Rudolf steiner



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Forschenrieb entzündete sich zunächst an der Mannigfaltigkeit
des organischen Lebens. Mit anderem Blick als seine wissenschaft-
lichen Zeitgenossen sah er die Fülle der Gestalten des Tier- und
Pflanzenreiches. Sie glaubten genug getan zu haben, wenn sie die
Unterschiede der einzelnen Formen genau beobachteten, die Eigen-
tümlichkeiten jeder besonderen Art und Gattung feststellten und
auf Grund dieser Arbeit eine äußerliche Ordnung, ein System der
Lebewesen schufen. Linne, der Botaniker, namentlich war ein Mei-
ster in dieser Kunst des Klassifizierens. Goethe lernte die Schrif-
ten dieses Mannes, wie wir aus dem Briefwechsel mit Frau von
Stein wissen, im Jahre 1782 kennen. Was für Linne das Wich-
tigste war, die Merkmale genau festzustellen, welche eine Form
von der anderen unterscheide, kam für Goethe zunächst gar nicht
in Betracht. Für ihn entstand die Frage: was lebt in der unend-
lichen Fülle der Pflanzenwelt, das diese Mannigfaltigkeit zu einem
einheitlichen Naturreich verbindet? Er wollte erst begreifen, was
eine Pflanze überhaupt ist, dann hoffte er auch zu verstehen,
warum sich die Pflanzennatur in so unendlich vielen Formen aus-
lebt. Von seinem Verhältnis zu Linne sagt er später selbst: «Das,
was er mit Gewalt auseinanderzuhalten suchte, mußte nach dem

innersten Bedürfnis meines Wesens zur Vereinigung anstreben.»


Daß Goethe hier auf dem rechten Wege war, ein Naturgesetz zu
finden, lehrt eine einfache Betrachtung darüber, wie sich Natur-
gesetze in den Erscheinungen aussprechen. Jede Naturerscheinung
geht aus einer Reihe sie bedingender Umstände hervor. Nehmen
wir etwas ganz Einfaches. Wenn ich einen Stein in waagerechter
Richtung werfe, so wird er in einer gewissen Entfernung von
mir auf die Erde fallen. Er hat im Räume während seines Hin-
fliegens eine ganz bestimmte Linie beschrieben. Diese Linie ist
von drei Bedingungen abhängig: von der Kraft, mit der ich den
Stein stoße, von der Anziehung, die die Erde auf ihn ausübt, und
von dem Widerstand, den ihm die Luft entgegensetzt. Ich kann
mir die Bewegung des Steines erklären, wenn ich die Gesetze
kenne, nach denen die drei Bedingungen auf ihn einwirken. Daß
Erscheinungen der leblosen Natur auf diese Weise erklärt werden
müssen, das heißt dadurch, daß man ihre Ursachen und deren
Wirkungsgesetze sucht, hat bei Goethes Auftreten niemand be-
zweifelt, der für die Geschichte der Wissenschaften in Betracht
kommt. Anders aber stand es um die Erscheinungen des Lebens.
Man sah Gattungen und Arten vor sich und innerhalb ihrer jedes
Wesen mit einer solchen Einrichtung, mit solchen Organen aus-
gerüstet, wie sie seinen Lebensbedürfnissen entsprechen. Eine der-
artige Gesetzmäßigkeit hielt man nur für möglich, wenn die orga-
nischen Formen nach einem wohlüberlegten Schöpfungsplan ge-
staltet sind, demgemäß jedes Organ gerade die Bildung erhalten
hat, die es haben muß, wenn es seinen vorbedachten Zweck erfül-
len soll. Während man also die Erscheinungen der leblosen Natur
aus Ursachen zu erklären suchte, die innerhalb der Welt liegen,
glaubte man für die Organismen außerweltliche Erklärungsprin-
zipien annehmen zu müssen. Den Versuch, die Erscheinungen des
Lebens ebenfalls auf Ursachen zurückzuführen, die innerhalb der
uns beobachtbaren Welt liegen, hat man vor Goethe nicht ver-
sucht, ja der berühmte Philosoph Immanuel Kant hat noch 1790
jeden solchen Versuch «ein Abenteuer der Vernunft» genannt.
Man dachte sich einfach jede der Linneschen Arten nach einem
bestimmten vorgedachten Plan geschaffen und meinte eine Er-

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scheinung erklärt zu haben, wenn man den Zweck erkannte, dem


sie dienen soll. Eine solche Anschauungsweise konnte Goethe
nicht befriedigen. Der Gedanke eines Gottes, der außerhalb der
Welt ein abgesondertes Dasein führt und seine Schöpfung nach
äußerlich aufgedrängten Gesetzen lenkte, war ihm fremd. Sein
ganzes Leben hindurch beherrschte ihn der Gedanke:

«Was wär' ein Gott, der nur von außen stieße,


Im Kreis das All am Finger laufen ließe?
Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in sich, sich in Natur zu hegen,
So daß, was in ihm lebt und webt und ist,
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt.»

Was mußte Goethe, dieser Gesinnung gemäß, in der Wissen-


schaft der organischen Natur suchen? Erstens ein Gesetz, welches
erklärt, was die Pflanze zur Pflanze, das Tier zum Tiere macht,
zweitens ein anderes, das begreiflich macht, warum das Gemein-
same, allen Pflanzen und Tieren zugrunde Liegende in einer
solchen Mannigfaltigkeit von Formen erscheint. Das Grundwesen,
das sich in jeder Pflanze ausspricht, die Tierheit, die in allen Tie-
ren zu finden ist, die suchte er zunächst. Die künstlichen Scheide-
wände zwischen den einzelnen Gattungen und Arten mußten
niedergerissen, es mußte gezeigt werden, daß alle Pflanzen nur
Modifikationen einer Urpflanze, alle Tiere eines Urtieres sind.
Daß wir die Urform erkennen können, die allen Organismen zu-
grunde liegt, und daß wir die gesetzmäßigen Ursachen innerhalb
unserer Erscheinungswelt zu finden imstande sind, welche bewir-
ken, daß diese Urform einmal als Lilie, das andere Mal als Eiche
erscheint, hatte Kant für unmöglich erklärt. Goethe unternahm
«das Abenteuer der Vernunft» und hat damit eine wissenschaft-
liche Tat ersten Ranges vollbracht. Goethe ging also darauf aus:
sich eine Vorstellung von jener Urform zu machen und die Ge-
setze und Bedingungen zu suchen, welche das Auftreten in den
mannigfachen Gestalten erklären. Beiden Forderungen muß aber,
seiner Meinung nach, die Wissenschaft gerecht werden. Wer kei-
nen Begriff von der Urform hat, der kann zwar die Tatsachen

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angeben, unter deren Einfluß sich eine organische Form in die


andere verwandelt hat, er kann aber niemals zu einer wirklichen
Erklärung gelangen. Deshalb betrachtete es Goethe als seine erste
Aufgabe, die Urpflanze und das Urtier oder, wie er es auch nannte,
den Typus der Pflanzen und der Tiere zu finden.

Was versteht Goethe unter diesem Typus? Er hat sich darüber


klar und unzweideutig ausgesprochen. Er sagt, er fühlte die Not-
wendigkeit: «einen Typus aufzustellen, an welchem alle Säuge-
tiere nach Übereinstimmung und Verschiedenheit zu prüfen
wären, und wie ich früher die Urpflanze aufgesucht, so trachtete
ich nunmehr das Urtier zu finden, das heißt denn doch zuletzt:
den Begriff, die Idee des Tieres». Und ein anderes Mal mit noch
größerer Deutlichkeit: «Hat man aber die Idee von diesem Typus
gefaßt, so wird man recht einsehen, wie unmöglich es sei, eine
einzelne Gattung als Kanon aufzustellen. Das Einzelne kann kein
Muster des Ganzen sein, und so dürfen wir das Muster für alle
nicht im Einzelnen suchen. Die Klassen, Gattungen, Arten und
Individuen verhalten sich wie die Fälle zum Gesetz: sie sind
darin enthalten, aber sie enthalten und geben es nicht.» Hätte man
also Goethe gefragt, ob er in einer bestimmten Tier- oder Pflan-
zenform, die zu irgendeiner Zeit existiert hat, seine Urform, sei-
nen Typus verwirklicht sehe, so hätte er ohne Zweifel mit einem
kräftigen Nein geantwortet. Er hätte gesagt: So wie der Haus-
hund, so ist auch der einfachste tierische Organismus nur ein
Spezialfall dessen, was ich unter Typus verstehe. Den Typus findet
man überhaupt nicht in der Außenwelt verwirklicht, sondern er
geht uns als Idee in unserem Innern auf, wenn wir das Gemein-
same der Lebewesen betrachten. Sowenig der Physiker einen ein-
zelnen Fall, eine zufällige Erscheinung zum Ausgangspunkte sei-
ner Untersuchungen macht, sowenig darf der Zoologe oder Bota-
niker einen einzelnen Organismus als Urorganismus ansprechen.

Und hier ist der Punkt, an dem es klar werden muß, daß der


neuere Darwinismus weit hinter Goethes Grundgedanken zurück-
bleibt. Diese wissenschaftliche Strömung findet, daß es zwei Ur-
sachen gibt, unter deren Einfluß eine organische Form sich in
eine andere umformen kann: die Anpassung und den Kampf ums

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Dasein. Unter Anpassung versteht man die Tatsache, daß ein


Organismus infolge von Einwirkungen der Außenwelt eine Ver-
änderung in seiner Lebenstätigkeit und in seinen Gestaltverhält-
nissen annimmt. Er erhält dadurch Eigentümlichkeiten, die seine
Voreltern nicht hatten. Auf diesem Wege kann sich also eine Um-
formung bestehender organischer Formen vollziehen. Das Gesetz
vom Kampf ums Dasein beruht auf folgenden Erwägungen. Das
organische Leben bringt viel mehr Keime hervor, als auf der Erde
Platz zu ihrer Ernährung und Entwickelung finden. Nicht alle
können zur vollen Reife kommen. Jeder entstehende Organismus
sucht aus seiner Umgebung die Mittel zu seiner Existenz. Es ist
unausbleiblich, daß bei der Fülle der Keime ein Kampf entsteht
zwischen den einzelnen Wesen. Und da nur eine begrenzte Zahl
den Lebensunterhalt finden kann, so ist es natürlich, daß diese
aus denen besteht, die sich im Kampf als die stärkeren erweisen.
Diese werden als Sieger hervorgehen. Welche sind aber die Stär-
keren? Ohne Zweifel diejenigen mit einer Einrichtung, die sich
als zweckmäßig erweist, um die Mittel zum Leben zu beschaffen.
Die Wesen mit unzweckmäßiger Organisation müssen unterliegen
und aussterben. Deswegen, sagt der Darwinismus, kann es nur
zweckmäßige Organisationen geben. Die anderen sind einfach im
Kampf ums Dasein zugrunde gegangen. Der Darwinismus erklärt
mit Zugrundelegung dieser beiden Prinzipien den Ursprung der
Arten so, daß sich die Organismen unter dem Einfluß der Außen-
welt durch Anpassung umwandeln, die hierdurch gewonnenen
neuen Eigentümlichkeiten auf ihre Nachkommen verpflanzen und
von den auf diese Weise umgewandelten Formen immer diejenigen
sich erhalten, welche in dem Umwandlungsprozesse die zweck-
entsprechendste Gestalt angenommen haben.

Gegen diese beiden Prinzipien hätte Goethe zweifellos nichts


einzuwenden. Wir können nachweisen, daß er beide bereits ge-
kannt hat. Für ausreichend aber, um die Gestalten des organischen
Lebens zu erklären, hat er sie nicht gehalten. Sie waren ihm äußere
Bedingungen, unter deren Einfluß das, was er Typus nannte,
besondere Formen annimmt und sich in der mannigfaltigsten
Weise verwandeln kann. Bevor sich etwas umwandelt, muß es

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aber erst vorhanden sein. Anpassung und Kampf ums Dasein


setzen das Organische voraus, das sie beeinflussen. Die notwen-
dige Voraussetzung sucht Goethe erst zu gewinnen. Seine 1790
veröffentlichte Schrift «Versuch, die Metamorphose der Pflanzen
zu erklären» verfolgt den Gedanken, eine ideale Pflanzengestalt
zu finden, welche allen pflanzlichen Wesen als deren Urbild zu-
grunde liegt. Später versuchte er dasselbe auch für die Tierwelt.

