Rudolf steiner



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Was gehen die schwingende Kirchenlampe die Pendelgesetze


an, die im Geiste Galileis erstanden sind, als er sie betrachtete?
Aber der Mensch selbst kann nicht existieren, ohne einen Zu-
sammenhang herzustellen zwischen der Außenwelt und der Welt
seines Innern. Sein geistiges Leben ist ein fortwährendes Hinein-
arbeiten des Geistes in die Sinnenwelt. Durch seine eigene Arbeit
vollzieht sich im Laufe des geschichtlichen Lebens die Durchdrin-
gung von Natur und Geist. Die griechischen Denker wollten
nichts anderes, als daß der Mensch in ein Verhältnis bereits hin-
eingeboren sei, das erst durch ihn selbst werden kann. Sie wollten
nicht, daß der Mensch erst die Ehe vollziehe zwischen Geist und
Natur; sie wollten, daß er diese Ehe als vollzogen bereits an-
treffe und sie nur als fertige Tatsache betrachte.

Aristoteles sah das Widerspruchsvolle, das darinnen liegt, die
im Menschengeiste von den Dingen entstehenden Ideen in eine
übersinnliche, jenseitige Welt zu versetzen. Aber auch er er-
kannte nicht, daß die Dinge erst ihre ideelle Seite erhalten, wenn
der Mensch sich ihnen entgegenstellt und sie zu ihnen hinzu
erschafft. Er nahm vielmehr an, daß dieses Ideelle als Entelechie
in den Dingen als ihr eigentliches Prinzip selbst wirksam sei. Die
natürliche Folge dieser seiner Grundansicht war, daß Aristoteles
das sittliche Handeln des Menschen aus seiner ursprünglichen
ethischen Naturanlage ableitete. Die physischen Triebe veredeln
sich im Laufe der menschlichen Entwickelung und erscheinen
dann als vernünftig geleitetes Wollen. In diesem vernünftigen
Wollen besteht die Tugend.

In dieser Unmittelbarkeit genommen, scheint es, als ob Aristoteles


auf dem Standpunkt stände, daß wenigstens das sittliche Handeln
seinen Quell in der Eigenpersönlichkeit des Menschen habe. Daß
der Mensch selbst sich aus seinem Wesen heraus Richtung und
Ziel seines Tuns gebe und sich dieselben nicht von außen vor-
schreiben lasse. Aber auch Aristoteles wagt es nicht, bei diesem
sich selbst seine Bestimmung vorzeichnenden Menschen stehenzu-
bleiben. Was in dem Menschen als einzelnes vernünftiges Tun
auftritt, sei doch nur eine Ausprägung einer außer ihm existieren-
den allgemeinen Weltvernunft. Die letztere verwirkliche sich in

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dem Einzelmenschen, aber sie habe über ihn hinaus ihr selbstän-
diges, höheres Dasein.

Auch Aristoteles drängt aus dem Menschen hinaus, was er nur


im Menschen vorfindet. Dasjenige, was im Inneren des Menschen
angetroffen wird, als selbständiges, für sich bestehendes Wesen
zu denken und von diesem Wesen die Dinge der Welt abzu-
leiten, ist die Tendenz des griechischen Denkens von Thaies bis
Aristoteles.

Es muß sich an der Erkenntnis des Menschen rächen, wenn


dieser die Vermittlung des Geistes mit der Natur, die er selbst
vollziehen soll, durch äußere Mächte vollzogen denkt. Er sollte
sich in sein Inneres versenken und da den Anknüpfungspunkt der
Sinnenwelt an die ideelle suchen. Blickt er statt dessen in die
Außenwelt, um diesen Punkt zu finden, so wird er, weil er ihn
da nicht finden kann, einmal notwendig zu dem Zweifel an aller
Versöhnung der beiden Mächte kommen müssen. Dieses Stadium
des Zweifels stellt uns die auf Aristoteles folgende Periode des
griechischen Denkens dar. Es kündigt sich an bei den Stoikern
und Epikureern und erreicht seinen Höhepunkt bei den Skeptikern.

