Rudolf steiner



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haft gefunden zu haben, den das Christentum nur auf einem


falschen Wege gesucht habe. Statt Selbsterkenntnis sucht Jakob
Böhme Vereinigung mit Gott, statt Leben mit den Schätzen des
eigenen Innern sucht er ein Leben in Gott.

Es ist einleuchtend, daß von der menschlichen Selbsterkenntnis


oder Selbstverkennung auch abhängen wird, wie der Mensch über
sein Handeln, über sein sittliches Leben denkt. Das Gebiet des
Sittlichen baut sich ja gleichsam als höheres Stockwerk über den
rein natürlichen Vorgängen auf. Der christliche Glaube, der schon
diese natürlichen Vorgänge als Ausfluß des göttlichen Willens an-
sieht, wird in dem Sittlichen um so mehr diesen Willen suchen.
In der christlichen Sittenlehre zeigt sich fast noch klarer als sonst
irgendwo das Schiefe dieser Weltanschauung. Welch ungeheure
Sophistik auch die Theologie auf diesem Gebiete aufgewendet
hat: es bleiben hier Fragen bestehen, die vom Standpunkte des
Christentums aus in weithin deutlichen Zügen das Widerspruchs-
volle zeigen. Wenn ein solches Urwesen wie der Christengott an-
genommen wird, so bleibt es unverständlich, wie das Gebiet des
Handelns in zwei Reiche zerfallen kann: in das des Guten und
das des Bösen. Denn alle Handlungen müßten aus dem Urwesen
fließen und folglich die gleichartigen Züge ihres Ursprungs tra-
gen. Sie müßten eben göttlich sein. Ebensowenig ist auf diesem
Boden die menschliche Verantwortlichkeit zu erklären. Der Mensch
wird ja von dem göttlichen Willen gelenkt. Er kann sich diesem
also nur überlassen, er kann nur durch sich geschehen lassen, was
Gott vollbringt.

Genau dasselbe, was auf dem Gebiete der Erkenntnislehre ein-


getreten ist, hat sich auch innerhalb der Anschauungen über die
Sittlichkeit vollzogen. Der Mensch kam seinem Hange entgegen,
das eigene Selbst aus sich herauszureißen und als ein Fremdes hin-
zustellen. Und so wie auf dem Erkenntnisgebiete dem als äußer-
menschlich angesehenen Urwesen kein anderer Inhalt gegeben
werden konnte als der aus dem eigenen Innern geschöpfte, so
konnten in diesem Wesen auch keine sittlichen Absichten und
Antriebe zum Handeln gefunden werden als die eigenen der
menschlichen Seele. Wovon der Mensch in seinem tiefsten Innern

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überzeugt war, daß es geschehen soll, das betrachtete er als das
vom Welturwesen Gewollte. Auf diese Weise hatte man auf ethi-
schem Gebiete eine Zweiheit geschaffen. Man stellte dem Selbst,
das man in sich hatte und aus dem heraus man handeln mußte,
den eigenen Inhalt als das Sittlich-Bestimmende gegenüber. Und
dadurch konnten sittliche Forderungen entstehen. Das Selbst des
Menschen durfte nicht sich, es mußte einem Fremden folgen. Der
Selbstentfremdung auf dem Erkenntnisgebiet entspricht auf dem
moralischen Felde die Selbstlosigkeit der Handlungen. Diejenigen
Handlungen sind gut, bei denen das Ich dem Fremden folgt, die-
jenigen dagegen böse, bei denen es sich selbst folgt. In der Selbst-
sucht sieht das Christentum den Quell des Bösen. Nie hätte das
geschehen können, wenn man eingesehen hätte, daß das gesamte
Sittliche seinen Inhalt nur aus dem eigenen Selbst schöpfen kann.
Man kann die ganze Summe der christlichen Sittenlehre in dem
Satze zusammenfassen: Gesteht sich der Mensch ein, daß er nur
den Geboten seines eigenen Wesens folgen kann, und handelt er
darnach, so ist er böse; verbirgt sich ihm diese Wahrheit und setzt
er — oder läßt setzen — die eigenen Gebote als fremde über sich,
um ihnen gemäß zu handeln, so ist er gut.

Vielleicht am vollkommensten durchgeführt ist die Morallehre


der Selbstlosigkeit in einem Buche aus dem vierzehnten Jahrhun-
dert: «Die deutsche Theologie». Der Verfasser des Buches ist uns
unbekannt. Er hat die Selbstentäußerung so weit getrieben, dafür
zu sorgen, daß sein Name nicht auf die Nachwelt komme. In dem
Buche heißt es: «Das ist kein wahres Wesen und hat kein Wesen,
anders denn in dem Vollkommenen, sondern es ist ein Zufall oder
ein Glanz und ein Schein, der kein Wesen ist oder kein Wesen
hat, anders als in dem Feuer, wo der Glanz ausfließt, oder in der
Sonne, oder in dem Lichte. Die Schrift spricht und der Glaube
und die Wahrheit: Sünde sei nichts anderes, denn daß sich die
Kreatur abkehrt von dem unwandelbaren Gute und kehret sich zu
dem wandelbaren, das ist: daß sie sich kehrt von dem Vollkom-
menen zu dem Geteilten und Unvollkommenen und allermeist
zu sich selber. Nun merke. Wenn sich die Kreatur etwas Gutes
annimmt, als Wesens, Lebens, Wissens, Erkennens, Vermögens

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und kürzlich alles dessen, was man gut nennen soll, und meint,
daß sie das sei oder daß es das Ihre sei oder ihr zugehöre oder daß
es von ihr sei: so oft und viel dabei geschieht, so kehrt sie sich ab.
Was tat der Teufel anders oder was war sein Fall und Abkehren
anders, als daß er sich annahm, er wäre auch etwas und etwas
wäre sein und ihm gehörte auch etwas zu? Dies Annehmen und
sein Ich und sein Mich, sein Mir und sein Mein, das war sein
Abkehren und sein Fall. Also ist es noch. — Denn alles das, was
man für gut hält oder gut nennen soll, das gehört niemand zu,
denn allein dem ewigen, wahren Gut, das Gott allein ist, und wer
sich dessen annimmt, der tut Unrecht und wider Gott.»