Wie Kopernikus die Gesetze für die Bewegungen der Glieder


unseres Sonnensystems, so suchte Goethe die, wonach sich ein
lebendiger Organismus gestaltet. Ich will auf die Einzelheiten
nicht eingehen, will vielmehr gerne zugeben, daß sie sehr der
Verbesserung bedürfen. Einen entscheidenden Schritt bedeutet
Goethes Unternehmen aber doch in genau derselben Weise wie
des Kopernikus Erklärung des Sonnensystems, die ja auch durch
Kepler eine wesentliche Verbesserung erfahren hat.

Ich habe mich bereits im Jahre 1883 (in meiner Ausgabe von


Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in Kürschners Nat. Lit.,
l. Bd.) bemüht, zu zeigen, daß die neuere Naturwissenschaft nur
eine Seite der Goetheschen Anschauung zur Ausgestaltung ge-
bracht hat.* Das Studium der äußeren Bedingungen für die Art-
verwandlung ist in vollem Gange. Haeckel hat in genialer Weise
die Verwandtschaftsgrade der Formen der Tierwelt festzustellen
gesucht. Für die Erkenntnis der inneren Bildungsgesetze des Orga-
nismus ist so gut wie nichts geschehen. Ja, es gibt Forscher, die
solche Gesetze für bloße Phantasiegebilde halten. Sie glauben alles
Nötige getan zu haben, wenn sie zeigen, wie sich die komplizier-
teren Lebewesen allmählich aus Elementarorganismen aufgebaut
haben. Und diese elementaren organischen Wesenheiten will man
durch bloße gesetzmäßige Verbindung unorganischer Stoffe in
derselben Art erklären, wie man das Entstehen einer chemischen
Verbindung erklärt. So hätte man denn glücklich das Kunststück
vollbracht, das Leben dadurch zu erklären, daß man es vernichtet

* Meine der Kürschnerischen Ausgabe einverleibten «Einleitungen zu


Goethes naturwissenschaftlichen Schriften» versuchen die wissenschaftliche
Bedeutung dieser Schriften und deren Verhältnis zum gegenwärtigen
Standpunkt der Wissenschaft ausführlich darzustellen.

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oder, besser gesagt, als nicht vorhanden denkt. Mit einer solchen


Betrachtungsweise wäre Goethe nie einverstanden gewesen. Er
suchte Naturgesetze für das Lebendige, aber nichts lag ihm ferner
als der Versuch, die Gesetze des Leblosen auf das Belebte einfach
zu übertragen.

Bis zur Eröffnung des Goethe-Archivs hätte manche meiner


Behauptungen vielleicht angefochten werden können, obwohl ich
glaube, daß für denjenigen, der Goethes wissenschaftliche Schrif-
ten im Zusammenhange liest, kein Zweifel besteht über die Art,
wie ihr Verfasser gedacht hat. Aber diese Schriften bilden kein
geschlossenes Ganzes. Sie stellen nicht eine allseitig ausgeführte
Naturansicht dar, sondern nur Fragmente einer solchen. Sie haben
Lücken, die sich derjenige, der eine Vorstellung von Goethes
Ideenwelt gewinnen will, hypothetisch ausfüllen muß. Der hand-
schriftliche Nachlaß Goethes, der sich im Weimarischen Goethe-
Archiv befindet, macht es nun möglich, zahlreiche und wichtige
dieser Lücken auszufüllen. Mir hat er durchwegs die erfreuliche
Gewißheit gebracht, daß die Vorstellungen, die ich mir schon
früher von Goethes wissenschaftlichem Denken gemacht hatte
und die ich eben charakterisiert habe, vollständig richtig sind. Ich
hatte nicht nötig, meine Begriffe zu modifizieren, wohl aber kann
ich heute manches, was ich vor Eröffnung des Archivs nur hypo-
thetisch zu vertreten in der Lage war, mit Goethes eigenen Wor-
ten belegen.*

Wir lesen zum Beispiel in einem Aufsatz, der im sechsten Bande


von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in der Weimarer
Ausgabe veröffentlicht ist: Die Metamorphose der Pflanzen «zeigt
uns die Gesetze, wonach die Pflanzen gebildet werden. Sie macht
uns auf ein doppeltes Gesetz aufmerksam: 1. auf das Gesetz der

* Ein vollständiges, systematisch geordnetes Ganzes von Goethes mor-


phologischen und allgemein-naturwissenschaftlichen Ideen werden die
Bände 6—12 (6, 7, 8, 9 sind bereits veröffentlicht) der zweiten Abteilung
der Weimarischen Goethe-Ausgabe bilden. Die Gliederung des Stoffes ist
in Übereinstimmung mit dem Redaktor der Bände, Prof. Suphan, und
unter dessen fortwährender tätiger Anteilnahme von mir und (für den
8. Band) von Prof. Bardeleben in Jena, als Herausgeber dieser Schriften,
besorgt.

inneren Natur, wodurch die Pflanzen konstituiert werden, 2. auf


das Gesetz der äußeren Umstände, wodurch die Pflanzen modifi-
ziert werden.»

Besonders interessant ist es aber, daß wir den Gedankengang


Schritt für Schritt verfolgen können, durch den Goethe dieses Ge-
setz der inneren Natur, wonach die Pflanzen gebildet werden, zu
erkennen suchte. Diese Gedanken entwickeln sich in Goethe wäh-
rend seiner italienischen Reise. Die Notizblätter, auf denen er seine
Beobachtungen notiert hat, sind uns erhalten. Die Weimarische
Ausgabe hat sie dem siebenten Bande der naturwissenschaftlichen
Schriften einverleibt. Sie sind ein Muster dafür, wie ein Forscher
mit philosophischem Blick die Geheimnisse der Natur zu ergründen
sucht. Mit demselben tiefen Ernst, mit dem er in Italien seinen
künstlerischen Interessen obliegt, ist er bestrebt, die Gesetze des
pflanzlichen Lebens zu erkennen. Diese Blätter liefern den vollen
Beweis, daß ein langes Bemühen hinter Goethe lag, als er um die
Mitte des Jahres 1787 die Hypothese von der Urpflanze zur ent-
schiedenen wissenschaftlichen Überzeugung erhob.

Noch mehr Zeit und Arbeit verwandte der Dichter darauf, seine


Ideen auch auf das Tierreich und den Menschen anzuwenden.
Bereits im Jahre 1781 beginnt das ernste Studium der Anatomie
in Jena. Auf diesem Gebiete fand Goethe eine wissenschaftliche
Anschauung vor, gegen die sich seine ganze Natur sträubte. Man
glaubte in einer geringfügigen Kleinigkeit einen Unterschied des
Menschen von den Tieren in bezug auf den anatomischen Bau
gefunden zu haben. Die Tiere haben zwischen den beiden symme-
trischen Hälften des Oberkieferknochens noch einen kleinen Kno-
chen (Zwischenknochen), der die oberen Schneidezähne enthält.
Bei dem Menschen, glaubte man, sei ein solcher nicht vorhanden.
Diese Ansicht mußte Goethe sofort als ein Irrtum erscheinen. Wo
eine solche Übereinstimmung des Baues wie beim Skelett des Men-
schen und dem der höhern Tiere besteht, da muß eine tiefere
Naturgesetzlichkeit zugrunde liegen, da ist ein solcher Unterschied
im einzelnen nicht möglich. Im Jahre 1784 gelang es Goethe, den
Nachweis zu führen, daß der Zwischenknochen auch beim Men-
schen vorhanden ist, und damit war das letzte Hindernis hinweg-

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geräumt, das im Wege stand, wenn es sich darum handelte, allen


tierischen Organisationen bis herauf zum Menschen einen einheit-
lichen Typus zugrunde zu legen. Schon 1790 ging Goethe daran,
seinem Versuch über die Metamorphose der Pflanzen einen sol-
chen «Über die Gestalt der Tiere» nachfolgen zu lassen, der leider
Fragment geblieben ist. Es befindet sich im achten Bande der
naturwissenschaftlichen Schriften der Weimarischen Ausgabe.
Goethe ging dann nochmals im Jahre 1795 daran, diese Absicht
auszuführen, allein auch diesmal kam er nicht zu Ende. Wir kön-
nen seine Intentionen im einzelnen aus den beiden Fragmenten
wohl erkennen; die Ausführung der gewaltigen Idee hätte mehr
Zeit in Anspruch genommen, als dem Dichter bei seinen vielsei-
tigen Interessen zur Verfügung stand. Eine Einzelentdeckung
schließt sich aber diesen Bestrebungen noch an, die uns klar er-
kennen läßt, worauf sie zielten. Wie Goethe nämlich alle Pflanzen
auf die Urpflanze, alle Tiere auf das Urtier zurückzuführen suchte,
so ging sein Streben auch dahin, die einzelnen Teile eines und
desselben Organismus aus einem Grundbestandteil zu erklären, der
die Fähigkeit hat, sich in vielfältiger Weise umzubilden. Er dachte
sich, alle Organe lassen sich auf eine Grundform zurückführen, die
nur verschiedene Gestalten annimmt. Ein tierisches und ein pflanz-
liches Individuum sah er als aus vielen Einzelheiten bestehend an.
Diese Einzelheiten sind der Anlage nach gleich, in der Erschei-
nung aber gleich oder ähnlich, ungleich und unähnlich. Je unvoll-
kommener das Geschöpf ist, desto mehr sind die Teile einander
gleich und desto mehr gleichen sie dem Ganzen. Je vollkommener
das Geschöpf wird, desto unähnlicher werden die Teile einander.
Goethes Streben ging deshalb dahin, Ähnlichkeiten zwischen den
einzelnen Teilen eines Organismus zu suchen. Dies brachte ihn
beim tierischen Skelett auf einen Gedanken von weittragender
Bedeutung, auf den der sogenannten Wirbelnatur der Schädel-
knochen. Wir haben es hier mit der Ansicht zu tun, daß die Kno-
chen, die das Gehirn umschließen, die gleiche Grundform haben
mit denen, welche das Rückgrat zusammensetzen. Goethe ver-
mutete das wohl bald nach dem Beginn seiner anatomischen Unter-
suchungen. Zur vollen Gewißheit wurde es für ihn im Jahre 1790.

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Damals fand er auf den Dünen des Lido in Venedig einen Schaf-


schädel, der so glücklich auseinandergefallen war, daß Goethe in
den Stücken deutlich die einzelnen Wirbelkörper zu erkennen
glaubte. Auch hier hat man wieder behauptet, daß es sich bei
Goethe viel mehr um einen glücklichen Einfall als um ein wirk-
liches wissenschaftliches Ergebnis handle. Allein mir scheint, daß
gerade die neuesten Arbeiten auf diesem Gebiete den vollen Be-
weis liefern, daß der von Goethe betretene Weg der rechte war.
Der hervorragende Anatom Carl Gegenbaur hat im Jahre 1872
Untersuchungen veröffentlicht über das Kopfskelett der Selachier
oder Urfische, welche zeigen, daß der Schädel der umgebildete
Endteil des Rückgrats und das Gehirn das umgebildete Endglied
des Rückenmarks ist. Man muß sich nun vorstellen, daß die
knöcherne Schädelkapsel der höheren Tiere aus umgebildeten
Wirbelkörpern besteht, die aber im Laufe der Entwickelung höhe-
rer Tierformen aus niederen allmählich eine solche Gestalt an-
genommen haben und die so miteinander verwachsen sind, daß
sie zur Umschließung des Gehirns geeignet erscheinen. Deshalb
kann man die Wirbeltheorie des Schädels nur im Zusammenhang
mit der vergleichenden Anatomie des Gehirns studieren. Daß
Goethe diese Sache bereits 1790 von diesem Gesichtspunkte aus
betrachtete, das zeigt eine Eintragung in sein Tagebuch, die vor
kurzem im Goethe-Archiv gefunden worden ist: «Das Hirn selbst
ist nur ein großes Hauptganglion. Die Organisation des Gehirns
wird in jedem Ganglion wiederholt, so daß jedes Ganglion als ein
kleines subordiniertes Gehirn anzusehen ist.»

