermögen bei Erforschung des Weltgeschehens anzu-

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wenden, bevor er ängstlich geprüft hat, ob das Instrument zu


einem solchen Beginnen auch tauglich sei. Der Philosoph Lotze
hat diese wissenschaftliche Tätigkeit mit den Worten verspottet:
das ewige Messerwetzen sei bereits langweilig geworden. — Diesen
Spott verdient die Erkenntnistheorie allerdings nicht, denn ihr
kommt es zu, die große Frage zu lösen: Inwieferne ist der Mensch
imstande, sich durch sein Wissen in den Besitz der Weltgeheim-
nisse zu setzen? — Haben wir darauf eine Antwort gefunden, so
ist damit ein wichtiger Teil des großen Lebensproblems gelöst:
In welchem Verhältnisse stehen wir zur Welt? — Unmöglich kön-
nen wir uns der Aufgabe entziehen, zu einer solch wichtigen
Arbeit unsere Werkzeuge zu prüfen und zu schärfen. Nicht der
Betrieb der erkenntnistheoretischen Forschung ist das Beklagens-
werte, wohl aber erscheint uns ein betrübendes Bild, wenn wir auf
die Ergebnisse dieser Forschung in den letzten Jahrzehnten blik-
ken. Das «Wetzen der Messer» hat nichts genützt, sie sind stumpf
geblieben. Die Erkenntnistheoretiker sind fast ausnahmslos zu der
Ansicht gekommen, daß die Zaghaftigkeit im Gebiete der Philo-
sophie mit Notwendigkeit aus dem Wesen unseres Erkenntnis-
vermögens folge; sie glauben, daß letzteres wegen der ihm gesetz-
ten unüberschreitbaren Grenzen bis zum Grund der Dinge über-
haupt nicht dringen könne. Eine Anzahl Philosophen behaupten,
die Erkenntniskritik führe zur Überzeugung, daß es eine Philo-
sophie neben den einzelnen Erfahrungswissenschaften nicht geben
könne und daß alles philosophische Denken nur die Aufgabe habe,
der empirischen Einzelforschung eine methodische Grundlegung
zu liefern. Wir haben akademische Lehrer der Philosophie, die
ihre eigentliche Sendung darin erblicken, das Vorurteil zu zerstö-
ren, daß es eine Philosophie gebe.

Diese Ansicht schädigt das gesamte wissenschaftliche Leben der


Gegenwart. Die Philosophen, denen selbst jeder Halt innerhalb
ihres Gebietes fehlt, vermögen auch auf die einzelnen Spezial-
wissenschaften nicht mehr jenen Einfluß auszuüben, der zur Ver-
tiefung der Forschung wünschenswert wäre. Wir haben in jüng-
ster Zeit an einem charakteristischen Beispiele gesehen, daß die
Vertreter der Einzelforschung alle Fühlung mit der Philosophie

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verloren haben. Sie zogen aus der Richtung der Kantianer, die sie


mit Recht als unfruchtbar für wahre Wissenschaft bezeichnen,
den falschen Schluß, daß die Philosophie als solche überflüssig sei.
Daher sehen sie die Beschäftigung mit derselben nicht mehr als
ein notwendiges Bedürfnis des Gelehrten an. Die Folge davon ist,
daß sie alles Verständnis für eine tiefere Auffassung der Welt
verlieren und gar nicht ahnen, daß ein im echten Sinne philoso-
phischer Blick sie überschaut und ihre Probleme viel gründlicher
zu fassen weiß, als sie selbst es können. Im Jahre 1869 erschien
Eduard von Hartmanns «Philosophie des Unbewußten». Der Verfas-
ser versuchte in einem Kapitel des Buches, sich mit dem Darwinis-
mus philosophisch auseinanderzusetzen. Er fand, daß die damals
herrschende Auffassung desselben einem folgerechten Denken
gegenüber nicht standhalten könne, und suchte sie zu vertiefen.
Die Folge davon war, daß er von Seiten der Naturforscher des
Dilettantismus beschuldigt und auf die denkbar schärfste Art ver-
urteilt wurde. In zahlreichen Aufsätzen und Schriften wurde ihm
Einsichtslosigkeit in naturwissenschaftlichen Dingen vorgeworfen.
Unter den gegnerischen Schriften befand sich auch die eines An-
onymus. Das darin Gesagte wurde von angesehenen Naturforschern
als das Beste und Sachgemäßeste bezeichnet, was gegen Hartmanns
Ansichten vorgebracht werden könne. Die Fachgelehrten hielten
den Philosophen für vollständig widerlegt. Der berühmte Zoologe
Dr. Oskar Schmidt sagte, die Schrift des Anonymus habe «alle,
welche nicht auf das Unbewußte eingeschworen sind, in ihrer
Überzeugung vollkommen bestätigt, daß der Darwinismus» — und
Schmidt meint die von den Naturforschern vertretene Auffassung
desselben — «im Rechte sei». Und der auch von mir als der größte
deutsche Naturforscher der Gegenwart verehrte Ernst Haeckel
schrieb: «Diese ausgezeichnete Schrift sagt im wesentlichen alles,
was ich selbst über die Philosophie des Unbewußten den Lesern
der Schöpfungsgeschichte hätte sagen können...»

Als später eine zweite Auflage der Schrift erschien, stand auf


dem Titelblatte als Name des Verfassers — Eduard von Hartmann.
Der Philosoph hatte zeigen wollen, daß es ihm durchaus nicht
unmöglich ist, sich in den naturwissenschaftlichen Gedankenkreis

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einzuleben und in der Sprache der Naturforscher zu reden, wenn


er will. Hartmann hat damit den Beweis geliefert, daß es nicht
den Philosophen an Verständnis für die Naturwissenschaft, son-
dern umgekehrt den Vertretern der letztern an Einsicht in die
Philosophie fehlt.