Mit der Wendung, die Jakob Böhme dem Verhältnisse des


Menschen zu Gott gegeben hat, hängt auch eine Änderung der
Anschauungen über das Sittliche gegenüber den alten christlichen
Vorstellungen zusammen. Gott wirkt als Veranlasser des Guten
zwar noch immer als Höheres in dem menschlichen Selbst, aber
er wirkt eben in diesem Selbst, nicht von außen auf dasselbe. Es
entsteht dadurch eine Verinnerlichung des sittlichen Handelns.
Das übrige Christentum hat nur eine äußere Befolgung des gött-
lichen Willens verlangt. Bei Jakob Böhme treten die früher ge-
trennten Wesenheiten, das wirkliche Persönliche und das zum
Gott gemachte, in einen lebendigen Zusammenhang. Dadurch
wird nun wohl der Quell des Sittlichen in das menschliche Innere
verlegt, aber das ethische Prinzip der Selbstlosigkeit erscheint noch
stärker betont. Wird Gott als äußere Macht angesehen, so ist das
menschliche Selbst das eigentlich Handelnde. Es handelt entweder
im Sinne Gottes oder diesem entgegen. Wird aber Gott in das
menschliche Innere verlegt, so handelt der Mensch nicht mehr
selber, sondern Gott in ihm. Gott lebt sich unmittelbar in dem
menschlichen Leben dar. Der Mensch verzichtet darauf, ein eige-
nes Leben zu haben, er macht sich zu einem Gliede des göttlichen
Lebens. Er fühlt sich in Gott, Gott in sich, er wächst mit dem
Urwesen zusammen, er wird ein Organ desselben.

In dieser deutschen Mystik hat der Mensch also seine Teil-


nahme am göttlichen Leben mit der vollständigsten Auslöschung
seiner Persönlichkeit, seines Ich erkauft. Den Verlust des Per-

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sönlichen fühlten Jakob Böhme und die Mystiker, die seiner An-
schauung waren, nicht. Im Gegenteil: sie empfanden etwas beson-
ders Erhebendes bei dem Gedanken, daß sie des göttlichen Lebens
unmittelbar teilhaftig seien, daß sie Glieder am göttlichen Orga-
nismus seien. Der Organismus kann ja nicht bestehen, ohne seine
Glieder. Der Mystiker fühlte sich deshalb als ein Notwendiges
innerhalb des Weltganzen, als ein Wesen, das Gott unentbehrlich
ist. — Angelas Silesius, der in demselben Geiste wie Jakob Böhme
empfindende Mystiker, spricht das in einem schönen Satze aus:

«Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben,


Werd' ich zu nicht, er muß von Not den Geist aufgeben.»

Und noch charakteristischer in einem ändern:

«Gott mag nicht ohne mich ein einzigs Würmlein machen,
Erhalt' ich's nicht mit ihm, so muß es stracks zerkrachen.»

Das menschliche Ich macht hier in kräftigster Weise sein Recht


geltend gegenüber seinem in die Außenwelt versetzten Bilde. Dem
vermeintlichen Urwesen wird zwar auch hier nicht gesagt, daß es
die von dem Menschen sich gegenübergestellte eigene mensch-
liche Wesenheit ist, aber die letztere wird zum Erhalter des gött-
lichen Urgrundes gemacht.

Eine starke Empfindung davon, daß der Mensch sich durch


seine Gedankenentwickelung in ein schiefes Verhältnis zur Welt
gebracht hat, hatte Descartes. Deshalb setzte er zunächst allem,
was aus dieser Gedankenentwickelung hervorgegangen war, den
Zweifel entgegen. Nur wenn man an allem zweifelt, was die Jahr-
hunderte als Wahrheiten entwickelt haben, kann man — nach
seiner Meinung - die notwendige Unbefangenheit gewinnen für
einen neuen Ausgangspunkt. Es lag in der Natur der Sache, daß
Descartes durch diesen seinen Zweifel auf das menschliche Ich
geführt wurde. Denn je mehr der Mensch alles übrige als ein
noch zu Suchendes hinstellt, ein desto intensiveres Gefühl muß
er von seiner eigenen suchenden Persönlichkeit erhalten. Er kann
sich sagen: vielleicht irre ich auf den Wegen des Daseins; um so
deutlicher nur wird er auf sich selbst, den Irrenden, gewiesen.

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Das «Cogito, ergo sum» (ich denke, also bin ich) des Descartes
ist ein solcher Hinweis. Descartes dringt auch noch weiter. Er hat
ein Bewußtsein davon, daß die Art, wie der Mensch über sich
selbst zur Erkenntnis kommt, vorbildlich für alle anderen Er-
kenntnisse sein soll, die er zu erwerben trachtet. Als hervorste-
chendste Eigenschaften der Selbsterkenntnis erscheinen Descartes
die Klarheit und die Deutlichkeit. Diese beiden Eigenschaften
fordert er deshalb auch von allen übrigen Erkenntnissen. Was der
Mensch ebenso klar und deutlich einsieht wie sein eigenes Sein:
das kann allein als gewiß gelten.