Die Stoiker und Epikureer fühlen instinktiv, daß man das


Wesen der Dinge auf dem von ihren Vorgängern eingeschlage-
nen Wege nicht finden kann. Sie verlassen diesen Weg, ohne sich
viel um einen neuen zu kümmern. Den älteren Philosophen war
die Welt als Gesamtheit die Hauptsache. Sie wollten die Gesetze
der Welt erforschen und glaubten, aus der Welterkenntnis müsse
sich die Menschenerkenntnis von selbst ergeben, denn ihnen war
der Mensch ein Glied des Weltganzen wie die ändern Dinge. Die
Stoiker und Epikureer machten den Menschen zur Hauptsache
ihres Nachdenkens. Sie wollten seinem Leben den ihm entspre-
chenden Inhalt geben. Sie dachten nach, wie der Mensch leben
solle. Alles übrige war ihnen nur ein Mittel zu diesem Zwecke.
Alle Philosophie gilt den Stoikern nur insofern als etwas Wert-
volles, als durch sie der Mensch erkennen könne, wie er zu leben

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habe. Als das richtige Leben des Menschen betrachteten sie das-
jenige, welches der Natur gemäß ist. Um das Naturgemäße in sei-
nem Handeln zu verwirklichen, muß man dieses Naturgemäße
erst erkannt haben.

In der stoischen Lehre liegt ein wichtiges Zugeständnis an die


menschliche Persönlichkeit. Dasjenige, daß sie sich Zweck und
Ziel sein darf und daß alles andere, selbst die Erkenntnis, nur um
dieser Persönlichkeit willen da ist.

Noch weiter in dieser Richtung gingen die Epikureer. Ihr Stre-


ben erschöpfte sich darin, das Leben so zu gestalten, daß der
Mensch sich in demselben so zufrieden wie möglich fühle oder
daß es ihm die möglichst große Lust gewähre. So sehr stand ihnen
das Leben im Vordergrunde, daß sie die Erkenntnis nur zu dem
Zwecke trieben, damit der Mensch von abergläubischer Furcht
und von dem Unbehagen befreit werde, die ihn befallen, wenn er
die Natur nicht durchschaut.

Durch die Anschauungen der Stoiker und Epikureer zieht ein


höheres menschliches Selbstgefühl als durch diejenigen der älteren
griechischen Denker.

In einer feineren, geistigeren Weise erscheint diese Anschauung


bei den Skeptikern. Sie sagten sich: wenn der Mensch sich über
die Dinge Ideen macht, so kann er sie nur aus sich heraus machen.
Und nur aus sich heraus kann er die Überzeugung schöpfen, daß
einem Dinge eine Idee entspreche. Sie sahen in der Außenwelt
nichts, was einen Grund abgebe zu einer Verknüpfung von Ding
und Idee. Und was vor ihnen von solchen Gründen gesagt worden
war, betrachteten sie als Täuschung und bekämpften es.

Der Grundzug der skeptischen Ansicht ist Bescheidenheit. Ihre


Anhänger wagten nicht zu leugnen, daß es in der Außenwelt eine
Verknüpfung von Idee und Ding gebe; sie leugneten bloß, daß
der Mensch eine solche erkennen könne. Deshalb machten sie zwar
den Menschen zum Quell seines Erkennens, aber sie sahen dieses
Erkennen nicht als den Ausdruck der wahren Weisheit an.

Im Grunde stellt der Skeptizismus die Bankerotterklärung des


menschlichen Erkennens dar. Der Mensch unterliegt dem selbst-
geschaffenen Vorurteil, daß die Wahrheit außen fertig vorhanden

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sei, durch die gewonnene Überzeugung, daß seine Wahrheit nur
eine innere, also überhaupt nicht die rechte sein könne.

Mit rückhaltlosem Vertrauen in die Kraft des menschlichen


Geistes hat Thaies begonnen, über die Welt nachzudenken. Ein
Zweifel daran, daß dasjenige, was das Nachsinnen als Grund der
Welt ansehen muß, nicht in Wirklichkeit dieser Grund sein
könne, lag seinem naiven Glauben an die Erkenntnisfähigkeit des
Menschen ganz ferne. Bei den Skeptikern ist an die Stelle dieses
Glaubens ein vollständiges Verzichtleisten auf wirkliche Wahrheit
getreten.