Aus alledem geht hervor, daß Goethes wissenschaftliche Methode


jeder Kritik gewachsen ist und daß er im Verfolge seiner natur-
philosophischen Ideen eine Reihe von Einzelentdeckungen machte,
welche auch die heutige Wissenschaft, wenn auch in verbesserter
Gestalt, für wichtige Bestandteile der Naturerkenntnis halten muß.
Goethes Bedeutung liegt aber nicht in diesen Einzelentdeckungen,
sondern darin, daß er durch seine Art, die Dinge anzusehen, zu
ganz neuen leitenden Gesichtspunkten der Naturerkenntnis kam.
Darüber war er sich selbst vollständig klar. Am 18. August des
Jahres 1787 schrieb er von Italien aus an Knebel: «Nach dem,

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was ich bei Neapel, in Sizilien von Pflanzen und Fischen gesehen


habe, würde ich, wenn ich zehn Jahre jünger wäre, sehr versucht
sein, eine Reise nach Indien zu machen, nicht um Neues zu ent-
decken, sondern um das Entdeckte nach meiner Art anzusehen.»
In diesen Worten ist die Ansicht ausgesprochen, die Goethe vom
wissenschaftlichen Erkennen hatte. Nicht die treue, nüchterne Be-
obachtung allein kann zum Ziele führen. Erst wenn wir den ent-
sprechenden Gesichtspunkt finden, um die Dinge zu betrachten,
werden sie uns verständlich. Goethe hat durch seine Anschauungs-
weise die große Scheidewand zwischen lebloser und belebter Natur
vernichtet, ja er hat die Lehre von den Organismen erst zum
Range einer Wissenschaft erhoben. Worin das Wesen dieser An-
schauungsweise besteht, hat Schiller mit bedeutungsvollen Worten
in einem Briefe an Goethe vom 23. August 1793 ausgesprochen:
«Lange schon habe ich, obgleich aus ziemlicher Ferne, dem Gang
Ihres Geistes zugesehen und den Weg, den Sie vorgezeichnet
haben, mit immer erneuter Bewunderung bemerkt. Sie suchen das
Notwendige in der Natur, aber Sie suchen es auf dem schwersten
Wege, vor welchem jede schwächere Kraft sich wohl hüten wird.
Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne
Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen
Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf. Von der ein-
fachen Organisation steigen Sie Schritt vor Schritt zu der mehr
verwickelten hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den
Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäu-
des zu erbauen. Dadurch, daß Sie ihn der Natur gleichsam nach-
erschaffen, suchen Sie in seine verborgene Technik einzudringen.»
Aus dieser Geistesrichtung mußte sich eine Naturanschauung
entwickeln, die von rohem Materialismus und nebuloser Mystik
gleich weit entfernt ist. Für sie war es selbstverständlich, daß man
das Besondere nur erkennt durch Erfahrung, das Allgemeine, die
großen gesetzlichen Naturzusammenhänge nur durch Aufsteigen
von der Beobachtung zur Idee. Nur wo beide zusammenwirken:
Idee und Erfahrung, sieht Goethe den Geist der wahren Natur-
forschung. Treffend spricht er das mit den Worten aus: «Durch
die Pendelschläge wird die Zeit, durch die Wechselbewegung

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von Idee zu Erfahrung die sittliche und wissenschaftliche Welt


regiert» (Goethes Werke, II. Abteilung, 6. Band, S. 354). Nur in
der Idee glaubte Goethe dem Geheimnis des Lebens nahekommen
zu können. In der organischen Welt fand er Ursachen wirksam,
die nur zum Teil für die Sinne wahrnehmbar sind. Den anderen
Teil suchte er zu erkennen, indem er die Gesetzmäßigkeit der
Natur im Bilde nachzuschaffen unternahm. In der sinnfälligen
Wirklichkeit äußert sich das Leben zwar, aber es besteht nicht in
ihr. Deshalb kann es durch sinnliche Erfahrung auch nicht gefun-
den werden. Die höheren Geisteskräfte müssen dafür eintreten. Es
ist heute beliebt, neben der nüchternen Beobachtung nur dem Ver-
stande ein Recht zuzuerkennen, in der Wissenschaft mitzuspre-
chen. Goethe glaubte, nur mit Aufwendung aller Geisteskräfte in
den Besitz der Wahrheit kommen zu können. Deshalb wurde er
nicht müde, sich zu den verschiedensten Arten des wissenschaft-
lichen Betriebes in ein Verhältnis zu setzen. In den wissenschaft-
lichen Instituten der Jenaer Hochschule sucht er sich die sach-
lichen Kenntnisse für seine Ideen zu erwerben; bei ihren berühm-
ten philosophischen Lehrern und bei Schiller sucht er Aufschluß
über die philosophische Berechtigung seiner Gedankenrichtung.
Goethe war im eigentlichen Sinne des Wortes nicht Philosoph;
aber seine Art, die Dinge zu betrachten, war eine philosophische.
Er hat keine philosophischen Begriffe entwickelt, aber seine natur-
wissenschaftlichen Ideen sind von philosophischem Geiste getra-
gen. Goethe konnte seiner Natur nach weder einseitig Philosoph
noch einseitig Beobachter sein. Beide Seiten wirkten in ihm in der
höheren Einheit, dem philosophischen Beobachter, harmonisch in-
einander, sowie Kunst und Wissenschaft sich wieder vereinigt in
der umfassenden Persönlichkeit Goethes, der uns nicht bloß in
diesem oder jenem Zweig seines Schaffens, sondern in seiner Ganz-
heit als weltgeschichtliche Erscheinung interessiert. In Goethes
Geist wirkten Wissenschaft und Kunst zusammen. Wir sehen das
am besten, wenn er angesichts der griechischen Kunstwerke in
Italien schreibt, er glaube, daß die Griechen bei ihren Schöpfun-
gen nach denselben Gesetzen verfuhren wie die Natur selbst, und
er dazu bemerkt, daß er glaube, diesen auf der Spur zu sein. Das

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schrieb er in einer Zeit, in der er dem Gedanken der Urpflanze


nachging. Es kann also kein Zweifel darüber sein, daß Goethe sich
das Schaffen des Künstlers von denselben Grundmaximen geleitet
denkt, nach denen auch die Natur bei ihren Produktionen ver-
fährt. Und weil er in der Natur dieselben Grundwesenheiten ver-
mutete, die ihn als Künstler bei seiner eigenen Tätigkeit lenkten,
deshalb trieb es ihn nach einer wissenschaftlichen Erkenntnis von
ihnen. Goethe bekannte sich zu einer streng einheitlichen oder
monistischen Weltansicht. Einheitliche Grundmächte sieht er wal-
ten von dem einfachsten Vorgang der leblosen Natur bis hinauf
zur Phantasie des Menschen, der die Werke der Kunst entspringen.
Rudolf Virchow betont in der bemerkenswerten Rede, welche
er am 3. August dieses Jahres zur Geburtstagsfeier des Stifters der
Berliner Universität gehalten hat, daß die philosophische Zeit der
deutschen Wissenschaft, in der Fichte, Schelling und Hegel ton-
angebend waren, seit Hegels Tode definitiv abgetan sei und daß
wir seither im Zeitalter der Naturwissenschaften leben. Virchow
rühmt von diesem Zeitalter, daß es immer mehr und mehr begriff,
daß die Naturwissenschaft nur in der Beschäftigung mit der Na-
tur selbst: in Museen, Sammlungen, Laboratorien und Instituten,
erfaßt werden könne und daß aus den Studierzimmern der Philo-
sophen kein Aufschluß über die Naturvorgänge zu gewinnen sei.
Es wird hiermit ein weitverbreitetes Vorurteil unserer Zeit aus-
gesprochen. Gerade der Bekenner einer streng naturwissenschaft-
lichen Weltanschauung müßte sich sagen, daß, was zur äußeren
Natur gehört und was wir allein in wissenschaftlichen Instituten
unterbringen können, nur der eine Teil der Natur ist und daß
der andere, gewiß nicht weniger wesentliche Teil zwar nicht im
Studierzimmer, wohl aber in dem Geiste des Philosophen zu suchen
ist. So dachte Goethe, und sein Denken ist deshalb naturwissen-
schaftlicher als das der neueren Naturwissenschaft. Diese läßt den
menschlichen Erkenntnisdrang vollständig unbefriedigt, wenn es
sich um Höheres handelt, als was der sinnfälligen Beobachtung
zugänglich ist. Kein Wunder ist es daher, daß Virchow gleich-
zeitig zu klagen hat über die schlimmsten Einbrüche des Mystizis-
mus in das Gebiet der Wissenschaft vom Leben. Was die Wissen-

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schaft versagt, das sucht ein tieferes Bedürfnis eben in allerlei


geheimnisvollen Naturkräften, nämlich die Erklärung der einmal
vorhandenen Tatsachen. Und daß das Zeitalter der Naturwissen-
schaft bisher außerstande war, das Wesen des Lebens und das des
menschlichen Geistes zu erklären, das gesteht auch Virchow zu.

Wer aber kann hoffen, den Gedanken mit den Augen zu sehen,


das Leben mit dem Mikroskop wahrnehmen zu können? Hier ist
allein mit jener zweiten Richtung etwas zu erreichen, durch die
Goethe zu den Urorganismen zu kommen suchte. Die Fragen,
welche die moderne Naturwissenschaft nicht beantworten kann,
sind genau jene, deren Lösung Goethe in einer Weise unternimmt,
von der man heute nichts wissen will. Hier eröffnet sich ein Feld,
wo Goethes wissenschaftliche Arbeiten in den Dienst der Zeit
gestellt werden können. Sie werden sich tüchtig gerade da erwei-
sen, wo die gegenwärtige Methode sich ohnmächtig zeigt. Nicht
allein darum handelt es sich, Goethe gerecht zu werden und sei-
nen Forschungen in der Geschichte den richtigen Ort anzuweisen,
sondern darum, seine Geistesart mit unseren vollkommeneren Mit-
teln weiter zu pflegen.

Ihm selbst kam es in erster Linie darauf an, daß die Welt er-


kenne, was seine Naturanschauung im allgemeinen zu bedeuten
habe, und erst in zweiter darauf, was er mit Hilfe dieser Anschau-
ung mit den Mitteln seiner Zeit im besondern zu leisten vermochte.

Das naturwissenschaftliche Zeitalter hat das Band zwischen Er-


fahrung und Philosophie zerrissen. Die Philosophie ist das Stief-
kind dieses Zeitalters geworden. Schon aber erhebt sich vielfach
das Bedürfnis nach einer philosophischen Vertiefung unseres Wis-
sens. Auf mancherlei Irrwegen sucht vorläufig noch dieses Bedürf-
nis sich zu befriedigen. Die Überschätzung des Hypnotismus, des
Spiritismus und Mystizismus gehören dazu. Auch der rohe Mate-
rialismus ist ein Versuch, den Weg zu einer philosophischen Ge-
samtauffassung der Dinge zu finden. Dem naturwissenschaftlichen
Zeitalter ein wenig Philosophie einzuflößen ist für viele heute ein
wünschenswertes Ziel. Möge man sich zur rechten Zeit daran
erinnern, daß es einen Weg von der Naturwissenschaft zur Philo-
sophie gibt und daß dieser in Goethes Schriften vorgezeichnet ist.

GOETHES GEHEIME OFFENBARUNG


Zu seinem hundertfünfzigsten Geburtstage: 28. August 1899

Als Johann Gottlieb Fichte das Werk an Goethe gelangen ließ,


in dem kühne Denkerkraft und höchster ethischer Ernst einen
unvergleichlichen Ausdruck fanden, die «Grundlage der gesamten
Wissenschaftslehre», legte er einen Brief bei, der die Worte ent-
hielt: «Ich betrachte Sie, und habe Sie immer betrachtet als den
Repräsentanten der reinsten Geistigkeit des Gefühls auf der gegen-
wärtig errungenen Stufe der Humanität. An Sie wendet mit Recht
sich die Philosophie: Ihr Gefühl ist derselben Probierstein.» Diese
Sätze sind 1794 geschrieben. Wie der große Philosoph hätten da-
mals die Träger der verschiedensten geistigen Strömungen an
Goethe schreiben können. Der Dichter und Denker Goethe stand
in dieser Zeit auf der Höhe seines Lebens. Was der Biograph sagt,
der am liebevollsten in diese Persönlichkeit sich versenkt und uns
darum das intimste Bild von ihr liefert, Albert Bielschowski, das
empfanden in den neunziger Jahren schon Goethes Zeitgenossen:
«Goethe hatte von allem Menschlichen eine Dosis empfangen und
war darum der . Seine Gestalt hatte
ein großartig typisches Gepräge. Sie war ein potenziertes Abbild
der Menschheit an sich. Demgemäß hatten auch alle, die ihm
nähertraten, den Eindruck, als ob sie noch nie einen so ganzen
Menschen gesehen hätten.»