Damit ist wenigstens nach einer Richtung hin die absolut zen-


trale Stellung des Ich im Weltganzen anerkannt, nach der Rich-
tung der Methode des Erkennens. Der Mensch richtet das Wie
seiner Welterkenntnis nach dem Wie seiner Selbsterkenntnis ein
und fragt nicht mehr nach einem äußeren Wesen, um dieses Wie
zu rechtfertigen. Nicht wie ein Gott das Erkennen vorschreibt,
will der Mensch denken, sondern wie er es sich selbst einrichtet.
Hinsichtlich des Wie zieht der Mensch die Kraft seiner Weisheit
nunmehr aus sich selbst.

In bezug auf das Was tat Descartes nicht den gleichen Schritt.


Er ging daran, Vorstellungen über die Welt zu gewinnen, und
durchsuchte — dem eben angeführten Erkenntnisprinzip gemäß —
das eigene Innere nach solchen Vorstellungen. Da fand er die
Gottesvorstellung. Sie war natürlich nichts weiter als die Vorstel-
lung des menschlichen Ich. Das erkannte Descartes nicht. Er
wurde dadurch getäuscht, daß die Idee von Gott als dem aller-
vollkommensten Wesen sein Denken in eine ganz falsche Bahn
brachte. Die eine Eigenschaft, die der allergrößten Vollkommen-
heit, überstrahlte für ihn alle übrigen des zentralen Wesens. Er
sagte sich: die Vorstellung eines allervollkommensten Wesens
kann der Mensch, der selbst unvollkommen ist, nicht aus sich
selbst schöpfen, also kann sie ihm nur von außen, von dem aller-
vollkommensten Wesen selbst kommen. Somit existiert dieses
allervollkommenste Wesen. Hätte Descartes den wahren Inhalt
der Gottesvorstellung untersucht, so hätte er gefunden, daß dieser
vollkommen gleich der Ich-Vorstellung und die Vollkommenheit

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nur eine im Gedanken vollzogene Steigerung dieses Inhalts ist.
Der wesentliche Inhalt einer Elfenbeinkugel wird dadurch nicht
geändert, daß ich sie mir unendlich groß denke. Ebensowenig
wird aus der Ich-Vorstellung durch eine solche Steigerung etwas
anderes.

Der von Descartes geführte Beweis des Daseins Gottes ist also


wieder nichts als eine Umschreibung des menschlichen Bedürf-
nisses, das eigene Ich als außermenschliches Wesen zum Welten-
grunde zu machen. Hier zeigt es sich aber gerade mit voller Deut-
lichkeit, daß der Mensch für dies außermenschliche Urwesen
keinen eigenen Inhalt gewinnen, sondern ihm nur denjenigen
seiner Ich-Vorstellung in unwesentlich geänderter Form leihen
kann.

Mit Spinoza ist auf dem Wege, der zur Eroberung der Ich-Vor-


stellung führen muß, kein Schritt vorwärts, sondern einer zurück
getan worden. Denn Spinoza hat kein Gefühl von der einzigarti-
gen Stellung des menschlichen Ich. Für ihn erschöpft sich der
Strom der Weltvorgänge in einem System von natürlichen Not-
wendigkeiten, wie er sich für die christlichen Philosophen in
einem System von göttlichen Willensakten erschöpft. Hier wie
dort ist das menschliche Ich nur ein Glied in diesem System. Für
den Christen ist der Mensch in der Hand Gottes, für Spinoza in
derjenigen des natürlichen Weltgeschehens. Der Christengott hat
bei Spinoza einen anderen Charakter erhalten. Der in der Zeit
des Aufblühens naturwissenschaftlicher Einsichten herangewach-
sene Philosoph kann keinen Gott anerkennen, der nach Willkür
die Welt lenkt, sondern nur ein Urwesen, das existiert, weil seine
Existenz durch es selbst eine Notwendigkeit ist, und das den
Weltenlauf nach den unabänderlichen Gesetzen leitet, die aus
seiner eigenen absolut notwendigen Wesenheit fließen. Daß der
Mensch das Bild, unter dem er sich diese Notwendigkeit vorstellt,
seinem eigenen Inhalte entnimmt, davon hat Spinoza kein Be-
wußtsein. Aus diesem Grunde wird auch das sittliche Ideal Spi-
nozas ein unpersönliches, unindividuelles. Nach seinen Voraus-

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Setzungen kann er ja nicht in der Vervollkommnung des Ich, in
der Steigerung der eigenen Kräfte des Menschen ein Ideal er-
blicken, sondern in der Durchdringung des Ich mit dem göttlichen
Weltinhalte, mit der höchsten Erkenntnis des objektiven Gottes.
Sich an diesen Gott zu verlieren, soll Ziel des menschlichen Stre-
bens sein.

Der Weg, den Descartes eingeschlagen hatte: vom Ich aus zur


Welterkenntnis vorzudringen, wird nunmehr von den Philosophen
der Neuzeit fortgesetzt. Die christlich-theologische Methode, die
kein Vertrauen in die Kraft des menschlichen Ichs als Erkennt-
nisorgan hatte, war wenigstens überwunden. Das eine wurde an-
erkannt, daß das Ich selbst das höchste Wesen finden müsse. Von
da bis zu dem anderen Punkte, bis zu der Einsicht, daß der im
Ich liegende Inhalt auch das höchste Wesen ist, ist freilich ein
weiter Weg.

