Rudolf steiner



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dern die vielmehr die Ursache dessen ist, was wir wahrnehmen.

Es ist nun gar nicht zu verwundern, daß es dem dualistischen


Denker nicht gelingt, den Zusammenhang zwischen den beiden
von ihm angenommenen Weltprinzipien begreiflich zu machen.
Das eine ist ihm erfahrungsmäßig gegeben, das andere von ihm
hinzugedacht. Er kann also auch folgerichtig alles, was das eine
enthält, nur durch Erfahrung, was in dem ändern enthalten ist,
nur durch Denken gewinnen. Da aber aller Erfahrungsinhalt nur
eine Wirkung des hinzugedachten wahren Seins ist, so kann in
der unserer Beobachtung zugänglichen Welt nie die Ursache selbst
gefunden werden. Ebensowenig ist das Umgekehrte möglich: aus
der gedachten Ursache die erfahrungsmäßig gegebene Wirklich-
keit abzuleiten. Dies letztere deshalb nicht, weil nach unseren bis-
herigen Auseinandersetzungen alle solchen erdachten Ursachen nur
einseitige Bilder der vollen Wirklichkeit sind. Wenn wir ein sol-
ches Bild überblicken, so können wir mittels eines bloßen Ge-
dankenprozesses nie das darinnen finden, was nur in der beobach-
teten Wirklichkeit damit verbunden ist. Aus diesen Gründen wird
derjenige, welcher zwei Welten annimmt, die durch sich selbst
getrennt sind, niemals zu einer befriedigenden Erklärung ihrer
Wechselbeziehung kommen können.

Und hierinnen liegt die Veranlassung zur Annahme von Er-


kenntnisgrenzen. Der Anhänger der monistischen Weltanschau-
ung weiß, daß die Ursachen zu den ihm gegebenen Wirkungen
im Bereiche seiner Welt liegen müssen. Mögen die ersteren von
den letzteren räumlich oder zeitlich noch so weit entfernt liegen:
sie müssen sich im Bereiche der Erfahrung finden. Der Umstand,
daß von zwei Dingen, die einander gegenseitig erklären, ihm
augenblicklich nur das eine gegeben ist, erscheint ihm nur als
eine Folge seiner Individualität, nicht als etwas im Objekte selbst
Begründetes. Der Bekenner einer dualistischen Ansicht glaubt die
Erklärung für ein Bekanntes in einem willkürlich hinzugedachten

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Unbekannten annehmen zu müssen. Da er dieses letztere un-


berechtigterweise mit solchen Eigenschaften ausstattet, daß es sich
in unserer ganzen Welt nicht finden kann, so statuiert er hier eine
Grenze des Erkennens. Unsere Auseinandersetzungen haben den
Beweis geliefert, daß alle Dinge, zu denen unser Erkenntnis-
vermögen angeblich nicht gelangen kann, erst zu der Wirklich-
keit künstlich hinzugedacht werden müssen. Wir erkennen nur
dasjenige nicht, was wir erst unerkennbar gemacht haben. Kant
gebietet unserem Erkennen Halt vor dem Geschöpfe seiner Phan-
tasie, vor dem «Ding an sich», und Du Bois-Reymond stellt fest,
daß die unwahrnehmbaren Atome der Materie durch ihre Lage
und Bewegung Empfindung und Gefühl erzeugen, um dann zu
dem Schlüsse zu kommen: wir können niemals zu einer befrie-
digenden Erklärung darüber gelangen, wie Materie und Bewegung
Empfindung und Gefühl erzeugen, denn «es ist eben durchaus
und für immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-,
Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleich-
gültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und
sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden. Es ist in
keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammenwirken Be-
wußtsein entstehen könne». — Diese ganze Schlußfolgerung fällt
in nichts zusammen, wenn man erwägt, daß die sich bewegenden
und in bestimmter Weise gelagerten Atome eine Abstraktion
sind, der ein absolutes, von dem wahrnehmbaren Geschehen ab-
gesondertes Dasein gar nicht zugeschrieben werden darf.