So war Goethes Verhältnis zur geistigen Umwelt beschaffen, als


er vor hundert Jahren in sein fünfzigstes Lebensjahr eintrat. Als
ein Vollendeter stand er da. Das Studium der Antike hatte seinem
künstlerischen Schaffen den Grad von Vollkommenheit gegeben,
der durch das innerste Wesen seiner Persönlichkeit gefordert war
und über den hinaus es für ihn keinen Fortschritt mehr gab; seine
Einsicht in das Wirken der Natur war zum Abschlüsse gekom-
men. Fortan blieb ihm nur die Ausführung der Natur-Ideen, die
sich in seinem Geiste festgesetzt hatten. Der «menschlichste aller
Menschen» wirkte damals als völlig Reifer auf die Mitlebenden.

86

In vielsagenden Worten sprach das Schiller in dem Briefe aus,


den er am 23. August 1794 an Goethe richtete: «Lange schon habe
ich, obgleich aus ziemlicher Ferne, dem Gang Ihres Geistes zu-
gesehen und den Weg, den Sie sich vorgezeichnet haben, mit
immer erneuter Bewunderung bemerkt. Sie suchen das Notwen-
dige der Natur, aber Sie suchen es auf dem schwersten Wege, vor
welchem jede schwächere Kraft sich wohl hüten wird. Sie neh-
men die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu
bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den
Erklärungsgrund für das Individuum auf ... Wären Sie als ein
Grieche, ja nur als ein Italiener geboren worden, und hätte schon
von der Wiege an eine auserlesene Natur und eine idealisierende
Kunst Sie umgeben, so wäre Ihr Weg unendlich verkürzt, viel-
leicht ganz überflüssig gemacht worden. Schon in die erste An-
schauung der Dinge hätten Sie dann die Form des Notwendigen
aufgenommen, und mit Ihren ersten Erfahrungen hätte sich der
große Stil bei Ihnen entwickelt. Nun da Sie ein Deutscher geboren
sind, da Ihr griechischer Geist in diese nordische Schöpfung gewor-
fen wurde, so blieb Ihnen keine andere Wahl, als entweder selbst
zum nordischen Künstler zu werden, oder Ihrer Imagination das,
was ihr die Wirklichkeit vorenthielt, durch Nachhilfe der Denk-
kraft zu ersetzen, und so gleichsam von innen heraus und auf
einem rationalen Wege ein Griechenland zu gebären.» Goethe
antwortete am 27.: «Zu meinem Geburtstag, der mir diese Woche
erscheint, hätte mir kein angenehmer Geschenk werden können
als Ihr Brief, in welchem Sie, mit freundschaftlicher Hand, die
Summe meiner Existenz ziehen und mich durch Ihre Teilnahme
zu einem emsigem und lebhafteren Gebrauch meiner Kräfte auf-
muntern.»

Man darf diesen Satz erweitern und sagen: Goethe hätte in der


Zeit seiner Reife kein bedeutungsvolleres Geschenk werden kön-
nen als Schillers hingebungsvolle Freundschaft. Der philosophische
Sinn des letzteren führte Goethes reine Geistigkeit des Gefühls
in neue geistige Regionen.

Die schöne Gemeinsamkeit der beiden Geister, die sich aus-


bildete, charakterisiert Schiller in einem Brief an Körner: «Ein

jeder konnte dem ändern etwas geben, was ihm fehlte, und etwas


dafür empfangen. Goethe fühlt jetzt ein Bedürfnis, sich an mich
anzuschließen, um den Weg, den er bisher allein und ohne Auf-
munterung betrat, in Gemeinschaft mit mir fortzusetzen.»

Schiller war um die Zeit, in der seine Freundschaft mit Goethe


begann, mit den Ideen beschäftigt, die in seinen «Briefen über
die ästhetische Erziehung des Menschen» ihren Ausdruck gefun-
den haben. Er arbeitete diese ursprünglich für den Herzog von
Augustenburg geschriebenen Briefe für die «Hören» 1794 um.
Was Goethe und Schiller damals mündlich verhandelten und was
sie sich schrieben, schloß sich immer wieder der Gedankenrich-
tung nach an den Ideenkreis dieser Briefe an. Schillers Nachsin-
nen betraf die Frage: Welcher Zustand der Seelenkräfte entspricht
im höchsten Sinne des Wortes einem menschenwürdigen Dasein?
«Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt der Anlage
und Bestimmung nach einen reinen, idealischen Menschen in sich,
mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslun-
gen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist»,
heißt es im vierten Briefe. Eine Brücke soll geschlagen werden
von dem Menschen der alltägigen Wirklichkeit zu dem idealischen
Menschen. Zwei Triebe sind vorhanden, die den Menschen von
der idealischen Vollkommenheit zurückhalten, wenn sie in ein-
seitiger Weise zur Entwickelung kommen: der sinnliche und der
vernünftige Trieb. Hat der sinnliche Trieb die Oberhand, so unter-
liegt der Mensch seinen Instinkten und Leidenschaften. Sein Tun
ist die Folge einer niederen Nötigung. Überwiegt der vernünftige
Trieb, so ist der Mensch bestrebt, Instinkte und Leidenschaften zu
unterdrücken und einer rein geistigen Tugendhaftigkeit nachzu-
streben. In beiden Fällen ist der Mensch einem Zwange unter-
worfen. Im ersteren zwingt seine sinnliche Natur die geistige, im
zweiten seine geistige die sinnliche Natur zur Unterwerfung. Weder
das eine noch das andere kann ein wahrhaft menschenwürdiges
Dasein begründen. Dieses setzt vielmehr eine vollkommene Har-
monie beider Grundtriebe voraus. Die Sinnlichkeit soll nicht
unterdrückt, sondern veredelt werden; die Instinkte und Leiden-
schaften sollen auf eine so hohe Stufe gehoben werden, daß sie in

88

der Richtung wirken, die auch die Vernunft, die höchste Moralität


vorschreibt. Und die moralische Vernunft soll nicht wie eine höhere
Gesetzgebung in dem Menschen walten, der man sich widerwillig
unterwirft, sondern man soll ihre Gebote empfinden wie ein zwang-
loses Bedürfnis. «Wenn wir jemand mit Leidenschaft umfassen,
der unserer Verachtung würdig ist, so empfinden wir peinlich die
Nötigung der Natur. Wenn wir gegen einen ändern feindlich
gesinnt sind, der uns Achtung abnötigt, so empfinden wir pein-
lich die Nötigung der Vernunft. Sobald er aber zugleich unsere
Neigung interessiert und unsere Achtung sich erworben, so ver-
schwindet sowohl der Zwang der Empfindung als der Zwang der
Vernunft, und wir fangen an, ihn zu lieben» (14. Brief). Ein
Mensch, der weder von Seite der Sinnlichkeit noch von Seite der
Vernunft eine Nötigung erfährt, der aus Leidenschaft im Sinne
der reinsten Moral handelt, ist eine freie Persönlichkeit. Und eine
Gesellschaft von Menschen, in denen der natürliche Trieb des Ein-
zelnen so veredelt ist, daß er nicht durch die Machtsprüche der
Gesamtheit gezügelt zu werden braucht, um ein harmonisches
Zusammenleben möglich zu machen, ist der Idealzustand, dem
der Macht- und Zwangsstaat zustreben muß. Äußere Freiheit
im Zusammenleben setzt innere Freiheit der einzelnen Persön-
lichkeiten voraus. In dieser Art suchte Schiller das Problem der
Freiheit des menschlichen Zusammenlebens zu lösen, das da-
mals alle Gemüter bewegte und das in der Französischen Revo-
lution nach einer gewaltsamen Lösung strebte. «Freiheit zu ge-
ben durch Freiheit ist das Grundgesetz» eines menschenwürdigen
Reiches (27. Brief).

Goethe fand sich durch diese Ideen tief befriedigt. Er schreibt


über die «ästhetischen Briefe» am 26. Oktober 1794 an Schiller:
«Das mir übersandte Manuskript habe ich sogleich mit großem
Vergnügen gelesen; ich schlürfte es auf einen Zug hinunter. Wie
uns ein köstlicher, unserer Natur analoger Trunk willig hinunter-
schleicht und auf der Zunge schon durch gute Stimmung des
Nervensystems seine heilsame Wirkung zeigt, so waren mir diese
Briefe angenehm und wohltätig; und wie sollte es anders sein, da
ich das, was ich für Recht seit langer Zeit erkannte, was ich teils

89

lebte, teils zu leben wünschte, auf eine so zusammenhängende und


edle Weise vorgetragen fand.»

So ist der Vorstellungskreis beschaffen, der bei Goethe durch


Schiller angeregt wurde. Aus ihm heraus ist nun eine Dichtung
des ersteren erwachsen, welche wegen ihres geheimnisvollen Cha-
rakters die mannigfaltigsten Auslegungen erfahren hat, die aber
vollständig klar und durchsichtig nur wird, wenn man sie aus
dem geschilderten Vorstellungskreis heraus begreift: Das Rätsel-
märchen, mit dem Goethe seine in den «Hören» erschienene Er-
zählung «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten» schloß und
das im Jahre 1795 in den «Hören» erschien. — Was Schiller in
den «Ästhetischen Briefen» in philosophischer Form aussprach, das
stellte Goethe in einer lebensvollen, mit reichem poetischem Ge-
halt erfüllten Märchendichtung dar. Der menschenwürdige Zu-
stand, den der Mensch erreicht, wenn er in den vollen Besitz der
Freiheit gelangt ist, erscheint in diesem Märchen symbolisiert durch
die Vermählung eines Jünglings mit der schönen Lilie, der
Repräsentantin des Freiheitsreiches, des idealischen Menschen, den
der Mensch des Alltags als sein Ziel in sich trägt.

Die größte Zahl der bisher unternommenen Auslegungsver-


suche findet man verzeichnet in dem Buche «Goethes Märchen-
dichtungen» von Friedrich Meyer von Waldeck (Heidelberg 1879,
Carl Wintersche Universitätsbuchhandlung). Ich habe gefunden,
daß diese Auslegungsversuche hübsche Anregungen geben und in
vieler Beziehung das Richtige treffen, daß jedoch keiner völlig
befriedigend ist. Ich habe nun die Wurzeln der Erklärung in dem
Boden gesucht, aus dem auch Schillers «Ästhetische Briefe» erwach-
sen sind. Trotzdem in mehreren mündlichen Vorträgen - das erste
Mal am 27. November 1891 im Wiener Goethe-Verein - meine
Auslegung auf viele Zuhörer überzeugend gewirkt hat, zögerte ich
bisher noch, sie dem Druck zu übergeben. Auch meinem 1897
erschienenen Buche «Goethes Weltanschauung» habe ich sie noch
nicht eingefügt. Ich hatte das Bedürfnis, die Überzeugung von
ihrer Richtigkeit in mir durch längere Zeit reifen zu lassen. Sie
hat sich bis heute nur befestigt. Das Folgende kann sich nicht an
den Gang der Märchenhandlung halten, sondern muß so ein-

90

gerichtet werden, daß sich der Sinn der Dichtung am bequemsten


enthüllt.*

Eine Person, die für die Entwickelung der Vorgänge im «Mär-


chen» eine hervorragende Rolle spielt, ist der «Alte mit der
Lampe». Als er mit seiner Lampe in die Felsklüfte kommt, wird
er gefragt, welches das wichtigste der Geheimnisse sei, die er
wisse. Er antwortet: «Das offenbare.» Und auf die Frage, ob er
dieses Geheimnis nicht verraten wolle, sagt er: wenn er das vierte
wisse. Dieses vierte aber kennt die Schlange, und sie sagt es dem
Alten ins Ohr. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß dieses
Geheimnis sich auf den Zustand bezieht, nach dem sich alle im
Märchen vorkommenden Personen sehnen. Dieser Zustand wird
uns am Schluß der Dichtung geschildert. Man muß annehmen,
daß der Alte dieses Geheimnis kennt; denn er ist ja die einzige
Person, die immer über den Verhältnissen steht, die alles lenkt
und leitet. Was kann also die Schlange dem Alten sagen? Sie ist
das wichtigste Wesen in dem ganzen Prozesse. Dadurch, daß sie
sich aufopfert, wird erreicht, was alle zuletzt befriedigt. Daß sie
sich aufopfern muß, um diese Befriedigung herbeizuführen, weiß
der Alte offenbar. Was er nicht weiß, ist nur, wann sie dazu
bereit sein wird. Denn das hängt von ihr ab. Sie muß aus sich
heraus zu der Erkenntnis kommen, daß ihre Opferung zum all-
gemeinen Heile notwendig ist. Daß sie zu dieser Opferung bereit
ist, das ist das wichtigste Geheimnis, und das sagt sie dem Alten
ins Ohr. Und nun kann dieser das große Wort aussprechen: «Er
ist an der Zeit!»