Weniger tiefsinnig als Descartes gingen die englischen Philo-


sophen Locke und Hume an die Untersuchung der Wege, die das
menschliche Ich einschlägt, um zu einer Aufklärung über sich und
die Welt zu kommen. Beiden ging vor allen Dingen eines ab:
der gesunde, freie Blick in das menschliche Innere. Sie konnten
daher auch keine Vorstellung von dem großen Unterschied be-
kommen, der besteht zwischen der Erkenntnis äußerer Dinge und
derjenigen des menschlichen Ich. Alles, was sie sagen, bezieht
sich nur auf die Erwerbung äußerer Erkenntnisse. Locke über-
sieht vollständig, daß der Mensch, indem er sich über die äußeren
Dinge aufklärt, über diese ein Licht verbreitet, das seinem eige-
nen Innern entströmt. Er glaubt daher, daß alle Erkenntnisse aus
der Erfahrung stammen. Aber was ist Erfahrung? Galilei sieht
eine schwingende Kirchenlampe. Sie führt ihn dazu, die Gesetze
zu finden, nach denen ein Körper schwingt. Er hat zweierlei
erfahren: erstens durch seine Sinne äußere Vorgänge. Zweitens
aus sich heraus die Vorstellung eines Gesetzes, das über diese
Vorgänge aufklärt, sie begreiflich macht. Man kann nun natür-
lich das eine wie das andere Erfahrung nennen. Aber dann ver-
kennt man eben den Unterschied, der zwischen den beiden Teilen
des Erkenntnisvorganges besteht. Ein Wesen, das nicht aus dem

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Inhalt seines Wesens heraus schöpfen könnte, würde ewig vor
der schwingenden Kirchenlampe stehen: die sinnliche Wahrneh-
mung würde sich nie durch ein begriffliches Gesetz ergänzen.
Locke und alle, die so denken wie er, lassen sich durch etwas
täuschen — nämlich durch die Art, wie die Erkenntnisinhalte an
uns herankommen. Sie steigen eben einfach auf dem Horizonte
unseres Bewußtseins auf. Dieses Aufsteigen bildet die Erfahrung.
Aber anerkannt werden muß, daß der Inhalt der Erfahrungs-
gesetze von dem Ich an den Erfahrungen entwickelt wird. Bei
Hume zeigt sich zweierlei. Einmal, daß dieser Mann, wie schon
erwähnt, die Natur des Ich nicht erkennt und deshalb gerade so
wie Locke den Inhalt der Gesetze aus der Erfahrung ableitet. Und
dann, daß dieser Inhalt durch Loslösung von dem Ich völlig sich
ins Ungewisse verliert, frei in der Luft ohne Halt und Grund-
lage hängt. Hume erkennt, daß die äußere Erfahrung nur unzu-
sammenhängende Vorgänge überliefert; sie bietet mit diesen
Vorgängen zusammen nicht zugleich die Gesetze, nach denen sie
verknüpft sind. Da von dem Wesen des Ich Hume nichts weiß,
kann er aus ihm auch nicht die Berechtigung zu solcher Ver-
knüpfung ableiten. Er leitet sie daher aus dem vagsten Ursprung
her, der sich denken läßt, aus der Gewöhnung. Der Mensch sieht,
daß auf einen gewissen Vorgang immer ein anderer folgt; auf
den Fall des Steines folgt die Aushöhlung des Bodens, auf den er
fällt. Folglich gewöhnt sich der Mensch daran, solche Vorgänge
in einer Verknüpfung zu denken. Alle Erkenntnis verliert ihre
Bedeutung, wenn man von solchen Voraussetzungen ausgeht. Die
Verbindung der Vorgänge und ihrer Gesetze gewinnt etwas rein
Zufälliges.

Einen Mann, dem das schöpferische Wesen des Ich voll zum


Bewußtsein gekommen ist, sehen wir in George Berkeley. Er
hatte eine deutliche Vorstellung von der eigenen Tätigkeit des
Ich beim Zustandekommen aller Erkenntnis. Wenn ich einen
Gegenstand sehe, sagte er sich, so bin ich tätig. Ich schaffe mir
meine Wahrnehmung. Der Gegenstand einer Wahrnehmung

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bliebe immer jenseits meines Bewußtseins, er wäre für mich
nicht da, wenn ich sein totes Dasein nicht fortwährend durch
meine Tätigkeit belebte. Nur diese meine belebende Tätigkeit
nehme ich wahr, nicht das, was ihr objektiv als toter Gegenstand
vorangeht. Wohin ich in meiner Bewußtseinssphäre blicke: über-
all sehe ich mich selbst als Tätiges, als Schaffendes. In Berkeleys
Denken gewinnt das Ich ein universelles Leben. Was weiß ich
von einem Sein der Dinge, wenn ich dieses Sein nicht vorstelle?

Aus schaffenden Geistern, die aus sich heraus eine Welt bil-


den, besteht für Berkeley die Welt. Aber auf dieser Stufe der Er-
kenntnis trat auch bei ihm das alte Vorurteil wieder auf. Er läßt
das Ich sich zwar seine Welt schaffen, aber er gibt ihm nicht zu-
gleich die Kraft, aus sich selbst zu schaffen. Es muß doch wieder
eine Gottesvorstellung herhalten. Das schaffende Prinzip im Ich
ist Gott, auch bei ihm.