Eine wissenschaftliche Zergliederung unserer Erkenntnistätig-


keit führt, wie wir gesehen haben, zu der Überzeugung, daß die
Fragen, die wir an die Natur zu stellen haben, eine Folge des
eigentümlichen Verhältnisses sind, in dem wir zur Welt stehen.
Wir sind beschränkte Individualitäten und können deshalb die
Welt nur stückweise wahrnehmen. Jedes Stück, an und für sich
betrachtet, ist ein Rätsel oder, anders ausgedrückt, eine Frage für
unser Erkennen. Je mehr der Einzelheiten wir aber kennenlernen,
desto klarer wird uns die Welt. Eine Wahrnehmung erklärt die
andere. Fragen, welche die Welt an uns stellt und die mit den
Mitteln, die sie uns bietet, nicht zu beantworten wären, gibt es

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nicht. Für den Monismus existieren demnach keine prinzipiellen


Erkenntnisgrenzen. Es kann zu irgendeiner Zeit dies oder jenes
unaufgeklärt sein, weil wir zeitlich oder räumlich noch nicht in
der Lage waren, die Dinge aufzufinden, welche dabei im Spiele
sind. Aber was heute noch nicht gefunden ist, kann es morgen
werden. Die hierdurch bedingten Grenzen sind nur zufällige, die
mit dem Fortschreiten der Erfahrung und des Denkens verschwin-
den. In solchen Fällen tritt dann die Hypothesenbildung in ihr
Recht ein. Hypothesen dürfen nicht über etwas aufgestellt werden,
das unserer Erkenntnis prinzipiell unzugänglich sein soll. Die
atomistische Hypothese ist eine völlig unbegründete. Eine Hypo-
these kann nur eine Annahme über einen Tatbestand sein, der
uns aus zufälligen Gründen nicht zugänglich ist, der aber seinem
Wesen nach der uns gegebenen Welt angehört. Berechtigt ist zum
Beispiel eine Hypothese über einen bestimmten Zustand unserer
Erde in einer längst verflossenen Periode. Zwar kann dieser Zu-
stand nie Objekt der Erfahrung werden, weil mittlerweile ganz
andere Bedingungen eingetreten sind. Wenn aber ein wahr-
nehmendes Individuum zu der vorausgesetzten Zeit dagewesen
wäre, dann hätte es den Zustand wahrgenommen. Unberechtigt
dagegen ist die Hypothese, daß alle Empfindungsqualitäten nur
quantitativen Vorgängen ihre Entstehung verdanken, weil quali-
tätslose Vorgänge nicht wahrgenommen werden können.

Der Monismus oder die einheitliche Naturerklärung geht aus


einer kritischen Selbstbetrachtung des Menschen hervor. Diese
Betrachtung führt uns zur Ablehnung aller außerhalb der Welt
gelegenen erklärenden Ursachen derselben. Wir können diese Auf-
fassung aber auch auf das praktische Verhältnis des Menschen zur
Welt ausdehnen. Das menschliche Handeln ist ja nur ein speziel-
ler Fall des allgemeinen Weltgeschehens. Seine Erklärungsprin-
zipien dürfen daher gleichfalls nur innerhalb der uns gegebenen
Welt gesucht werden. Der Dualismus, der die Grundkräfte der
uns vorliegenden Wirklichkeit in einem uns unzugänglichen Reiche
sucht, versetzt dahin auch die Gebote und Normen unseres Han-
delns. Auch Kant ist in diesem Irrtume befangen. Er hält das
Sittengesetz für ein Gebot, das von einer uns fremden Welt dem

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Menschen auferlegt ist, für einen kategorischen Imperativ, dem er