Das gewünschte Ziel wird herbeigeführt durch die Wieder-


belebung des Jünglings, durch seine Vereinigung mit der schönen
Lilie und durch den Umstand, daß beide Reiche, das diesseits und

* Bei meinen Vorträgen bin ich oft von Zuhörern darauf angesprochen


worden, ob das «Märchen» in den Goethe-Ausgaben stehe. Ich bemerke des-
halb ausdrücklich, daß es in jeder Goethe-Ausgabe enthalten ist und daß
es den Schluß der Erzählungen «Unterhaltungen deutscher Ausgewander-
ten» bildet.

das jenseits des Flusses, durch die herrliche Brücke verbunden


werden, die aus dem geopferten Leibe der Schlange sich bildet.
Wenn auch die Schlange die Urheberin des glücklichen Zustandes
ist, so könnte sie allein dem Jünglinge doch nicht die Gaben ver-
leihen, durch die er das neubegründete Reich beherrscht. Sie emp-
fängt er von den drei Königen. Von dem ehernen König erhält
er das Schwert mit dem Auftrag: «Das Schwert an der Linken,
die Rechte frei!» Der silberne gibt ihm das Szepter, indem er den
Satz spricht: «Weide die Schafe!» Der goldene drückt ihm den
Eichenkranz aufs Haupt mit den Worten: «Erkenne das Höchste!»
Die drei Könige sind die Symbole für die drei Grundkräfte der
menschlichen Seele, und in den Worten, die sie sprechen, liegt an-
gedeutet, wie sich in dem vollkommenen Menschen diese drei
Grundkräfte ausleben sollen. Das Schwert bezeichnet den Willen,
die physische Stärke und Gewalt. Der Mensch soll es nicht in der
Rechten halten, wo es die Bereitschaft zu Streit und Krieg be-
deutete, sondern in der Linken zum Schutz und zur Abwehr des
Schlechten. Die Rechte soll frei sein für die Taten edler Mensch-
lichkeit. Die Übergabe des Szepters wird begleitet von den Wor-
ten: «Weide die Schafe!» Sie erinnern an Christi Worte: «Weide
meine Lämmer, weide meine Schafe!» Dieser König ist also das
Sinnbild der Frömmigkeit, des edlen Herzens. Der goldene König
teilt dem Jüngling mit dem Eichenkranze die Gabe der Erkennt-
nis
mit. Der Wille, der sich in der Macht, in der Gewalt auslebt,
die Frömmigkeit und die Weisheit in ihrer vollkommensten Ge-
stalt werden dem Jüngling, dem Repräsentanten des menschen-
würdigen Daseins, verliehen. Diese drei Seelenkräfte werden durch
die drei Könige versinnbildlicht. Als daher der Alte die Worte
spricht: «Drei sind, die da herrschen auf Erden, die Weisheit, der
Schein und die Gewalt», da erheben sich die drei Könige, ein
jeder bei Nennung der Seelenkraft, deren Symbol er ist. Eine Un-
klarheit scheint darin zu liegen, daß der silberne König als der
Herrscher im Reiche des Scheins hingestellt wird, während er
nach seinen Worten die Frömmigkeit zu bedeuten hat. Dieser
Widerspruch löst sich sofort, wenn man die nahe Beziehung
bedenkt, in die Goethe die ästhetischen Empfindungen — die der

92

schöne Schein künstlerischer Werke erzeugt - und die religiösen


bringt. Denken wir nur an Sätze von ihm wie diesen: «Es gibt
nur zwei wahre Religionen: die eine, die das Heilige, das in und
um uns wohnt, ganz formlos, die andere, die es in der schönsten
Form anerkennt und anbetet.» Goethe sieht in der Kunst nur eine
andere Form der Religion. Als ihm die Schönheit der griechischen
Kunstwerke aufgegangen war, da sprach er den Satz aus: «Da ist
die Notwendigkeit, da ist Gott.»

Von der Bedeutung der Könige aus können wir auf anderes im


Märchen schließen. Der König der Weisheit ist aus Gold. Wo uns
sonst im Märchen das Gold begegnet, werden wir also in ihm das
Symbol der Weisheit, der Erkenntnis zu erblicken haben. Es ist
bei den Irrlichtern und bei der Schlange der Fall. Die ersteren wis-
sen sich dieses Metall überall auf leichte Weise anzueignen, um
es dann verschwenderisch, hochmütig von sich zu werfen. Die
Schlange kommt schwer zu demselben, nimmt es aber organisch
in sich auf, verarbeitet es in ihrem Leibe und durchdringt sich
ganz damit. Wir haben zweifellos in den Irrlichtern eine bildliche
Darstellung von Persönlichkeiten vor uns, die sich ihre Weisheit
von allen Seiten zusammenlesen und sie dann stolz und auch
leichtfertig von sich geben, ohne sich hinreichend mit ihr durch-
drungen zu haben. Unproduktive Geister stellen die Irrlichter dar,
die unverdautes Wissen verbreiten. Fallen ihre Worte auf frucht-
baren Boden, so können sie das Allerbeste bewirken. Ein Mensch
kann Lehren, denen er selbst durchaus kein tiefes Verständnis ent-
gegenbringt, einem anderen mitteilen, und dieser andere kann
einen tiefen Sinn darin erkennen. Die Schlange stellt das solide
menschliche Streben dar, das ehrliche Hinschreiten auf der Bahn
der Erkenntnis. Für sie wird das von den Irrlichtern verschleu-
derte Gold kostbares Gut, das sie in sich bewahrt. Für Goethe
hatte der Gedanke, daß jemand die in sich aufgenommene Weis-
heit als Lehrer von sich gibt, etwas Unbehagliches. Das Lehren
führt nach seiner Meinung leicht dazu, die Wissenschaft sich an-
zueignen, um sie wieder ausgeben zu können. Er preist sich des-
halb glücklich, daß er sich der Forschung widmen kann, ohne zu-
gleich einen Lehrstuhl einnehmen zu müssen. Nur wer in der

93

letzteren Lage ist, wird — von Ausnahmen natürlich abgesehen —


sich wahrhaft selbstlos in die Dinge vertiefen und der wahren
Humanität dienen. Wer die Weisheit um des Lehrens willen er-
wirbt, der wird leicht zum falschen Propheten oder Sophisten. An
diese erinnern die Irrlichter. Aber nur die selbstlose Erkenntnis,
die in den Dingen ganz aufgeht und die in der Schlange verbild-
licht wird, kann zu der Einsicht kommen, daß das Höchste nur
durch die selbstlose Hingabe erreicht werden kann. Der Mensch,
der seine Alltagspersönlichkeit absterben läßt, um den idealischen
Menschen in sich zu erwecken, erreicht dieses Höchste. Was ein
Mystiker wie Jakob Böhme mit den Worten ausgesprochen hat:
der Tod ist die Wurzel alles Lebens, das hat Goethe mit der sich
opfernden Schlange zum Ausdruck gebracht. Wer nicht loskom-
men kann von seinem kleinen Ich, wer nicht imstande ist, das
höhere Ich in sich auszubilden, der kann nach Goethes Ansicht
nicht zur Vollkommenheit gelangen. Der Mensch muß als einzelner
absterben, um als höhere Persönlichkeit wieder aufzuleben. Das
neue Leben ist dann erst das menschenwürdigste, dasselbe, das,
nach Schillers Weise zu sprechen, weder von der Vernunft noch
von der Sinnlichkeit eine Nötigung empfindet. Im «Diwan» lesen
wir Goethes schönes Wort: «Und so lang du das nicht hast, dieses:
Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen
Erde.» Und einer der «Sprüche in Prosa» heißt: «Man muß seine
Existenz aufgeben, um zu existieren.» Die Schlange gibt ihre Exi-
stenz auf, um die Brücke zu bilden zur Verbindung der beiden
Reiche, dem der Sinnlichkeit und dem der Geistigkeit. Der Tem-
pel mit seinem bunten Gewimmel ist das höhere Leben der
Schlange, das sie durch den Tod ihrer niederen Natur erkauft hat.
Ihre Worte, sie wolle sich freiwillig aufopfern, um nicht auf-
geopfert zu werden, sind nur ein anderer Ausdruck für Jakob
Böhmes Satz: «Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn
er stirbt»; das heißt, wer dahinlebt, ohne die niedere Natur in sich
abzutöten, der stirbt zuletzt, ohne eine Ahnung zu haben von dem
idealischen Menschen in sich.

Der Jüngling wird durch ein unbezwingliches Verlangen nach


dem Reich der schönen Lilie gedrängt. Man vergegenwärtige sich

94

die Kennzeichen dieses Reiches. Die Menschen können, trotzdem


sie die tiefste Sehnsucht nach dem Gebiet der Lilie haben, doch
nur zu bestimmten Zeiten in dasselbe gelangen. Zur Mittagszeit,
wenn die Schlange eine Brücke über den Fluß bildet; dann abends
und morgens, wenn der Schatten des Riesen sich über den Fluß
breitet. Jemand, der sich der Beherrscherin dieses Reiches, der
schönen Lilie, nähert, ohne dazu die innere Eignung zu besitzen,
kann sein Leben in der schwersten Weise schädigen. Ferner hat
die Lilie selbst Verlangen nach dem anderen Reiche. Endlich kann
der Fährmann jeden herüber-, niemand aber hinüberbringen. Was
bedeutet demnach das Reich der schönen Lilie? Goethe sagt -
«Sprüche in Prosa» —: «Alles, was unsern Geist befreit, ohne uns
die Herrschaft über uns selbst zu geben, ist verderblich.» Die
Herrschaft über sich selbst hat nur der Mensch, der sich rückhalt-
los seinen Neigungen überlassen darf, weil diese aus sich selbst
nur im moralischen Sinne wirken. «Pflicht, wo man liebt, was
man sich selbst befiehlt», ist ein Spruch Goethes. Wer sich der
Freiheit bemächtigt, ohne die Herrschaft über sich selbst zu haben,
dem geht es wie dem Jüngling, der durch die Berührung mit der
Lilie gelähmt worden ist. Das Reich des einseitig wirkenden Ver-
nunfttriebes, der rein geistigen Moralität, ist das der Lilie. Das-
jenige der einseitig wirkenden Sinnlichkeit ist an der anderen Seite
des Flusses. Bei dem noch unvollkommenen Menschen ist der Ein-
klang zwischen sinnlichem Trieb und Vernunfttrieb im allgemei-
nen nicht hergestellt. Nur in gewissen Augenblicken handelt er
aus Leidenschaft so, daß dies Handeln von selbst auch moralisch
ist. Das wird dadurch symbolisiert, daß die Schlange nur in gewis-
sen Augenblicken, in der Mittagszeit, eine Brücke über den Fluß
bilden kann. Daß die Lilie Sehnsucht nach dem ändern Reiche hat,
drückt aus, daß der Vernunfttrieb sein Wesen nur erfüllt, wenn er
nicht wie ein strenger Gesetzgeber jenseits der Begierden und
Instinkte wirkt und diese zügelt, sondern wenn er diese durch-
dringt, sich mit ihnen verbindet. Der Fährmann kann jeden her-
über-, niemand aber hinüberbringen. Die Menschen stammen,
ohne daß sie selbst etwas dazu getan haben, aus dem Reiche der
Vernunft, sie kommen aber nicht ohne ihr Zutun aus dem Reiche

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der Leidenschaften wieder in ihr eigentliches Heimatland zurück.