Dieser Philosoph aber zeigt uns eines. Wer sich wirklich in


das Wesen des schaffenden Ichs versenkt, der kommt aus dem-
selben nicht wieder heraus zu einem äußeren Wesen, es sei
denn auf gewaltsame Weise. Und gewaltsam geht Berkeley vor.
Er führt ohne zwingende Notwendigkeit das Schaffen des Ich
auf Gott zurück. Frühere Philosophen entleerten das Ich seines
Inhaltes, und dadurch hatten sie für ihren Gott einen solchen.
Berkeley tut das nicht. Deshalb vermag er nichts anderes, als
neben die schöpferischen Geister noch einen besonderen zu set-
zen, der im Grunde mit ihnen völlig gleichartig, das heißt also
doch wohl unnötig ist.

Noch auffälliger wird das bei dem deutschen Philosophen


Leibniz. Auch er hatte Einblick in die schöpferische Tätigkeit
des Ich. Er überblickte den Umfang dieser Tätigkeit ganz deut-
lich und sah ihre innere Geschlossenheit, ihr Beruhen auf sich
selbst. Eine Welt für sich, eine Monade wurde ihm deshalb das
Ich. Und alles, was Dasein hat, kann es nur dadurch haben, daß es
sich selbst einen geschlossenen Inhalt gibt. Nur Monaden, das heißt
aus sich und in sich schaffende Wesen existieren. Abgetrennte
Welten für sich, die auf nichts außer ihnen angewiesen sind.
Welten bestehen, keine Welt. Jeder Mensch ist eine Welt, eine

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Monade für sich. Wenn nun diese Welten doch miteinander über-
einstimmen, wenn sie voneinander wissen und die Inhalte ihres
Wissens sich denken, so kann das nur davon herrühren, daß eine
vorherbestimmte Übereinstimmung (prästabilierte Harmonie) be-
steht. Die Welt ist eben so eingerichtet, daß die eine Monade aus
sich schafft, was der Tätigkeit in der ändern entspricht. Zur Her-
beiführung dieser Übereinstimmung braucht Leibniz natürlich
wieder den alten Gott. Er hat erkannt, daß das Ich in seinem
Innern tätig, schöpferisch ist, daß es sich selbst seinen Inhalt gibt;
daß es selbst auch diesen Inhalt zu dem anderen Weltinhalt in
Beziehung setzt, ist ihm verborgen geblieben. Dadurch ist er von
der Gottesvorstellung nicht losgekommen. Von den zwei Forde-
rungen, die in dem Goetheschen Satze liegen: «Kenne ich mein
Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahr-
heit», hat er nur die eine eingesehen.

Ein ganz bestimmtes Gepräge zeigt diese europäische Gedan-


kenentwickelung. Das Beste, was der Mensch erkennen kann,
muß er aus sich schöpfen. Er übt in der Tat Selbsterkenntnis.
Aber er schreckt immer wieder vor dem Gedanken zurück, das
Selbstgeschaffene auch als solches anzuerkennen. Er fühlt sich zu
schwach, um die Welt zu tragen. Deshalb lädt er diese Bürde
einem ändern auf. Und die Ziele, die er sich selbst steckt, würden
für ihn von ihrem Gewichte verlieren, wenn er sich ihren Ur-
sprung eingestünde, deshalb belastet er sie mit Kräften, die er
von außerhalb zu nehmen glaubt. Der Mensch verherrlicht sein
Kind, ohne doch die Vaterschaft zugestehen zu wollen.

Trotz der entgegengesetzten Strömungen ist die menschliche


Selbsterkenntnis stetig fortgeschritten. Auf dem Punkte, wo sie
anfing, für allen Jenseitsglauben recht bedenklich zu werden, traf
sie Kant. Die Einsicht in die Natur des menschlichen Erkennens
hat die Überzeugungskraft aller Beweise erschüttert, die ersonnen
worden sind, um einen solchen Glauben zu stützen. Man hat all-
mählich eine Vorstellung von wirklichen Erkenntnissen bekom-
men und durchschaute deshalb das Gekünstelte, Gequälte der

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Scheinideen, welche über die außerweltlichen Mächte Aufklärung
geben sollten. Ein frommer, gläubiger Mann wie Kant konnte
befürchten, daß die Fortentwickelung auf dieser Bahn zur Auf-
lösung alles Glaubens führen werde. Seinem tiefen religiösen Sinn
mußte das als ein bevorstehendes großes Unglück für die Mensch-
heit erscheinen. Aus der Angst vor der Zerstörung der religiösen
Vorstellungen heraus entstand für ihn das Bedürfnis, einmal
gründlich zu untersuchen: wie es mit dem Verhältnisse des mensch-
lichen Erkennens zu den Gegenständen des Glaubens stehe. Wie
ist Erkennen möglich, und auf was kann es sich erstrecken? Das
ist die Frage, die Kant sich stellte, wohl vom Anfang an in der
Hoffnung, aus seiner Antwort eine der festesten Stützen für den
Glauben gewinnen zu können.