Nicht besser steht es mit der Literaturgeschichte. Die Anhänger


Scherers, welche gegenwärtig dieses Feld beherrschen, zeigen in
ihren Schriften, daß ihnen jegliche philosophische Bildung fehlt.
Scherer selbst stand der Philosophie fremd und ablehnend gegen-
über. Mit einer solchen Gesinnung kann man aber die deutschen
Klassiker unmöglich verstehen, denn deren Schöpfungen sind ganz
von dem philosophischen Geiste ihrer Zeit durchsetzt und nur aus
diesem heraus verständlich.

Wollen wir diese Tatsachen mit wenigen Worten zusammen-


fassen, so müssen wir sagen: der Glaube an die Philosophie hat in
den weitesten Kreisen eine tiefe Erschütterung erfahren.

Nach meiner Überzeugung, für die ich sogleich einige Beweise


bringen werde, ist die hiermit gekennzeichnete Strömung eine der
traurigsten wissenschaftlichen Verirrungen. Bevor ich aber meine
eigene Ansicht zum Ausdrucke bringe, sei es mir gestattet, anzu-
geben, worin der Grund des Irrtums zu suchen ist.

Unsere philosophische Wissenschaft steht unter dem mächtigen


Einflüsse des Kantianismus. Dieser Einfluß ist heute bedeutender,
als er zu irgendeiner Zeit gewesen ist. Im Jahre 1865 hat Otto
Liebmann in seiner Schrift «Kant und die Epigonen» die Forde-
rung erhoben: wir müssen in der Philosophie zu Kant zurück-
kehren. - In der Erfüllung dieser Forderung sieht er das Heil
seiner Wissenschaft. Er hat damit nur der Ansicht der überwie-
genden Mehrheit der Philosophen unserer Zeit Ausdruck gegeben.
Und auch die Naturforscher, insofern sich dieselben um philoso-
phische Begriffe noch bekümmern, sehen in der Kantschen Lehre
die einzig mögliche Form der Zentralwissenschaft. Von Philo-
sophen und Naturforschern ausgehend, ist diese Meinung auch in
die weiteren Kreise der Gebildeten gedrungen, die ein Interesse
für Philosophie haben. Damit hat die Kantsche Anschauungsweise
die Bedeutung einer treibenden Kraft in unserem wissenschaft-

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liehen Denken erlangt. Ohne je eine Zeile von Kant gelesen oder


einen Satz aus seiner Lehre gehört zu haben, sehen die meisten
unserer Zeitgenossen das Weltgeschehen in seiner Art an. Seit
einem Jahrhundert wird immer wieder und wieder das stolz klin-
gende Wort ausgesprochen: Kant habe die denkende Menschheit
von den Fesseln des philosophischen Dogmatismus befreit, wel-
cher leere Behauptungen über das Wesen der Dinge aufstellte,
ohne eine kritische Untersuchung darüber anzustellen, ob der
menschliche Geist auch fähig sei, über dieses Wesen etwas
schlechthin Gültiges auszumachen. — Für viele, welche dies Wort
aussprechen, ist aber an die Stelle des alten Dogmas nur ein neues
getreten, nämlich das von der unumstößlichen Wahrheit der Kant-
schen Grundanschauungen. Diese lassen sich in folgende Sätze zu-
sammenfassen: Ein Ding kann von uns nur wahrgenommen wer-
den, wenn es auf uns einen Eindruck macht, eine Wirkung aus-
übt. Dann ist es aber immer nur diese Wirkung, die wir wahr-
nehmen, niemals das «Ding an sich». Von dem letzteren können
wir uns keinerlei Begriff machen. Die Wirkungen der Dinge auf
uns sind nun unsere Vorstellungen. Was uns von der Welt be-
kannt ist, sind also nicht die Dinge, sondern unsere Vorstellungen
von den Dingen. Die uns gegebene Welt ist nicht eine Welt des
Seins, sondern eine Vorstellungs- oder Erscheinungswelt. Die Ge-
setze, nach denen die Einzelheiten dieser Vorstellungswelt ver-
knüpft sind, können dann natürlich auch nicht die Gesetze der
«Dinge an sich» sein, sondern jene unseres subjektiven Organis-
mus. Was für uns Erscheinung werden soll, muß sich den Geset-
zen unseres Subjektes fügen. Die Dinge können uns nur so er-
scheinen, wie es unserer Natur gemäß ist. Der Welt, die uns er-
scheint — und diese allein kennen wir —, schreiben wir selbst die
Gesetze vor.

Was Kant mit diesen Anschauungen für die Philosophie ge-


wonnen zu haben glaubte, wird klar, wenn man einen Blick auf
die wissenschaftlichen Strömungen wirft, aus denen er heraus-
gewachsen ist und denen er sich gegenüberstellt. Vor der Kant-
schen Reform waren die Lehren der Leibniz-Wolffschen Schule in
Deutschland die alleinherrschenden. Die Anhänger dieser Rich-

tung wollten auf dem Wege des rein begrifflichen Denkens zu


den Grundwahrheiten über das Wesen der Dinge kommen. Die
auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse galten als die klaren
und notwendigen gegenüber den durch sinnliche Erfahrung ge-
wonnenen, die man für verworren und zufällig ansah. Nur durch
reine Begriffe glaubte man auch zu wissenschaftlichen Einsichten
in den tieferen Zusammenhang der Weltereignisse, in die Natur
der Seele und Gottes, also zu den sogenannten absoluten Wahr-

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