Außer in den Augenblicken, in denen der Mensch durch den Aus-
gleich von Vernunft und Sinnlichkeit den Idealzustand des Lebens
erreicht, sucht er in denselben auch noch durch Gewalt zu gelan-
gen, durch Willkür, die in den politischen Revolutionen zum Aus-
druck kommen. Für diese Art der Verbindung beider Reiche
bringt Goethe den Riesen und seinen Schatten. In Revolutionen
lebt sich der Drang nach dem Idealzustand dumpf aus, wie in der
Dämmerung der Schatten des Riesen sich über den Fluß legt. Daß
diese Deutung des Riesen richtig ist, dafür gibt es auch ein histo-
risches Zeugnis. Am 16. Oktober 1795 schreibt Schiller an Goethe,
der sich auf einer Reise befindet, die bis nach Frankfurt a. M.
sich ausdehnen sollte: «Es ist mir in der Tat lieb, Sie noch fern
von den Händeln am Main zu wissen. Der Schatten des Riesen
könnte Sie leicht etwas unsanft anfassen.» Was die Willkür, der
gesetzlose Verlauf geschichtlicher Ereignisse im Gefolge hat, ist
also mit dem Schatten des Riesen gemeint.

Zwischen die Vernunft und die Sinnlichkeit stellen sich, so daß


der noch unvollkommene Mensch abgehalten wird, durch seine
Leidenschaften die Moralität zu zerstören: Sitte, alles, was gesell-
schaftliche Ordnung der Gegenwart ist. Diese Ordnung findet ihr
Sinnbild in dem Flusse. Im dritten der «Briefe über die ästhe-
tische Erziehung des Menschen» sagt Schiller vom Staate: «Der
Zwang der Bedürfnisse warf den Menschen hinein, ehe er in sei-
ner Freiheit diesen Stand wählen konnte; die Not richtete den-
selben nach bloßen Naturgesetzen ein, ehe er es nach Vernunft-
gesetzen konnte.» Der Fluß trennt die beiden Reiche, bis die
Schlange sich opfert. Der Fährmann will von jedem Wanderer
mit Früchten der Erde belohnt sein; Staat und Gesellschaft legen
dem Menschen reale Pflichten auf; sie können das phrasenhafte
Geschwätz falscher Propheten und bloß mit Worten bezahlender
Volksbeglücker sowenig brauchen wie der Fährmann die Gold-
stücke der Irrlichter. Die Alte bekennt sich dem Flusse als Schuld-
nerin und haftet ihm mit ihrem Leibe; ihre Gestalt schwindet, da
sie Schuldnerin ist. So bekennt sich das Individuum dem Staate
als Schuldner; es geht im Staate auf, gibt diesem einen Teil seines

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Selbstes hin. Solange der Mensch nicht auf solcher Höhe steht,


daß er frei aus sich heraus moralisch handelt, muß er verzichten,
einen Teil seines Selbst von sich aus zu bestimmen; er muß sich
dem Staate verschreiben.

Die Lampe des Alten hat die Eigenschaft, nur da zu leuchten,


wo schon ein anderes Licht vorhanden ist. Wir müssen an den von
Goethe wiederholten Spruch eines alten Mystikers denken: «Wär'
nicht das Auge sonnenhaft, wie könnten wir das Licht erblicken?
Lebt' nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt' uns Gött-
liches entzücken?» So wie die Lampe im Dunkeln nicht leuchtet,
so leuchtet das Licht der Wahrheit, der Erkenntnis auch denen
nicht, die ihm nicht die geeigneten Organe, das innere Licht, ent-
gegenbringen. Dieses Licht der Weisheit ist es aber, das den Men-
schen an sein Ziel führt. Es bringt ihn dahin, den Einklang seiner
Triebe herzustellen. Dieses Licht läßt ihn die Gesetze der Dinge
erkennen. Was für ihn tote Masse ist, verwandelt sich durch die
Erkenntnis in ein lebendiges Ding, das für unsern Geist durch-
sichtig ist. Anders steht die Welt vor dem, der sie erkannt hat,
als vor dem, der ohne Erkenntnis dahinlebt. Die Verwandlung, die
alle Dinge für unseren Geist erfahren, wenn sie von dem Lichte
der Erkenntnis beleuchtet werden, wird symbolisiert durch die
Verwandlung, welche die Dinge durch das Licht der Lampe erfah-
ren. Steine verwandelt dieses Licht in Gold, Holz in Silber und
tote Tiere in Edelsteine.

Durch die Opferung der Schlange hört das Reich des vierten


Königs auf, der Gold, Silber und Erz chaotisch in sich trug. Das
harmonische Zusammenwirken der drei Metalle, aus denen die
drei anderen Könige bestehen, beginnt. Durch die Erweckung des
idealischen Menschen hören die Seelenkräfte auf, chaotisch, ein-
seitig durcheinanderzuwirken, sie erreichen eine vollkommene
Harmonie. Die Irrlichter lecken das Gold des vierten Königs auf.
Ist der menschenwürdige Zustand erreicht, so haben die unproduk-
tiven Geister das Geschäft, die Vergangenheit, in der noch das
Unvollkommene herrschte, wissenschaftlich, als Geschichte, zu ver-
arbeiten. Auf das Wesen der Irrlichter wirft auch die Gestalt des
Mopses Licht. Sie werfen ihm ihr Gold hin, und er stirbt vom

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Genuß desselben. So geht der zugrunde, dem falsche Propheten


und Sophisten ihre für ihn unverdaulichen Lehren beibringen.

Auf dem Flusse wird der Tempel errichtet, in dem sich die Ver-


mählung des Jünglings mit der schönen Lilie vollzieht. Aus dem
Zwangsstaate wird die freie Gesellschaft herauswachsen, in der
jeder sich seinen Neigungen überlassen kann, weil sie nur in dem
Sinne wirken, daß edles Zusammenleben der Menschen möglich
ist. Dann wird der Mensch nicht mehr nur in Augenblicken den
befriedigenden Zustand erleben, er wird ihn nicht mehr durch
revolutionäre Gewalt zu erringen suchen, er wird für ihn in jedem
Augenblicke gegenwärtig sein. Am Schluß des Märchens findet
man das poetische Bild für diese Wahrheit: «Die Brücke ist ge-
baut; alles Volk geht fortwährend herüber und hinüber, bis auf
den heutigen Tag wimmelt die Brücke von Wanderern, und der
Tempel ist der besuchteste auf der ganzen Erde.»

Gibt man diesen Grundstock der Auslegung zu, dann erklärt


sich wie von selbst jeder Vorgang, jede Person des Märchens. Man
nehme zum Beispiel den Habicht. Er fängt den Strahl der Sonne
auf, um ihn auf die Erde zu reflektieren, bevor es der Sonne selbst
noch möglich ist, direkt ihr Licht auf dieselbe zu senden. So kann
auch der menschliche Spürsinn die Ereignisse einer nicht zu fernen
Zukunft vorausberechnen. In den Dienerinnen der schönen Lilie
kann man Repräsentanten jener glücklich veranlagten mensch-
lichen Wesen sehen, denen durch ihre Natur der Einklang von
Sinnlichkeit und Vernunft geschenkt ist. Sie werden in das neue
Reich hinüberleben, ohne von dem Übergang etwas zu merken,
wie die Dienerinnen während des Momentes der Umwandlung
schlummern. — Daß das Symbol der rohen Gewalt, der Riese, zu-
letzt als Stundenzeiger eine Rolle spielt, möchte ich dahin deuten,
daß auch die Unvernunft im Weltgetriebe ihren Platz ausfüllen
kann, wenn sie nicht zu Verrichtungen verwendet wird, die dem
freien Menschengeiste ziemen, sondern innerhalb strenger Natur-
regelmäßigkeit zur Entfaltung ihrer Kraft gebracht ist.

Durch Schiller wurde also Goethe angeregt, in seiner Weise,


poetisch, sein ethisches Glaubensbekenntnis auszusprechen, wie es
Schiller selbst in den «ästhetischen Briefen» auf andere Art getan

98

hat. Auf die Gespräche, die in der in Betracht kommenden Zeit


über diese Ideen stattgefunden haben, deutet Schiller in dem
Briefe, mit dem er den Empfang des Manuskriptes anzeigt: «Das
ist bunt und lustig genug, und ich finde die Idee, deren
Sie einmal erwähnten: und das Zurückweisen aufeinander>, recht artig ausgeführt.»

DER INDIVIDUALISMUS IN DER PHILOSOPHIE

Wäre der Mensch' bloß Geschöpf der Natur und nicht zugleich
Schaffender, so stände er nicht fragend vor den Erscheinungen
der Welt und suchte auch nicht ihr Wesen und ihre Gesetze zu
ergründen. Er befriedigte seinen Nahrungs- und Fortpflanzungs-
trieb gemäß den seinem Organismus eingeborenen Gesetzen und
ließe im übrigen die Ereignisse der Welt laufen, wie sie eben
laufen. Er käme gar nicht darauf, an die Natur eine Frage zu stel-
len. Zufrieden und glücklich wandelte er durchs Leben wie die
Rose, von der Angelus Silesius sagt:

«Die Ros' ist ohn warumb, sie blühet, weil sie blühet,


sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie sihet.»

So kann die Rose sein. Was sie ist, ist sie, weil die Natur sie


dazu gemacht hat. So kann aber der Mensch nicht sein. In ihm
liegt der Trieb, zu der vorhandenen Welt noch eine aus ihm ent-
sprungene hinzuzufügen. Er will mit seinen Mitmenschen nicht
in dem zufälligen Nebeneinander leben, in das ihn die Natur
gestellt hat, er sucht das Zusammenleben mit ändern nach Maß-
gabe seines vernünftigen Denkens zu regeln. Die Gestalt, in
welche die Natur den Mann und das Weib eingebildet, genügt
ihm nicht; er schafft die idealen Figuren der griechischen Plastik.
Dem natürlichen Gang der Ereignisse im täglichen Leben fügt er
den seiner Phantasie entsprungenen in der Tragödie und Komödie
hinzu. In der Architektur und Musik entspringen aus seinem
Geiste Schöpfungen, die kaum noch an irgend etwas von der

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Natur Geschaffenes erinnern. In seinen Wissenschaften entwirft


er begriffliche Bilder, durch die das Chaos der Welterscheinun-
gen, das täglich vor unsern Sinnen vorüberzieht, als harmonisch
geregeltes Ganzes, als in sich gegliederter Organismus erscheint.
In der Welt seiner eigenen Taten schafft er ein besonderes Reich,
das des historischen Geschehens, das wesentlich anderer Art ist als
der Tatsachenverlauf der Natur.

Daß alles, was er schafft, nur eine Fortsetzung des Wirkens der


Natur ist, das fühlt der Mensch. Daß er berufen ist, zu dem, was
die Natur aus sich selbst vermag, ein Höheres hinzuzufügen, das
weiß er auch. Er ist sich dessen bewußt, daß er aus sich eine
andere, höhere Natur zu der äußeren hinzugebärt.

So steht der Mensch zwischen zwei Welten: derjenigen, die von


außen auf ihn eindringt, und derjenigen, die er aus sich hervor-
bringt. Diese beiden Welten in Einklang zu bringen, ist er bemüht.
Denn sein ganzes Wesen ist auf Harmonie gerichtet. Er möchte
leben wie die Rose, die nicht fragt nach dem Warum und Weil,
sondern die blühet, weil sie blühet. Schiller fordert das von dem
Menschen mit den Worten:

«Suchst Du das Höchste, das Größte?

Die Pflanze kann es Dich lehren.

Was sie willenlos ist, sei Du es wollend - das ist's!»

Die Pflanze kann es sein. Denn aus ihr entspringt kein neues
Reich, und die bange Sehnsucht kann daher in ihr auch nicht ent-
stehen: wie bringe ich die beiden Reiche miteinander in Einklang?

Das, was in ihm selbst liegt, mit dem, was die Natur aus sich


erzeugt, in Harmonie zu bringen, das ist das Ziel, dem der Mensch
durch alle Zeiten der Geschichte zustrebt. Die Tatsache, daß er
fruchtbar ist, wird zum Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung
mit der Natur, die den Inhalt seines geistigen Strebens ausmacht.

Es gibt zwei Wege für diese Auseinandersetzung. Entweder


läßt der Mensch die äußere Natur über seine innere Herr werden,
oder er unterwirft sich diese äußere Natur. In dem ersteren Fall
sucht er sein eigenes Wollen und Sein dem äußeren Gang der
Ereignisse unterzuordnen. In dem zweiten nimmt er Ziel und

100


Richtung seines Wollens und Seins aus sich selbst und sucht mit
den Ereignissen der Natur, die doch ihren eigenen Gang gehen,
auf irgendeine Weise fertigzuwerden.