Zweierlei nahm Kant von seinen Vorgängern auf. Erstens, daß


es unbezweifelbare Erkenntnisse gebe. Die Wahrheiten der reinen
Mathematik und die allgemeinen Lehren der Logik und Physik
erschienen ihm als solche. Zweitens stützte er sich auf Hume mit
der Behauptung, daß aus der Erfahrung keine unbedingt sicheren
Wahrheiten kommen können. Die Erfahrung lehrt nur, daß wir
gewisse Zusammenhänge soundso oft beobachtet haben, ob diese
Zusammenhänge auch notwendige seien, darüber kann durch Er-
fahrung nichts ausgemacht werden. Wenn es, wie unzweifelhaft,
notwendige Wahrheiten gibt und sie nicht aus der Erfahrung
stammen können: woher stammen sie denn? Sie müssen in der
menschlichen Seele vor der Erfahrung vorhanden sein. Nun
kommt es darauf an, zu unterscheiden, was von den Erkennt-
nissen aus der Erfahrung stammt und was dieser Erkenntnisquelle
nicht entnommen werden kann. Die Erfahrung geschieht dadurch,
daß ich Eindrücke erhalte. Diese Eindrücke sind durch die Emp-
findungen gegeben. Der Inhalt dieser Empfindungen kann uns
auf keine andere Weise als durch Erfahrung gegeben werden.
Aber diese Empfindungen, wie Licht, Farbe, Klang, Wärme,
Härte und so weiter, böten ein chaotisches Durcheinander, wenn
sie nicht in gewisse Zusammenhänge gebracht würden. In diesen
Zusammenhängen bilden die Empfindungsinhalte erst die Gegen-
stände der Erfahrung. Ein Gegenstand setzt sich aus einer be-

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stimmt geordneten Gruppe von Empfindungsinhalten zusammen.
Die Empfindungsinhalte in Gruppen zu ordnen, das vollzieht
nach Kants Meinung die menschliche Seele. In ihr sind gewisse
Prinzipien vorhanden, durch welche die Mannigfaltigkeit der
Empfindungen in gegenständliche Einheiten gebracht werden.
Solche Prinzipien sind der Raum, die Zeit und Verknüpfungs-
weisen, wie zum Beispiel die nach Ursache und Wirkung. Die
Empfindungsinhalte sind mir gegeben, nicht aber ihre räumliche
Aneinanderreihung oder zeitliche Folge. Diese beiden bringt erst
der Mensch hinzu. Ebenso ist ein Empfindungsinhalt gegeben
und ein anderer, nicht aber das, daß der eine die Ursache des än-
dern ist. Dazu macht sie erst der Verstand. So liegen in der
menschlichen Seele die Verknüpfungsweisen der Empfindungs-
inhalte ein für allemal bereit. Können wir also nur durch Erfah-
rung uns in den Besitz von Empfindungsinhalten setzen, so kön-
nen wir doch vor aller Erfahrung Gesetze darüber aufstellen, wie
diese Empfindungsinhalte verknüpft sein werden. Denn diese
Gesetze sind die in unserer eigenen Seele gegebenen. — Wir haben
also notwendige Erkenntnisse. Aber diese beziehen sich nicht auf
einen Inhalt, sondern nur auf die Verknüpfungsweise von In-
halten. Nimmermehr werden wir daher nach Kants Meinung aus
den eigenen Gesetzen der menschlichen Seele inhaltvolle Erkennt-
nisse herausschöpfen. Der Inhalt muß durch die Erfahrung kom-
men. Nun können die Gegenstände des Jenseitsglaubens aber nie
Gegenstand einer Erfahrung werden. Sie können daher auch nicht
durch unsere notwendigen Erkenntnisse erreicht werden. Wir
haben ein Erfahrungswissen und ein anderes notwendiges erfah-
rungsfreies Wissen darüber, wie die Inhalte der Erfahrung ver-
knüpft sein können. Aber wir haben kein Wissen, das über die
Erfahrung hinausgeht. Die uns umgebende Welt der Gegenstände
ist, wie sie nach den in unserer Seele bereitliegenden Verknüp-
fungsgesetzen sein muß. Wie sie, abgesehen von diesen Gesetzen,
«an sich» ist, wissen wir nicht. Die Welt, auf die sich unser Wis-
sen bezieht, ist kein solches «An-sich», sondern eine Erscheinung
für uns.

Natürliche Einwände gegen diese Kantschen Ausführungen

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drängen sich dem Unbefangenen auf. Der prinzipielle Unterschied


zwischen den Einzelheiten (Empfindungsinhalten) und der Ver-
knüpfungsweise dieser Einzelheiten besteht in bezug auf die Er-
kenntnis nicht in der Weise, wie Kant es annimmt. Wenn auch
das eine von außen sich uns darbietet, das andere aus unserem
Innern herauskommt, so bilden beide Elemente der Erkenntnis
doch eine ungetrennte Einheit. Nur der abstrahierende Verstand
kann Licht, Wärme, Härte und so weiter von räumlicher Anord-
nung, ursächlichem Zusammenhang und so weiter abtrennen. In
Wirklichkeit dokumentieren sie an jedem einzelnen Gegenstande
ihre notwendige Zusammengehörigkeit. Auch die Bezeichnung
des einen Elementes als Inhalt gegenüber dem ändern als bloß ver-
knüpfenden Prinzips ist schief. In Wahrheit ist die Erkenntnis,
daß etwas eine Ursache von einem ändern ist, eine ebenso inhalt-
liche wie die, daß es gelb ist. Wenn sich der Gegenstand aus zwei
Elementen zusammensetzt, von denen das eine von außen, das
andere von innen gegeben ist, so folgt daraus, daß für das Erken-
nen auf zwei Wegen vermittelt wird, was der Sache nach zusam-
mengehört. Nicht aber, daß man es mit zwei voneinander ver-
schiedenen, künstlich zusammengekoppelten Sachen zu tun hat. -
Nur durch eine gewaltsame Trennung von Zusammengehörigem
kann also Kant seine Ansicht stützen. Am auffälligsten ist die
Zusammengehörigkeit der beiden Elemente bei der Erkenntnis des
menschlichen Ich. Hier kommt nicht das eine von außen, das
andere von innen, sondern beide gehen aus dem Innern hervor.
Und beide sind hier nicht nur ein Inhalt, sondern auch ein völlig
gleichgearteter Inhalt.