Zwischen den beiden Extremen, der naiven Vertrauensseligkeit


in die menschliche Erkenntnisfähigkeit und der absoluten Ver-
trauenslosigkeit, liegt der Entwickelungsgang des griechischen Den-
kens. Man kann diesen Entwickelungsgang begreifen, wenn man
beachtet, wie sich die Vorstellungen über die Ursachen der Welt
gewandelt haben. Was sich die ältesten griechischen Philosophen
als solche Ursachen dachten, hatte sinnliche Eigenschaften. Da-
durch hatte man ein Recht, diese Ursachen in die Außenwelt zu
versetzen. Das Ur-Wasser des Thaies gehört wie jeder andere
Gegenstand der Sinnenwelt der äußeren Wirklichkeit an. Ganz
anders wurde die Sache, als Parmenides im Denken das wahre Sein
zu erkennen glaubte. Denn dieses Denken ist seinem wahren Da-
sein nach nur im menschlichen Innern wahrzunehmen. Durch Par-
menides erst entstand die große Frage: wie verhält sich das ge-
dankliche, geistige Sein zu dem äußeren, das die Sinne wahrneh-
men. Man hatte sich nun gewöhnt, das Verhältnis des höchsten
Seins zu demjenigen, das uns täglich umgibt, so vorzustellen, wie
sich Thaies das seines sinnlichen Urdings zu den uns umgebenden
Dingen gedacht hat. Es ist durchaus möglich, sich das Hervor-
gehen aller Dinge aus dem Wasser, das Thaies als Urquell alles
Seins hinstellt, analog gewissen sinnenfälligen Prozessen vorzu-
stellen, die sich täglich vor unsern Augen abspielen. Und der
Trieb, sich das Verhältnis der uns umgebenden Welt im Sinne
einer solchen Analogie vorzustellen, blieb auch noch vorhanden,

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als durch Parmenides und seine Nachfolger das reine Denken und
sein Inhalt, die Ideenwelt, zum Urquell alles Seins gemacht wor-
den sind. Die Menschen waren wohl reif, einzusehen, daß die gei-
stige Welt höher steht als die sinnliche, daß sich der tiefste Welt-
gehalt im Innern des Menschen offenbart, aber sie waren nicht
sogleich auch reif, sich das Verhältnis zwischen sinnlicher und
ideeller Welt auch ideell vorzustellen. Sie stellten es sich sinnlich,
als ein tatsächliches Hervorgehen vor. Hätten sie es sich geistig
gedacht, so hätten sie ruhig zugestehen können, daß der Inhalt der
Ideenwelt nur im Innern des Menschen vorhanden ist. Denn dann
brauchte das Höhere dem Abgeleiteten nicht zeitlich voranzugehen.
Ein Sinnending kann einen geistigen Inhalt offenbaren, aber die-
ser Inhalt kann im Momente der Offenbarung erst aus dem Sin-
nendinge heraus geboren werden. Er ist ein späteres Entwicke-
lungsprodukt als die Sinnenwelt. Stellt man sich das Verhältnis
aber als ein Hervorgehen vor, so muß dasjenige, woraus das
andere hervorgeht, diesem letzteren auch in der Zeit vorange-
hen. Auf diese Weise wurde das Kind, die Sinnenwelt, zur
Mutter der geistigen Welt gemacht. Dies ist der psychologische
Grund, warum der Mensch seine Weh hinausversetzt in die äußere
Wirklichkeit und von dem, was sein Eigentum und Produkt ist,
behauptet: es habe ein für sich bestehendes, objektives Dasein, und
er habe sich ihm unterzuordnen, beziehungsweise er könne sich
nur in dessen Besitz setzen durch Offenbarung oder auf eine andere
Weise, durch die die einmal fertige Wahrheit ihren Einzug in
sein Inneres halte.