Ich möchte zuerst von dem ersten Fall sprechen. Daß der


Mensch über das Reich der Natur hinaus noch ein anderes, in sei-
nem Sinne höheres erschafft, ist seinem Wesen gemäß. Er kann
nicht anders. Welche Empfindungen und Gefühle er diesem sei-
nem Reiche gegenüber hat, davon hängt es ab, wie er sich zu der
Außenwelt stellt. Er kann nun seinem eigenen Reiche gegenüber
dieselben Empfindungen haben wie den Tatsachen der Natur
gegenüber. Dann läßt er die Geschöpfe seines Geistes an sich
herankommen, wie er ein Ereignis der Außenwelt, zum Beispiel
Wind und Wetter, an sich herankommen läßt. Er vernimmt kei-
nen Artunterschied zwischen dem, was in der Außenwelt, und dem,
was in seiner Seele vorgeht. Er ist deshalb der Ansicht, daß sie nur
ein Reich sind, das von einer Art von Gesetzen beherrscht wird.
Nur fühlt er, daß die Geschöpfe des Geistes höherer Art sind.
Deshalb stellt er sie über die Geschöpfe der bloßen Natur. Er
versetzt also seine eigenen Geschöpfe in die Außenwelt und läßt
von ihnen die Natur beherrscht sein. Er kennt somit nur Außen-
welt. Denn seine eigene innere Welt verlegt er nach außen. Kein
Wunder, daß ihm auch sein eigenes Selbst zum untergeordneten
Gliede dieser Außenwelt wird.

Die eine Art der Auseinandersetzung des Menschen mit der


Außenwelt besteht demnach darin, daß er sein Inneres als ein
Äußeres ansieht und dieses nach außen versetzte Innere zugleich als
den Herrscher und Gesetzgeber über die Natur und sich selbst setzt.

Ich habe hiermit den Standpunkt des religiösen Menschen charak-


terisiert. Eine göttliche Weltordnung ist ein Geschöpf des mensch-
lichen Geistes. Nur ist sich der Mensch nicht klar darüber, daß der
Inhalt dieser Weltordnung aus seinem eigenen Geiste entsprungen
ist. Er verlegt ihn daher nach außen und ordnet sich seinem eige-
nen Erzeugnis unter.

Der handelnde Mensch kann sich nicht dabei beruhigen, sein


Handeln einfach gelten zu lassen. Die Blume blühet, weil sie
blühet. Sie fragt nicht nach dem Warum und Weil. Der Mensch

101


nimmt Stellung zu seinem Tun. Ein Gefühl knüpft sich an dieses
Tun. Er ist entweder befriedigt oder nicht befriedigt von einer
seiner Handlungen. Er unterscheidet das Tun nach seinem Werte.
Das eine Tun betrachtet er als ein solches, das ihm gefällt, das
andere als ein solches, das ihm mißfällt. In dem Augenblicke, in
dem er so empfindet, ist für ihn die Harmonie der Welt gestört.
Er ist der Ansicht, daß das wohlgefällige Tun andere Folgen nach
sich ziehen muß als dasjenige, das sein Mißfallen hervorruft. Wenn
er sich nun nicht klar darüber ist, daß er aus sich heraus zu den
Handlungen das Werturteil hinzugefügt hat, so glaubt er, diese
Wertbestimmung hänge den Handlungen durch eine äußere Macht
an. Er ist der Ansicht, daß eine solche äußere Macht die Gescheh-
nisse dieser Welt unterscheide in solche, die gefallen und daher
gut sind, und in solche, die mißfallen, also schlecht, böse sind.
Ein Mensch, der in dieser Weise empfindet, macht keinen Unter-
schied zwischen den Tatsachen der Natur und den Handlungen
des Menschen. Er beurteilt beide von demselben Gesichtspunkte
aus. Das ganze Weltall ist ihm ein Reich, und die Gesetze, die
dies Reich regieren, entsprechen ganz denen, die der menschliche
Geist aus sich selbst hervorbringt.

In dieser Art der Auseinandersetzung des Menschen mit der


Welt tritt ein ursprünglicher Zug der menschlichen Natur zutage.
Der Mensch mag sich noch so unklar über sein Verhältnis zur
Welt sein: er sucht doch in sich den Maßstab, mit dem er alle
Dinge messen kann. Aus einer Art unbewußten Souveränitäts-
gefühles heraus entscheidet er über den absoluten Wert alles Ge-
schehens. Man kann forschen, wie man will: Menschen, die sich
von Göttern regiert glauben, gibt es ohne Zahl; solche, die nicht
selbständig, über den Kopf der Götter hinweg, ein Urteil fällen,
was diesen Göttern gefallen kann oder mißfallen, gibt es nicht.
Zum Herren der Welt vermag der religiöse Mensch sich nicht
aufzuwerfen; wohl aber bestimmt er die Neigungen der Welt-
herrscher aus eigener Machtvollkommenheit.

Man braucht die religiös empfindenden Naturen nur zu betrach-


ten, und man wird meine Behauptungen bestätigt finden. Wo hat
es je Verkündiger von Göttern gegeben, die nicht zugleich ganz

102


genau festgestellt hätten, was diesen Göttern gefällt und was
ihnen zuwider ist. Jede Religion hat ihre Weisheit über das Welt-
all, und jede behauptet auch, daß diese Weisheit von einem Gotte
oder mehreren Göttern stamme.

Will man den Standpunkt des religiösen Menschen charakteri-


sieren, so muß man sagen: er versucht die Welt von sich aus zu
beurteilen, aber er hat nicht den Mut, auch sich selbst die Ver-
antwortung für dieses Urteil zuzuschreiben, deshalb erfindet er
sich Wesen in der Außenwelt, denen er diese Verantwortung
aufbürdet.

Durch diese Betrachtungen scheint mir die Frage beantwortet


zu sein: was ist Religion? Der Inhalt der Religion entspringt aus
dem menschlichen Geiste. Aber dieser Geist will sich diesen Ur-
sprung nicht eingestehen. Der Mensch unterwirft sich seinen eige-
nen Gesetzen, aber er betrachtet diese Gesetze als fremde. Er setzt
sich zum Herrscher über sich selbst ein. Jede Religion setzt das
menschliche Ich zum Regenten der Welt ein. Ihr Wesen besteht
eben darinnen, daß sie sich dieser Tatsache nicht bewußt ist. Sie
betrachtet als Offenbarung von außen, was sie sich selber offenbart.

Der Mensch wünscht, daß er in der Welt oben an erster Stelle


stehe. Aber er wagt es nicht, sich als den Gipfel der Schöpfung
hinzustellen. Deshalb erfindet er sich Götter nach seinem Bilde
und läßt von ihnen die Welt regieren. Indem er so denkt, denkt
er religiös.

Das religiöse Denken wird von dem philosophischen Denken


abgelöst. In den Zeiten und bei den Menschen, wo diese Ablösung
geschieht, enthüllt sich uns die Menschennatur auf eine ganz beson-
dere Weise.

Für die Entwickelung des abendländischen Denkens ist beson-


ders interessant der Übergang des mythologischen Denkens der
Griechen zu dem philosophischen. Drei Denker möchte ich zu-
nächst aus der Zeit dieses Übergangs hervorheben: Anaximander,
Thales und Parmenides. Sie stellen drei Stufen dar, die von der
Religion zur Philosophie führen.

103


Die erste Stufe auf diesem Wege ist dadurch gekennzeichnet,
daß die göttlichen Wesen nicht mehr anerkannt werden, aus denen
der aus dem menschlichen Ich entnommene Inhalt stammen soll.
Trotzdem wird aber — aus Gewohnheit - noch daran festgehalten,
daß dieser Inhalt aus der Außenwelt stammt. Auf dieser Stufe
steht Anaximander. Er redet nicht mehr von Göttern wie seine
griechischen Vorfahren. Das höchste, die Welt regierende Prinzip
ist ihm nicht ein Wesen, das nach dem Bilde des Menschen vor-
gestellt wird. Es ist ein unpersönliches Wesen, das Apeiron, das
Unbestimmte. Es entwickelt alles in der Natur Vorkommende aus
sich, aber nicht in der Art, wie ein Mensch schafft, sondern aus
Naturnotwendigkeit. Aber diese Naturnotwendigkeit denkt sich
Anaximander noch immer analog einem Handeln, das nach
menschlichen Vernunftgrundsätzen verläuft. Er stellt sich sozu-
sagen eine moralische Naturgesetzlichkeit vor, ein höchstes Wesen,
das die Welt wie ein menschlicher Sittenrichter behandelt, ohne
ein solcher zu sein. Nach Anaximander geschieht alles in der
Welt so notwendig, wie der Magnet das Eisen anzieht, aber es
geschieht nach moralischen, das heißt menschlichen Gesetzen.
Nur von diesem Gesichtspunkte aus konnte er sagen: «Woraus
die Dinge entstehen, in dasselbe müssen sie auch vergehen, wie es
der Billigkeit gemäß ist, denn sie müssen Buße und Vergeltung
tun, um der Ungerechtigkeit willen, wie es der Ordnung der Zeit
entspricht.»

Dies ist die Stufe, auf der ein Denker anfängt, philosophisch zu


urteilen. Er läßt die Götter fallen. Er schreibt also das, was aus
dem Menschen kommt, nicht mehr den Göttern zu. Aber er tut
nichts weiter, als daß er die Eigenschaften, die vorher göttlichen,
also persönlichen Wesen beigelegt worden sind, auf ein un-
persönliches überträgt.

In ganz freier Weise tritt Thaies der Welt gegenüber. Wenn er


auch um ein paar Jahre älter ist als Anaximander, er ist philo-
sophisch viel reifer. Seine Denkungsweise ist gar nicht mehr
religiös.

Innerhalb des abendländischen Denkens ist erst Thaies ein


Mann, der sich in der zweiten oben genannten Art mit der Welt

104


auseinandersetzt. Hegel hat es so oft betont, daß das Denken die
Eigenschaft ist, die den Menschen vom Tiere unterscheidet. Thaies
ist die erste abendländische Persönlichkeit, die es wagte, dem Den-
ken seine Souveränitätsstellung anzuweisen. Er kümmerte sich
nicht mehr darum, ob Götter die Welt nach der Ordnung der
Gedanken eingerichtet haben oder ob ein Apeiron die Welt nach
Maßgabe des Denkens lenkt. Er wußte nur, daß er dachte, und
nahm an, daß er deswegen, weil er dachte, auch ein Recht habe,
sich die Welt nach Maßgabe seines Denkens zurechtzulegen. Man
unterschätze diesen Standpunkt des Thaies nicht! Er war eine un-
geheure Rücksichtslosigkeit gegenüber allen religiösen Vorurtei-
len. Denn er war die Erklärung der Absolutheit des menschlichen
Denkens. Die religiösen Menschen sagen: die Welt ist so ein-
gerichtet, wie wir sie uns denken, denn Gott ist. Und da sie sich
Gott nach dem Ebenbilde des Menschen denken, ist es selbstver-
ständlich, daß die Ordnung der Welt der Ordnung des mensch-
lichen Kopfes entspricht. Thaies ist das alles ganz gleichgültig.
Er denkt über die Welt. Und kraft seines Denkens schreibt er
sich ein Urteil über die Welt zu. Er hat bereits ein Gefühl davon,
daß das Denken nur eine menschliche Handlung ist, und dennoch
geht er daran, mit Hilfe dieses bloß menschlichen Denkens die
Welt zu erklären. Das Erkennen selbst tritt mit Thaies in ein ganz
neues Stadium seiner Entwickelung. Es hört auf, seine Rechtfer-
tigung aus dem Umstände zu ziehen, daß es nur nachzeichnet,
was die Götter vorgezeichnet haben. Es entnimmt aus sich selbst
das Recht, über die Gesetzmäßigkeit der Welt zu entscheiden.
Es kommt zunächst gar nicht darauf an, ob Thaies das Wasser
oder irgend etwas anderes zum Prinzip der Welt gemacht hat,
sondern darauf, daß er sich gesagt hat: was Prinzip ist, das will
ich durch mein Denken entscheiden. Er hat es als selbstverständ-
lich angenommen, daß das Denken in solchen Dingen die Macht
hat. Und darin liegt seine Größe.

Man vergegenwärtige sich nur einmal, was damit getan ist.


Nichts Geringeres ist damit geschehen als dies, daß dem Men-
schen die geistige Macht über die Welterscheinungen gegeben ist.
Wer auf sein Denken vertraut, der sagt sich: mögen die Wogen

105


des Geschehens noch so stürmisch brausen, möge die Welt ein
Chaos scheinen: ich bin ruhig, denn all dies tolle Getriebe be-
unruhigt mich nicht, weil ich es begreife.