sich zu fügen hat, auch dann, wenn seine eigene Natur Neigun-
gen entfaltet, die einer solchen aus einem Jenseits in unser Dies-
seits hereintönenden Stimme sich widersetzen. Man braucht sich
nur an Kants bekannte Apostrophe an die Pflicht zu erinnern,
um das erhärtet zu finden: «Pflicht! du erhabener großer Name,
der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in
dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst», der du «ein Gesetz
aufstellst..., vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich
im geheimen ihm entgegenwirken.» Einem solchen von außen
der menschlichen Natur aufgedrungenen Imperativ setzt der Monis-
mus die aus der Menschenseele selbst geborenen sittlichen Motive
entgegen. Es ist eine Täuschung, wenn man glaubt, der Mensch
könne nach anderen als selbstgemachten Geboten handeln. Die
jeweiligen Neigungen und Kulturbedürfnisse erzeugen gewisse
Maximen, die wir als unsere sittlichen Grundsätze bezeichnen. Da
gewisse Zeitalter oder Völker ähnliche Neigungen und Bestre-
bungen haben, so werden die Menschen, die denselben angehören,
auch ähnliche Grundsätze aufstellen, um sie zu befriedigen. Jeden-
falls aber sind solche Grundsätze, die dann als ethische Motive
wirken, durchaus nicht von außen eingepflanzt, sondern aus den
Bedürfnissen heraus geboren, also innerhalb der Wirklichkeit
erzeugt, in der wir leben. Der Moralkodex eines Zeitalters oder
Volkes ist einfach der Ausdruck dafür, wie man innerhalb der-
selben den herrschenden Kulturzielen am besten sich zu nähern
glaubt. So wie die Naturwirkungen aus Ursachen entspringen, die
innerhalb der gegebenen Natur liegen, so sind unsere sittlichen
Handlungen die Ergebnisse von Motiven, die innerhalb unseres
Kulturprozesses liegen. Der Monismus sucht also den Grund
unserer Handlungen im strengsten Sinne des Wortes innerhalb
der menschlichen Natur. Er macht dadurch den Menschen aber
auch zu seinem eigenen Gesetzgeber. Der Dualismus fordert Unter-
werfung unter die von irgendwoher geholten sittlichen Gebote;
der Monismus weist den Menschen auf sich selbst, auf seine auto-
nome Wesenheit. Er macht ihn zum Herrn seiner selbst. Erst vom
Standpunkte des Monismus aus können wir den Menschen als

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wahrhaft freies Wesen im ethischen Sinne auffassen. Nicht von


einem ändern Wesen stammende Pflichten sind ihm auferlegt,
sondern sein Handeln richtet sich einfach nach den Grundsätzen,
von denen jeder findet, daß sie ihn zu den Zielen führen, die von
ihm als erstrebenswert angesehen werden. Eine dem Boden des
Monismus entsprungene sittliche Anschauung ist die Feindin alles
blinden Autoritätsglaubens. Der autonome Mensch folgt eben
nicht der Richtschnur, von der er bloß glauben soll, daß sie ihn
zum Ziele führe, sondern er muß einsehen, daß sie ihn dahin
führe, und das Ziel selbst muß ihm individuell als ein erwünsch-
tes erscheinen. Hier ist auch der Grundgedanke des modernen
Staates zu suchen, der auf die Volksvertretung gestützt ist. Der
autonome Mensch will nach Gesetzen regiert werden, die er sich
selbst gegeben hat. Wären die sittlichen Maximen ein für allemal
fest bestimmt, dann brauchten sie einfach kodifiziert zu werden,
und die Regierung hätte sie zu vollstrecken. Zur Regierung wäre
die Kenntnis des allgemein-menschlichen Moralkodex hinreichend.
Wenn dann immer der Weiseste, der den Inhalt dieses heiligen
Buches am besten kennt, an der Spitze des Staates stünde, so wäre
das Ideal einer menschlichen Verfassung erreicht. In dieser Weise
etwa hat sich Plato die Sache gedacht. Der Weiseste hätte zu
befehlen und die anderen zu gehorchen. Die Volksvertretung hat
nur einen Sinn unter der Voraussetzung, daß die Gesetze der Aus-
fluß der Kulturbedürfnisse einer Zeit sind, und diese letzteren
wurzeln wieder in den Bestrebungen und Wünschen der einzelnen
Individualität. Durch die Volksvertretung soll erreicht werden,
daß das Individuum nach Gesetzen regiert wird, von denen es sich
sagen kann, daß sie seinen eigenen Neigungen und Zielen ent-
sprechen. Der Staatswille soll auf diese Weise in die möglichste
Kongruenz gebracht werden mit dem Individualwillen. Mit Hilfe
der Volksvertretung gibt der autonome Mensch sich selbst seine
Gesetze. Durch die moderne Staatsverfassung soll also dasjenige
zur Geltung kommen, was im Gebiete des Sittlichen allein Wirk-
lichkeit hat, nämlich die Individualität, im Gegensatze zu dem
Staate, der sich auf Autorität und Gehorsam stützt und der keinen
Sinn hat, wenn man nicht den abstrakten sittlichen Normen eine