Worauf es Kant ankam, was als Herzenswunsch seine Gedan-


ken mehr lenkte als ein unbefangenes Beobachten der wirklichen
Wesenheiten, war die Rettung der auf das Jenseits bezüglichen
Lehren. Was das Wissen im Laufe einer langen Zeit als Stütze
dieser Lehren zustande gebracht hatte, war morsch geworden.
Kant glaubte nun gezeigt zu haben, daß ein solcher Beweis der
Erkenntnis überhaupt nicht zukomme, weil sie auf die Erfahrung
angewiesen ist und die Dinge des Jenseitsglaubens nicht Gegen-
stand einer Erfahrung werden können. Kant meinte damit ein

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freies Feld geschaffen zu haben, auf dem ihm die Erkenntnis nicht
störend in die Wege tritt, wenn er auf demselben den Jenseits-
glauben aufbaut. Und er verlangt, daß als Stütze des sittlichen
Lebens an die Dinge des Jenseits geglaubt werde. Aus dem Reiche,
aus dem uns kein Wissen kommt, tönt zu uns die Despotenstimme
des kategorischen Imperativs, der von uns verlangt, daß wir das
Gute tun sollen. Und zur Aufrichtung des moralischen Reiches
brauchten wir eben alles das, worüber das Wissen nichts sagen
kann. Kant glaubte erreicht zu haben, was er wollte: «Ich mußte
also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.»

Der große Philosoph der abendländischen Gedankenentwicke-


lung, der in unmittelbarer Weise auf eine Erkenntnis des mensch-
lichen Selbstbewußtseins ausging, ist Johann Gottlieb Fichte. Für
ihn ist es bezeichnend, daß er ohne alle Voraussetzung mit völli-
ger Unbefangenheit an diese Erkenntnis herangeht. Er hat das
klare, scharfe Bewußtsein davon, daß nirgends in der Welt ein We-
sen zu entdecken ist, von dem das Ich abgeleitet werden könnte. Es
kann deshalb nur aus sich selbst abgeleitet werden. Nirgends ist
eine Kraft zu entdecken, aus der das Sein des Ich fließt. Alles, was
das Ich braucht, kann es nur aus sich selbst gewinnen. Nicht bloß
gewinnt es durch Selbstbeobachtung Aufschluß über sein eigenes
Wesen, es setzt erst durch eine unbedingte, voraussetzungslose
Handlung dieses Wesen in sich hinein. «Das Ich setzt sich selbst,
und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und
umgekehrt: das Ich ist, und setzt sein Sein, vermöge seines bloßen
Seins. Es ist zugleich das Handelnde und das Produkt seiner Hand-
lung; das Tätige, und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht
wird; Handlung und Tat sind ein und dasselbe; und daher ist das:
Ich bin, Ausdruck einer Tathandlung.» Völlig unbeirrt durch den
Umstand, daß frühere Philosophen das Wesen, das er da beschreibt,
außer den Menschen versetzt haben, naiv betrachtet Fichte das
Ich. Deshalb wird das Ich ihm naturgemäß zum höchsten Wesen.
«Dasjenige, dessen Sein (Wesen) bloß darin besteht, daß es sich

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selbst als seiend setzt, ist das Ich, als absolutes Subjekt. So wie es
sich setzt, ist es, und so wie es ist, setzt es sich: und das Ich ist
demnach für das Ich schlechthin und notwendig. Was für sich
selbst nicht ist, ist kein Ich... Man hört wohl die Frage aufwer-
fen: was war ich wohl, ehe ich zum Selbstbewußtsein kam? Die
natürliche Antwort darauf ist: ich war gar nicht; denn ich war
nicht Ich... Sich selbst setzen und Sein sind, vom Ich gebraucht,
völlig gleich.» Die vollständige, lichte Klarheit über das eigene
Ich, die rücksichtslose Aufhellung des persönlichen, menschlichen
Wesens tritt damit an den Anfang des menschlichen Denkens.
Die Folge davon muß sein, daß von hier aus der Mensch an die
Eroberung der Welt geht. Die zweite der oben genannten Goethe-
schen Forderungen: Erkenntnis meines Verhältnisses zur Welt,
schließt sich an die erste: Erkenntnis des Verhältnisses, das das Ich
zu sich selbst hat. Von diesen beiden Verhältnissen wird diese auf
Selbsterkenntnis gebaute Philosophie sprechen. Nicht von der
Herleitung der Welt aus einem Urwesen. Man kann nun fragen:
soll denn der Mensch sein eigenes Wesen an die Stelle des Ur-
wesens setzen, in das er den Weltursprung verlegt? Kann sich
denn gar der Mensch selbst zum Ausgangspunkte der Welt
machen? Demgegenüber muß betont werden, daß diese Frage
nach dem Weltursprung aus einer niederen Sphäre stammt. Im
Verlauf der Vorgänge, die uns von der Wirklichkeit gegeben sind,
suchen wir zu den Ereignissen die Ursachen, zu den Ursachen wie-
der andere Ursachen und so weiter. Wir dehnen nun den Begriff
der Verursachung aus. Wir suchen nach einer letzten Ursache der
ganzen Welt. Und auf diese Weise verschmilzt für uns der Begriff
des ersten, absoluten, durch sich selbst notwendigen Urwesens mit
der Idee der Weltursache. Doch ist das eine bloße Begriffskon-
struktion. Wenn der Mensch solche Begriffskonstruktionen auf-
stellt, brauchen sie nicht auch eine Berechtigung zu haben. Der
Begriff des fliegenden Drachen hat auch keine. Fichte geht von
dem Ich als Urwesen aus, und er gelangt zu Ideen, die das Ver-
hältnis dieses Urwesens zur übrigen Welt unbefangen, aber nicht
unter dem Bilde von Ursache und Wirkung darstellen. Von dem
Ich aus sucht nun Fichte die Ideen zum Begreifen der übrigen