Diese Deutung, die der Mensch seinem Streben nach Wahrheit,


seinem Erkennen gibt, entspricht einem tiefen Hange seiner Na-
tur. Goethe hat diesen Hang in seinen «Sprüchen in Prosa» mit fol-
genden Worten gekennzeichnet: «Der Mensch begreift niemals,
wie anthropomorphisch er ist.» Und: «Fall und Stoß. Dadurch die
Bewegung der Weltkörper erklären zu wollen, ist eigentlich ein
versteckter Anthropomorphismus, es ist des Wanderers Gang über
Feld. Der aufgehobene Fuß sinkt nieder, der zurückgebliebene
strebt vorwärts und fällt; und immer so fort, vom Ausgehen bis
zum Ankommen.» Alle Erklärung der Natur besteht eben dar-

innen, daß Erfahrungen, die der Mensch an sich selbst macht, in


den Gegenstand hineingedeutet werden. Selbst die einfachsten Er-
scheinungen werden auf diese Weise erklärt. Wenn wir den Stoß
zweier Körper erklären, so geschieht das dadurch, daß wir uns vor-
stellen, der eine Körper übe auf den anderen eine ähnliche Wir-
kung aus wie wir selbst, wenn wir einen Körper stoßen. So wie
wir es hier mit etwas Untergeordnetem machen, so macht es der
religiöse Mensch mit seiner Gottesvorstellung. Er deutet mensch-
liche Denk- und Handlungsweise in die Natur hinein; und auch
die angeführten Philosophen von Parmenides bis Aristoteles deu-
teten menschliche Denkvorgänge in die Natur hinein.

Das hiermit angedeutete Bedürfnis des Menschen hat Max


Stirner im Sinne, wenn er sagt: «Was in dem Weltall spukt und
sein mysteriöses, Wesen treibt, das ist eben der
geheimnisvolle Spuk, den Wir höchstes Wesen nennen. Und die-
sem Spuk auf den Grund zu kommen, ihn zu begreifen, in ihm
die Wirklichkeit zu entdecken (das zu bewei-
sen), — diese Aufgabe setzten sich Jahrtausende die Menschen;
mit der gräßlichen Unmöglichkeit, der endlosen Danaidenarbeit,
den Spuk in einen Nicht-Spuk, das Unwirkliche in ein Wirk-
liches, den Geist in eine ganze und leibhaftige Person zu verwan-
deln, — damit quälten sie sich ab. Hinter der daseienden Welt
suchten sie das , das Wesen, sie suchten hinter dem
Ding das Unding.»

Einen glänzenden Beweis dafür, wie der menschliche Geist


geneigt ist, sein eigenes Wesen und deshalb sein Verhältnis zur
Welt zu verkennen, bietet die letzte Phase der griechischen Philo-
sophie: der Neuplatonismus. Diese Lehre, deren wichtigster Ver-
treter Platin ist, hat mit der Tendenz gebrochen, den Inhalt des
menschlichen Geistes in ein Reich außerhalb der lebendigen Wirk-
lichkeit zu verlegen, in welcher der Mensch selbst steht. In der
eigenen Seele sucht der Neuplatoniker den Ort, an dem der höchste
Gegenstand des Erkennens zu finden ist. Durch jene Steigerung
der Erkenntniskräfte, die man als Ekstase bezeichnet, sucht er in

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sich selbst das Wesen der Welterscheinungen anzuschauen. Die
Erhöhung der inneren Wahrnehmungskräfte soll den Geist auf
eine Stufe des Lebens heben, auf der er unmittelbar die Offen-
barung dieses Wesens empfindet. Eine Art von Mystik ist diese
Lehre. Es liegt ihr das Wahre zugrunde, das sich in jeder Mystik
findet. Die Versenkung in das eigene Innere liefert die tiefste
menschliche Weisheit. Aber zu dieser Versenkung muß sich der
Mensch erst erziehen. Er muß sich gewöhnen, eine Wirklichkeit
zu schauen, die frei von alledem ist, was uns die Sinne überliefern.
Menschen, die ihre Erkenntniskräfte bis zu dieser Höhe gebracht
haben, sprechen von einem inneren Licht, das ihnen aufgegangen
ist. Jakob Böhme, der christliche Mystiker des siebzehnten Jahr-
hunderts, betrachtete sich als einen solch innerlich Erleuchteten.
Er sieht in sich das Reich, das er als das höchste dem Menschen
erkennbare bezeichnen muß. Er sagt: «Im menschlichen Gemüte
liegt die Signatur ganz künstlich zugerichtet, nach dem Wesen
aller Wesen.»