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objektive Realität zusprechen wollte. Ich will nicht behaupten,


daß wir gegenwärtig diesen von mir gekennzeichneten Idealstaat
überall als wünschenswert hinstellen dürfen. Dazu sind die Nei-
gungen der Menschen, die zu unseren Volksgemeinschaften gehö-
ren, zu ungleiche. Ein großer Teil des Volkes wird von zu niedri-
gen Bedürfnissen beherrscht, als daß wir wünschen sollten, der
Staatswille solle der Ausdruck solcher Bedürfnisse sein. Aber die
Menschheit ist in fortwährender Entwickelung begriffen, und eine
vernünftige Volkspädagogik wird den allgemeinen Bildungsstand
so zu heben versuchen, daß jeder Mensch fähig sein kann, sein
eigener Herr zu sein. In dieser Richtung muß sich unsere Kultur-
entwickelung bewegen. Nicht durch Bevormundungsgesetze, welche
die Menschen davor bewahren, zum Spielballe ihrer blinden Triebe
zu werden, fördern wir die Kultur, sondern dadurch, daß wir die
Menschen dazu bringen, nur in den höheren Neigungen ein
erstrebenswertes Ziel zu suchen. Dann können wir sie auch ohne
Gefahr ihre eigenen Gesetzgeber werden lassen. In der Erweite-
rung der Erkenntnis liegt also allein die Aufgabe der Kultur.
Wenn dagegen in unserer Zeit sich Vereinigungen bilden, welche
die Sittlichkeit für unabhängig von der Erkenntnis erklären wol-
len, wie etwa die «Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur», so
ist das ein verhängnisvoller Irrtum. Diese Gesellschaft will die
Menschen dazu veranlassen, den allgemein-menschlichen sittlichen
Normen gemäß zu leben. Ja, sie will auch einen Kodex solcher
Normen zu einem integrierenden Bestandteil unseres Unterrichtes
machen. Damit komme ich auf ein Gebiet, welches bis jetzt noch
am wenigsten von den Lehren des Monismus berührt worden ist.
Ich meine die Pädagogik. Was ihr am meisten obliegt: die freie
Entfaltung der Individualität, der einzigen Realität auf dem Ge-
biete der Kultur, das wird bisher am meisten vernachlässigt, und
der angehende Mensch dafür in ein Netz von Normen und Ge-
boten eingespannt, die er in seinem künftigen Leben befolgen soll.
Daß jeder, auch der Geringste, etwas in sich hat, einen individuel-
len Fonds, der ihn befähigt, Dinge zu leisten, die nur er allein in
einer ganz bestimmten Weise leisten kann: das wird dabei verges-
sen. Dafür spannt man ihn auf die Folter allgemeiner Begriffs-

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Systeme, legt ihm das Gängelband konventioneller Vorurteile an


und untergräbt seine Individualität. Für den wahren Erzieher
gibt es keine allgemeinen Erziehungsnormen, wie sie etwa die
Herbartsche Schule aufstellen will. Für den echten Pädagogen ist
jeder Mensch ein Neues, noch nie Dagewesenes, ein Studien-
objekt, aus dessen Natur er die ganz individuellen Prinzipien ent-
nimmt, nach denen er in diesem Falle erziehen soll. Die Forde-
rung des Monismus ist die: statt den angehenden Pädagogen all-
gemeine methodische Grundsätze einzupflanzen, sie zu Psycho-
logen zu bilden, welche imstande sind, die Individualitäten zu
begreifen, die sie erziehen sollen. So ist der Monismus geeignet,
auf allen Gebieten des Erkennens und Lebens unserem größten
Ziele zu dienen: der Entwickelung des Menschen zur Freiheit,
was gleichbedeutend ist mit der Pflege des Individuellen in der
Menschennatur. Daß unsere Zeit empfänglich ist für solche Leh-
ren, das glaube ich aus dem Umstände entnehmen zu können, daß
ein junges Geschlecht dem Manne begeistert zugejubelt hat, der
die monistischen Lehren zum ersten Male in populärer Art, wenn
auch aus einer kranken Seele gespiegelt, auf das Gebiet der Ethik
übertragen hat: ich meine Friedrich Nietzsche. Der Enthusiasmus,
den er gefunden hat, ist ein Beweis dafür, daß es unter unseren
Zeitgenossen nicht wenige gibt, welche es müde sind, sittlichen
Chimären nachzulaufen, und die die Sittlichkeit da suchen, wo sie
allein wirklich lebt: in der Menschenseele. Der Monismus als
Wissenschaft ist die Grundlage für ein wahrhaft freies Handeln,
und unsere Entwickelung kann nur den Gang nehmen: durch den
Monismus zur Freiheitsphilosophie!