Diese göttliche Ruhe des Denkers, der sich selbst versteht, hat


Heraklit nicht begriffen. Er war der Ansicht, daß alle Dinge in
ewigem Flusse seien. Daß das Werden das Wesen der Dinge sei.
Wenn ich in einen Fluß hineinsteige, so ist er nicht mehr derselbe
wie in dem Momente, in dem ich mir vorgenommen, hineinzu-
steigen. Aber Heraklit übersieht nur eins. Was der Fluß mit sich
fortträgt, das bewahrt das Denken, und es findet, daß im nächsten
Momente ein Wesentliches von dem wieder vor die Sinne tritt,
was schon vorher da war.

So wie Thaies mit seinem festen Glauben an die Macht des


menschlichen Denkens, so ist auch Heraklit eine typische Er-
scheinung im Reiche derjenigen Persönlichkeiten, die sich mit
den bedeutsamsten Fragen des Daseins auseinandersetzen. Er fühlt
nicht in sich die Kraft, durch das Denken den ewigen Fluß des
sinnlichen Werdens zu bezwingen. Heraklit sieht in die Welt,
und sie zerfließt ihm in nicht festzuhaltende Augenblickserschei-
nungen. Hätte Heraklit recht, dann zerflatterte alles in der Welt,
und im allgemeinen Chaos müßte auch die menschliche Persön-
lichkeit sich auflösen. Ich wäre heute nicht derselbe, der ich
gestern war, und morgen wäre ich ein anderer als heute. Der
Mensch stünde in jedem Augenblicke vor völlig Neuem und hätte
keine Macht. Denn von den Erfahrungen, die er sich bis zu einem
bestimmten Tage gesammelt hat, wäre es fraglich, ob sie ihm eine
Richtschnur an die Hand geben zur Behandlung des völlig Neuen,
das ihm ein junger Tag bringt.

In schroffen Gegensatz zu Heraklit stellt sich deshalb Parmenides.


Mit all der Einseitigkeit, die nur einer kühnen Philosophennatur
möglich ist, verwarf er jegliches Zeugnis der sinnlichen Wahr-
nehmung. Denn eben diese in jedem Augenblick sich ändernde
Sinnenwelt verführt zu der Ansicht des Heraklit. Dafür sprach er
als den Quell aller Wahrheit einzig und allein die Offenbarungen
an, die aus dem innersten Kern der menschlichen Persönlichkeit
hervordringen, die Offenbarungen des Denkens. Nicht was vor

106


den Sinnen vorüberfließt, ist das wirkliche Wesen der Dinge —
nach seiner Ansicht, sondern die Gedanken, die Ideen, welche das
Denken in diesem Strome gewahr wird und festhält!

Wie so vieles, was als Gegenschlag auf eine Einseitigkeit er-


folgt, so wurde auch die Denkweise des Parmenides verhängnis-
voll. Sie verdarb das europäische Denken auf Jahrhunderte hin-
aus. Sie untergrub das Vertrauen in die Sinneswahrnehmung.
Während nämlich ein unbefangener, naiver Blick auf die Sinnen-
welt aus dieser selbst den Gedankeninhalt schöpft, der den
menschlichen Erkenntnistrieb befriedigt, glaubte die im Sinne des
Parmenides sich fortentwickelnde philosophische Bewegung die
rechte Wahrheit nur aus dem reinen, abstrakten Denken schöpfen
zu sollen.

Die Gedanken, die wir in lebendigem Verkehr mit der Sin-


nenwelt gewinnen, haben einen individuellen Charakter, sie haben
die Wärme von etwas Erlebtem in sich. Wir exponieren unsere
Person, indem wir Ideen aus der Welt herauslösen. Wir fühlen
uns als Überwinder der Sinnenwelt, wenn wir sie in die Ge-
dankenwelt einfangen. Das abstrakte, reine Denken hat etwas
Unpersönliches, Kaltes. Wir fühlen immer einen Zwang, wenn
wir die Ideen aus dem reinen Denken herausspinnen. Unser
Selbstgefühl kann durch ein solches Denken nicht gehoben wer-
den. Denn wir müssen uns der Gedankennotwendigkeit einfach
unterwerfen.

Parmenides hat nicht berücksichtigt, daß das Denken eine


Tätigkeit der menschlichen Persönlichkeit ist. Er hat es unpersön-
lich, als ewigen Seinsinhalt, genommen. Das Gedachte ist das
Seiende, hat er gesagt.

Er hat dadurch an die Stelle der alten Götter einen neuen ge-


setzt. Während die ältere, religiöse Vorstellungsweise den ganzen,
fühlenden, wollenden und denkenden Menschen als Gott an die
Spitze der Welt gesetzt hatte, nahm Parmenides eine einzelne
menschliche Tätigkeit, einen Teil aus der Persönlichkeit heraus
und machte daraus ein göttliches Wesen.

Auf dem Gebiete der Anschauungen über das sittliche Leben


des Menschen wird Parmenides durch Sokrates ergänzt. Der Satz:

107


die Tugend ist lehrbar, den dieser ausgesprochen hat, ist die ethi-
sche Konsequenz der Anschauung des Parmenides, daß das Den-
ken gleich dem Sein ist. Ist dies letztere eine Wahrheit, so kann
das menschliche Handeln nur dann darauf Anspruch machen, sich
zu einem wertvollen Seienden erhoben zu haben, wenn es aus dem
Denken fließt. Aus dem abstrakten, logischen Denken, dem sich
der Mensch einfach zu fügen, das heißt das er sich als Lernender
anzueignen hat.

Es ist klar: ein gemeinsamer Zug ist in der griechischen Ge-


dankenentwickelung zu verfolgen. Der Mensch hat das Bestreben,
das, was ihm angehört, was aus seinem eigenen Wesen entspringt,
in die Außenwelt zu versetzen und auf diese Weise sich seinem
eigenen Wesen unterzuordnen. Zunächst nimmt er sich in seiner
ganzen vollen Breite und "setzt seine Ebenbilder als Götter über
sich; dann nimmt er eine einzelne menschliche Tätigkeit, das
Denken, und setzt es als Notwendigkeit über sich, der er sich zu
fügen hat. Das ist das Merkwürdige in der Entwickelung des
Menschen, daß er seine Kräfte entfaltet, daß er für das Dasein
und die Entfaltung dieser Kräfte in der Welt kämpft, daß er diese
Kräfte aber lange nicht als seine eigenen anzuerkennen vermag.

Diese große Täuschung des Menschen über sich selbst hat einer


der größten Philosophen aller Zeiten in ein kühnes, wunderbares
System gebracht. Dieser Philosoph ist Plato. Die ideale Welt, der
Umkreis der Vorstellungen, die im Menschengeiste aufgehen,
während der Blick auf die Vielheit der äußeren Dinge gerichtet
ist, wird für Plato zu einer höheren Welt des Seins, von der jene
Vielheit nur ein Abbild ist. «Die Dinge dieser Welt, welche un-
sere Sinne wahrnehmen, haben gar kein wahres Sein: sie werden
immer, sind aber nie. Sie haben nur ein relatives Sein, sind ins-
gesamt nur in und durch ihr Verhältnis zueinander; man kann
daher ihr ganzes Dasein ebensowohl ein Nichtsein nennen. Sie
sind folglich auch nicht Objekte einer eigentlichen Erkenntnis.
Denn nur von dem, was an und für sich und immer auf gleiche

108


Weise ist, kann es eine solche geben; sie hingegen sind nur das
Objekt eines durch Empfindung veranlaßten Dafürhaltens. So-
lange wir auf ihre Wahrnehmung beschränkt sind, gleichen wir
Menschen, die in einer finsteren Höhle so festgebunden säßen,
daß sie auch den Kopf nicht drehen könnten und nichts sähen,
als beim Lichte eines hinter ihnen brennenden Feuers, an der
Wand ihnen gegenüber die Schattenbilder wirklicher Dinge, wel-
che zwischen ihnen und dem Feuer vorübergeführt würden, und
auch sogar voneinander und jeder von sich selbst, eben nur die
Schatten an jener Wand. Ihre Weisheit aber wäre, die aus Erfah-
rung erlernte Reihenfolge jener Schatten vorherzusagen.» Der
Baum, den ich sehe, betaste und dessen Blütenduft ich atme, ist
also der Schatten der Idee des Baumes. Und diese Idee ist das
wahrhaft Wirkliche. Die Idee aber ist das, was in meinem Geiste
aufleuchtet, wenn ich den Baum betrachte. Was ich mit den Sin-
nen wahrnehme, wird dadurch zum Abbild dessen gemacht, was
mein Geist durch die Wahrnehmung ausbildet.

Alles, was Plato als Ideenwelt jenseits der Dinge vorhanden


glaubt, ist menschliche Innenwelt. Der Inhalt des menschlichen
Geistes aus dem Menschen herausgerissen und als eine Welt für
sich vorgestellt, als höhere, wahre, jenseitige Welt: das ist pla-
tonische Philosophie.

Ich gebe Ralph Waldo Emerson recht, wenn er sagt: «Unter


allen weltlichen Büchern hat nur Plato ein Recht auf das fanati-
sche Lob, das Omar dem Koran erteilte, als er den Ausspruch tat:
enthalten, das steht in diesem Buche.> Seine Sentenzen enthalten
die Bildung der Nationen; sie sind der Eckstein aller Schulen, der
Brunnenkopf aller Literaturen. Sie sind ein Lehrbuch und Kom-
pendium der Logik, Arithmetik, Ästhetik, der Poesie und Sprach-
wissenschaft, der Rhetorik, Ontologie, der Ethik oder praktischen
Weisheit. Niemals hat sich das Denken und Forschen eines Man-
nes über ein so ungeheures Gebiet erstreckt. Aus Plato kommen
alle Dinge, die noch heute geschrieben und unter denkenden Men-
schen besprochen werden.»
Den letzteren Satz möchte ich etwas
genauer in folgender Form aussprechen. Wie Plato über das Ver-

109


hältnis des menschlichen Geistes zur Welt empfunden hat, so
empfindet auch heute die überwiegende Mehrheit der Menschen.
Sie empfindet, daß der Inhalt des menschlichen Geistes, das
menschliche Fühlen, Wollen und Denken auf der Stufenleiter der
Erscheinungen oben zu stehen kommt, aber sie weiß mit diesem
geistigen Inhalt nur etwas anzufangen, wenn er außerhalb des
Menschen als göttliches oder irgendein anderes höheres Wesen:
notwendige Naturordnung, moralische Weltordnung — und wie
der Mensch sonst das, was er selbst hervorbringt, genannt hat —
vorhanden gedacht wird.

Es ist erklärlich, daß der Mensch so denkt. Die Eindrücke der


Sinne dringen von außen auf ihn ein. Er sieht die Farben, hört
die Töne. Seine Empfindungen, seine Gedanken entstehen in ihm,
während er die Farben sieht, die Töne hört. Seiner eigenen Natur
entstammen diese. Er fragt sich: wie komme ich dazu, aus Eige-
nem etwas zu dem hinzuzufügen, was die Welt mir überliefert. Es
erscheint ihm ganz willkürlich, aus sich heraus etwas zur Ergän-
zung der Außenwelt zu holen.

In dem Augenblicke aber, in dem er sich sagt: das, was ich da


fühle und denke, das bringe ich nicht aus Eigenem zur Welt hin-
zu, das hat ein anderes, höheres Wesen in sie gelegt, und ich hole
es nur aus ihr heraus: in diesem Augenblicke ist er beruhigt. Man
braucht dem Menschen nur zu sagen: du hast deine Meinungen
und Gedanken nicht aus dir selbst, sondern ein Gott hat sie dir
geoffenbart: dann ist er versöhnt mit sich selbst. Und streift er
den Glauben an Gott ab, dann setzt er an seine Stelle: die natür-
liche Ordnung der Dinge, die ewigen Gesetze. Daß er diesen
Gott, diese ewigen Gesetze nirgends in der Welt draußen finden
kann, daß er sie vielmehr erst zu der Welt hinzuerschaffen muß,
wenn sie dasein sollen: das will er sich zunächst nicht eingestehen.
Es wird ihm schwer, sich zu sagen: die Welt außer mir ist un-
göttlich; ich aber nehme mir, kraft meines Wesens, das Recht,
das Göttliche in sie hineinzuschauen.


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