Das Anschauen der menschlichen Innenwelt setzt der Neu-


platonismus an die Stelle der Spekulation über eine jenseitige
Außenwelt. Dabei tritt die höchst charakteristische Erscheinung
auf, daß der Neuplatoniker sein eigenes Inneres für ein Fremdes
ansieht. Bis zur Erkenntnis des Ortes, an dem das letzte Glied der
Welt zu suchen ist, hat man es gebracht; was an diesem Orte sich
vorfindet, hat man falsch gedeutet. Der Neuplatoniker beschreibt
deshalb die inneren Erlebnisse seiner Ekstase, wie Plato die Wesen
seiner übersinnlichen Welt beschreibt.

Bezeichnend ist, daß der Neuplatonismus gerade dasjenige aus


dem Wesen der Innenwelt ausschließt, was den eigentlichen Kern
derselben ausmacht. Der Zustand der Ekstase soll nur dann ein-
treten, wenn das Selbstbewußtsein schweigt. Es war deshalb nur
natürlich, daß der Geist im Neuplatonismus sich selbst, seine
eigene Wesenheit nicht in ihrem wahren Lichte schauen konnte.

In dieser Anschauung haben die Ideengänge, die den Inhalt der


griechischen Philosophie ausmachen, ihren Abschluß gefunden.
Sie stellen sich dar als Sehnsucht des Menschen, sein eigenes We-
sen als Fremdes zu erkennen, zu schauen, anzubeten.

Nach der naturgemäßen Entwickelung hätte innerhalb der


abendländischen Geistesentwickelung auf den Neuplatonismus die
Entdeckung des Egoismus folgen müssen. Das heißt, der Mensch
hätte das als fremd angesehene Wesen als sein eigenes erkennen
müssen. Er hätte sich sagen müssen: das Höchste, was es in der
dem Menschen gegebenen Welt gibt, ist das individuelle Ich, des-
sen Wesen in dem Inneren der Persönlichkeit zur Erscheinung

kommt.


*

Dieser natürliche Gang der abendländischen Geistesentwicke-


lung wurde aufgehalten durch die Ausbreitung der christlichen
Lehre. Das Christentum bietet dasjenige, was die griechische
Philosophie in der Sprache des Weltweisen zum Ausdruck bringt,
in volkstümlichen, sozusagen mit Händen zu greifenden Vorstel-
lungen dar. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie tief eingewur-
zelt in der Menschennatur der Drang ist, sich der eigenen Wesen-
heit zu entäußern, so erscheint es begreiflich, daß diese Lehre
eine so unvergleichliche Macht über die Gemüter gewonnen hat.
Um diesen Drang auf philosophischem Wege zu befriedigen: dazu
gehört eine hohe Entwickelungsstufe des Geistes. Ihn in der Form
des christlichen Glaubens zu befriedigen, reicht das naivste Ge-
müt aus. Nicht einen feingeistigen Inhalt wie Platos Ideenwelt,
nicht ein dem erst zu entfachenden inneren Lichte entströmendes
Erleben stellt das Christentum als höchste Weltwesenheit dar, son-
dern Vorgänge mit den Attributen sinnlich-greifbarer Wirklich-
keit. Ja es geht so weit, das höchste Wesen in einem einzelnen
historischen Menschen zu verehren. Mit solchen greifbaren Vorstel-
lungen konnte der philosophische Geist Griechenlands nicht die-
nen. Solche Vorstellungen lagen hinter ihm in der Mythologie
des Volkes. Hamann, Herders Vorläufer auf dem Gebiete der Re-
ligionswissenschaft, bemerkt einmal: Ein Philosoph für Kinder sei
Plato nie gewesen. Die Kindesgeister aber sind es, für die «der
heilige Geist den Ehrgeiz gehabt hat, ein Schriftsteller zu werden».