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GOETHES NATURANSCHAUUNG


gemäß den neuesten Veröffentlichungen des Goethe-Archivs

Einmal schon gab eine Geburtstagsfeier Goethes Veranlassung,


daß hier in Frankfurt ein Mann das offene Bekenntnis ablegte: er
sehe in Deutschlands größtem Dichter auch einen Geist, der als
einer der ersten in Betracht kommt, wenn von den Pfadfindern
auf dem Gebiete der Naturerkenntnis die Rede ist. Arthur Schopen-
hauer schrieb in das Goethe-Album, mit dem man den 28. August
1849 begrüßte, einen Beitrag, der von kräftigen Zornesworten
über die Gegner von Goethes Farbenlehre so voll war wie die
Seele des Philosophen von begeisterter Anerkennung für Goethe
den Naturforscher. «Nicht bekränzte Monumente noch Kanonen-
salven noch Glockengeläute, geschweige Festmahle mit Reden,
reichen hin, das schwere und empörende Unrecht zu sühnen, wel-
ches Goethe erleidet in betreff seiner Farbenlehre.» Ferne sei es
von mir, Ihre Aufmerksamkeit heute gerade auf diesen Punkt der
wissenschaftlichen Tätigkeit des Dichters zu lenken. Die Zeit wird
kommen, in der auch für diese Frage die wissenschaftlichen Vor-
aussetzungen zu einer Verständigung der Forscher vorhanden sein
werden. Gegenwärtig bewegen sich gerade die physikalischen
Untersuchungen in einer Richtung, die zu Goetheschem Denken
nicht führen kann. Goethe möchte auch die Betrachtung der rein
physikalischen Erscheinungen an das Menschlich-Persönliche so-
weit als möglich heranrücken. Der Mensch ist ihm «der größte
und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann», und
das ist — nach seiner Ansicht — «eben das größte Unheil der neue-
ren Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen
abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zei-
gen, die Natur erkennen, ja was sie leisten kann, dadurch beschrän-
ken und beweisen will». In der ängstlichen Vermeidung alles
Subjektiven und Persönlichen gehen aber die Physiker unserer
Zeit noch viel weiter als diejenigen, die Goethe mit diesen Wor-
ten treffen wollte. Das Ideal unserer Zeitgenossen in dieser Be-
ziehung ist, alle Erscheinungen auf möglichst wenige unlebendige

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Grundkräfte zurückzuführen, die nach rein mathematischen und


mechanischen Gesetzen wirken. Goethes Sinn war auf anderes
gerichtet. Was in der übrigen Natur nur verborgen ist, erscheint
seiner Ansicht nach im Menschen in seiner ureigenen Gestalt.
Der Menschengeist ist für Goethe die höchste Form des Natur-
prozesses, das Organ, das sich die Natur anerschaffen hat, um
durch es ihr Geheimnis offen an den Tag treten zu lassen. Alle
Kräfte, die die Welt durchzittern, dringen in die Menschenseele
ein, um da zu sagen, was sie ihrem Wesen nach sind. Eine von
dem Menschen abgesonderte Natur konnte sich Goethe nicht
denken. Eine tote, geistlose Materie war seinem Vorstellen un-
möglich. Eine Naturerklärung mit Prinzipien, aus denen nicht
auch der Mensch seinem Dasein und Wesen nach begreiflich ist,
lehnte er ab.

Ebenso begreiflich wie die Gegnerschaft der Physiker ist die


Zustimmung, welche Goethes Naturauffassung bei einigen der
hervorragendsten Erforscher der Lebenserscheinungen, besonders
bei dem geistvollsten Naturforscher der Gegenwart, Ernst Haeckel,
gefunden hat. Haeckel, der den Darwinschen Ideen über die Ent-
stehung der Organismen eine der deutschen Gründlichkeit an-
gemessene Vervollkommnung hat angedeihen lassen, legt sogar
den größten Wert darauf, daß der Einklang seiner Grundüber-
zeugungen mit den Goetheschen erkannt werde. Für Haeckel ist
die Frage Darwins nach dem Ursprünge der organischen Formen
sogleich zu der höchsten Aufgabe geworden, die sich die Wis-
senschaft vom organischen Leben überhaupt stellen kann, zu der
vom Ursprünge des Menschen. Und er ist genötigt gewesen, an
Stelle der toten Materie der Physiker solche Naturprinzipien an-
zunehmen, mit denen man vor den Menschen nicht Halt zu
machen braucht. Haeckel hat in seiner vor kurzem (1892) erschie-
nenen Schrift «Der Monismus als Band zwischen Religion und
Wissenschaft», welche nach meiner Überzeugung die bedeut-
samste Kundgebung der neuesten Naturphilosophie ist, ausdrück-
lich betont, daß er sich einen «immateriellen lebendigen Geist»
ebensowenig denken könne wie eine «tote geistlose Materie».
Und ganz übereinstimmend damit sind Goethes Worte, daß «die

Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und


wirksam sein kann».

Gegenüber dem hartnäckigen Widerstande der Physiker finden


wir hier eine Naturauffassung, die Goethes Ideen mit Stolz für
sich in Anspruch nimmt.

Für denjenigen, der sich die volle Würdigung des Goetheschen


Genies auf einem bestimmten Gebiete zur Aufgabe macht, ent-
steht nun die Frage: Wird diejenige Richtung der modernen Natur-
wissenschaft, welche wir soeben gekennzeichnet haben, Goethe
vollkommen gerecht? Wem es nur um diese Naturwissenschaft
zu tun ist, der fragt natürlich einfach: inwiefern stimmt Goethe
mit mir überein? Er betrachtet Goethe als einen Vorläufer seiner
eigenen Richtung in bezug auf jene Anschauungen, die dieser mit
ihm gemein hat. Sein Maßstab ist die gegenwärtige Naturanschau-
ung. Goethe wird nach ihr beurteilt. Diesen Beurteilern gegen-
über sei mein Standpunkt in den folgenden Auseinandersetzun-
gen: Wie hätte sich Goethe zu denjenigen Naturforschern ver-
halten, die heute sich in ihrer Art anerkennend für ihn aussprechen?
Wäre er des Glaubens gewesen, daß sie Ideen ans Tageslicht
gebracht haben, die er nur vorausgeahnt, oder hätte er vielmehr
gemeint, daß die Gestalt, die sie der Naturwissenschaft gegeben
haben, seinen Anfängen nur unvollkommen entspricht? Wie wir
diese Frage beantworten und wie wir uns selbst dann zu Goethes
Weltanschauung stellen, davon wird es abhängen, ob wir in
Goethe, dem Naturforscher, bloß eine mehr oder weniger inter-
essante Erscheinung der Wissenschaftsgeschichte sehen oder ob
wir auch auf naturwissenschaftlichem Gebiete seine Schöpfungen
für unsere Erkenntnis noch fruchtbar machen und ihn, um mit
einer Wendung Herman Grimms zu sprechen, in den Dienst der
Zeit stellen wollen.

Es handelt sich darum, aus der Betrachtungs- und Denkart


Goethes selbst, nicht aus der äußerlichen Vergleichung mit wis-
senschaftlichen Ideen der Gegenwart, in den Geist seiner Natur-
anschauung einzudringen. Wenn wir Goethe recht verstehen wol-
len, so kommen die einzelnen Leistungen, in denen sein reicher
Geist die wissenschaftlichen Gedanken niedergelegt hat, weniger

in Betracht als die Absichten und Ziele, aus denen sie hervor-


gegangen sind. Hervorragende Männer können in einer zwei-
fachen Weise für die Menschheit epochemachend werden. Ent-
weder sie finden für bereits gestellte Fragen die Lösung, oder sie
finden neue Probleme in Erscheinungen, an denen ihre Vorgänger
achtlos vorübergegangen sind. In der letzteren Art wirkte zum
Beispiel Galilei auf die Entwickelung der Wissenschaft ein. Un-
zählige Menschen vor ihm hatten einen schwingenden Körper
gesehen, ohne daran etwas Auffälliges zu bemerken; für seinen
Blick enthüllte sich in dieser Erscheinung die große Aufgabe, die
Gesetze der Pendelbewegung kennenzulernen, und er schuf in
diesem Gebiete der Mechanik ganz neue wissenschaftliche Grund-
lagen. In Geistern solcher Art leben eben Bedürfnisse, die ihre
Vorgänger noch nicht gekannt haben, zum ersten Male auf. Und
das Bedürfnis öffnet die Augen für eine Entdeckung.

Frühzeitig erwachte in Goethe ein solches Bedürfnis. Sein


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