Und diese kindliche Form der menschlichen Selbstentfremdung


ist für Jahrhunderte von dem denkbar größten Einflüsse gewesen
für die philosophische Gedankenentwickelung. Wie ein Nebel

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lagert sich die christliche Lehre vor das Licht, von dem die Er-
kenntnis des eigenen Wesens hätte ausgehen sollen. Die Kirchen-
väter der ersten christlichen Jahrhunderte suchen durch allerlei
philosophische Begriffe den volkstümlichen Vorstellungen eine
Form zu geben, in der sie auch einem gebildeteren Bewußtsein
annehmbar scheinen konnten. Und die späteren Kirchenlehrer,
deren bedeutendster Vertreter der heilige Augustin ist, setzten
diese Bestrebungen in demselben Geiste fort. Der Inhalt des christ-
lichen Glaubens wirkte so faszinierend, daß von einem Zweifel an
seiner Wahrheit nicht die Rede sein konnte, sondern nur von
einem Heraufheben derselben in ein mehr geistiges, ideelleres Ge-
biet. Die Philosophie der Kirchenlehrer ist Umsetzung des christ-
lichen Glaubensinhaltes in ein Ideengebäude. Der allgemeine Cha-
rakter dieses Ideengebäudes konnte aus diesem Grunde kein anderer
sein als der des Christentums: Hinausversetzung der menschlichen
Wesenheit in die Welt, Selbstentäußerung. So ist es gekommen,
daß Augustin wieder an den richtigen Ort kommt, wo das Welt-
wesen zu finden ist, und daß er an diesem Orte wieder ein Frem-
des findet. In dem eigenen Sein des Menschen sucht er den Quell
aller Wahrheit, die inneren Erlebnisse der Seele erklärt er für das
Fundament der Erkenntnis. Aber die christliche Glaubenslehre hat
an den Ort, an dem er suchte, den außermenschlichen Inhalt gelegt.
Deshalb fand er an dem rechten Orte die unrechten Wesenheiten.
Es folgt nun eine jahrhundertelange Anstrengung des mensch-
lichen Denkens, die keinen ändern Zweck hatte, als mit Aufwen-
dung aller Kraft des menschlichen Geistes den Beweis zu erbrin-
gen, daß der Inhalt dieses Geistes nicht in diesem Geiste, sondern
an dem Orte zu suchen sei, wohin ihn der christliche Glaube ver-
setzt hat. Die Gedankenbewegung, die aus dieser Anstrengung
hervorwuchs, wird als Scholastik bezeichnet. In diesem Zusam-
menhange können all die Spitzfindigkeiten der Scholastiker nicht
interessieren. Denn eine Entwickelung nach der Richtung hin, in
der die Erkenntnis des persönlichen Ich liegt, bedeutet diese Ideen-
bewegung nicht im geringsten.

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Wie dicht die Nebelwolke war, welche das Christentum vor die
menschliche Selbsterkenntnis geschoben hat, wird am offenbar-
sten durch die Tatsache, daß der abendländische Geist nun über-
haupt unfähig wurde, rein aus sich heraus auch nur einen Schritt
auf dem Wege zu dieser Selbsterkenntnis zu machen. Er bedurfte
eines zwingenden Anstoßes von außen. Er konnte auf dem Grunde
der Seele nicht finden, was er so lange in der Außenwelt gesucht
hatte. Es wurde ihm aber der Beweis erbracht: diese Außenwelt
kann gar nicht so geartet sein, daß er das Wesen, das er suchte,
in ihr finden konnte. Dies geschah durch das Aufblühen der
Naturwissenschaften im sechzehnten Jahrhundert. Solange der
Mensch von der Beschaffenheit der natürlichen Vorgänge nur
unvollkommene Vorstellungen hatte, war in der Außenwelt
Raum für göttliche Wesenheiten und für das Wirken eines
persönlichen, göttlichen Willens. Als aber Kopernikus und
Kepler ein natürliches Bild der Welt entwarfen, war für ein
christliches kein Platz mehr vorhanden. Und als Galilei die
Fundamente zu einer Erklärung der natürlichen Vorgänge durch
Naturgesetze legte, mußte der Glaube an die göttlichen Gesetze ins
Wanken kommen.

Nun mußte man das Wesen, das der Mensch als das höchste


anerkennt und das ihm aus der Außenwelt herausgedrängt wurde,
auf einem neuen Wege suchen.

Die philosophischen Folgerungen der durch Kopernikus, Kepler


und Galilei gegebenen Voraussetzungen zog Baco von Verulam.
Sein Verdienst um die abendländische Weltanschauung ist im
Grunde nur ein negatives. Er hat in kräftiger Weise dazu auf-
gefordert, den Blick frei und unbefangen auf die Wirklichkeit,
auf das Leben zu richten. So banal diese Forderung erscheint: es
ist doch nicht zu leugnen, daß die abendländische Gedankenent-
wickelung jahrhundertelang schwer gegen sie gesündigt hat. Unter
die wirklichen Dinge gehört auch das eigene Ich des Menschen.
Und sieht es nicht fast aus, als wenn es in der Naturanlage des
Menschen läge, dieses Ich nicht unbefangen betrachten zu kön-
nen? Nur die Ausbildung eines vollkommen unbefangenen, un-
mittelbar auf das Wirkliche gerichteten Sinnes kann zur Selbst-

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erkenntnis führen. Der Weg der Naturerkenntnis ist auch der
Weg der Ich-Erkenntnis.

Es traten nun in der abendländischen Gedankenentwickelung


zwei Strömungen auf, die auf verschiedenen Wegen den durch die
Naturwissenschaften notwendig gemachten neuen Erkenntnis-
zielen zustrebten. Die eine geht auf Jakob Böhme, die andere auf
Rene Descartes zurück.

Jakob Böhme und Descartes standen nicht mehr im Banne der


Scholastik. Jener hat eingesehen, daß es im Weltenraume nirgends
einen Platz für den Himmel gibt; deshalb wird er Mystiker. Er
sucht den Himmel im Innern des Menschen. Dieser hat erkannt,
daß das Haften der Scholastiker an der christlichen Lehre nur eine
Sache der durch Jahrhunderte erzeugten Gewöhnung an diese Vor-
stellungen ist. Deshalb hielt er es für notwendig, zunächst an die-
sen gewohnten Vorstellungen zu zweifeln und eine Erkenntnisart
zu suchen, durch die der Mensch zu einem solchen Wissen kommen
kann, dessen Sicherheit er nicht aus Gewohnheit behauptet, son-
dern die ihm durch die eigenen Geisteskräfte in jedem Augen-
blick verbürgt werden kann.

Es sind also starke Ansätze, welche, sowohl bei Böhme wie bei


Descartes, das menschliche Ich macht, sich selbst zu erkennen.
Dennoch sind beide in ihren weiteren Ausführungen von den
alten Vorurteilen überwältigt worden. Es wurde schon angedeutet,
daß Jakob Böhme eine gewisse geistige Verwandtschaft mit den
Neuplatonikern hat. Seine Erkenntnis ist Einkehr in das eigene
Innere. Was ihm aber in diesem Innern entgegentritt, ist nicht
das Ich des Menschen, sondern doch wieder nur der Christengott.
Er wird gewahr, daß im eigenen Gemüte dasjenige sitzt, wonach
der erkenntnisbedürftige Mensch begehrt. Erfüllung der heißesten
menschlichen Sehnsuchten strömt ihm von da aus entgegen. Das
führt ihn aber nicht zu der Ansicht, daß das Ich durch Steigerung
seiner Erkenntniskräfte imstande ist, seine Ansprüche aus sich
selbst heraus auch zu befriedigen. Es bringt ihn vielmehr zu der
Meinung, auf dem Erkenntniswege in das Gemüt den Gott wahr-

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