136


Welt zu gewinnen. Wer sich über die Natur dessen, was man
Wissen oder Erkenntnis nennen kann, nicht täuschen will, kann
nicht anders verfahren. Alles, was der Mensch über das Wesen der
Dinge sagen kann, ist den Erlebnissen seines Innern entlehnt.
«Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist»
(Goethe). In der Erklärung einfachster Erscheinungen, zum Bei-
spiel in derjenigen des Stoßes zweier Körper, liegt ein Anthropo-
morphismus. Das Urteil: der eine Körper stößt den ändern, ist
bereits anthropomorphistisch. Denn man muß, wenn man über das
hinauskommen will, was die Sinne über den Vorgang aussagen,
das Erlebnis auf ihn übertragen, das unser Körper hat, wenn er
einen Körper der Außenwelt in Bewegung setzt. Wir übertragen
unser Erlebnis des Stoßens auf den Vorgang der Außenwelt und
sprechen auch da von Stoß, wo wir eine Kugel heranrollen und in
der Folge eine zweite weiterrollen sehen. Denn nur die Bewegun-
gen der beiden Kugeln können wir beobachten, den Stoß denken
wir im Sinne der eigenen Erlebnisse hinzu. Alle physikalischen
Erklärungen sind Anthropomorphismen, Vermenschlichungen der
Natur. Daraus folgt natürlich aber nicht, was so oft daraus gefol-
gert wird, daß diese Erklärungen keine objektive Bedeutung für
die Dinge haben. Ein Teil des objektiven, in den Dingen liegen-
den Gehalts kommt eben erst zum Vorschein, wenn wir über sie
das Licht verbreiten, das wir in unserm eigenen Innern wahrnehmen.
Wer im Sinne Fichtes das Wesen des Ich ganz auf sich selbst
stellt, kann auch die Quellen des sittlichen Handelns nur in dem
Ich allein finden. Nicht mit einem ändern Wesen kann das Ich
die Übereinstimmung suchen, sondern nur mit sich selbst. Es läßt
sich seine Bestimmung nicht vorschreiben, sondern gibt sich selbst
eine solche. Handle nach dem Grundsatze, daß du dein Handeln
als das möglichst wertvolle ansehen kannst. So etwa müßte man
den obersten Satz der Fichteschen Sittenlehre aussprechen. «Der
wesentliche Charakter des Ich, wodurch es sich von allem, was
außer ihm ist, unterscheidet, besteht in einer Tendenz zur Selbst-
tätigkeit um der Selbsttätigkeit willen; und diese Tendenz ist es,
was gedacht wird, wenn das Ich an und für sich, ohne alle Be-
ziehung auf etwas außer ihm gedacht wird.» Eine Handlung steht

137


also auf einer um so höheren Stufe der sittlichen Wertschätzung, je
reiner sie aus der Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung des Ich
fließt.

Fichte hat in seinem späteren Leben sein auf sich gestelltes,


absolutes Ich wieder in den äußeren Gott zurückverwandelt und
dadurch der aus der menschlichen Schwäche stammenden Selbst-
entäußerung die wahre Selbsterkenntnis, zu der er so wichtige
Schritte getan, zum Opfer gebracht. Für den Fortschritt dieser
Selbsterkenntnis sind daher die letzten Schriften Fichtes ohne Be-
deutung.

Wichtig aber für diesen Fortschritt sind die philosophischen


Schriften Schillers. Hat Fichte die auf sich gebaute Selbständigkeit
des Ich als allgemeine philosophische Wahrheit ausgesprochen, so
war es Schiller mehr um die Beantwortung der Frage zu tun: wie
das besondere Ich der einzelnen menschlichen Individualität diese
Selbsttätigkeit im besten Sinne in sich ausleben könne. — Kant
hatte ausdrücklich die Unterdrückung der Lust als Voraussetzung
des sittlichen Handelns gefordert. Nicht, was dem Menschen Be-
friedigung gewährt, soll er vollbringen, sondern dasjenige, was der
kategorische Imperativ von ihm fordert. Eine Handlung ist nach
seiner Ansicht um so moralischer, je mehr sie mit Niederschla-
gung aller Lustgefühle aus bloßer Achtung vor dem strengen Sit-
tengesetz vollzogen ist. In dieser Forderung scheint für Schiller
etwas zu liegen, was die menschliche Würde herabsetzt. Ist denn
der Mensch in seinem Lustverlangen wirklich ein so niedriges
Wesen, daß er diese seine niedere Natur erst ausschalten muß,
wenn er tugendhaft sein will? Schiller tadelt eine solche Herab-
würdigung des Menschen in der Xenie:

«Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung,


Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.»

Nein, sagt Schiller, die menschlichen Instinkte sind einer solchen


Veredlung fähig, daß es Lust macht, das Gute zu tun. Das strenge
Sollen verwandelt sich bei dem veredelten Menschen in ein freies
Wollen. Und höher steht der Mensch auf der moralischen Welt-
leiter, der aus Lust das Sittliche vollbringt, als derjenige, der sei-

138


nem Wesen erst Gewalt antun muß, um dem kategorischen Im-
perativ zu gehorchen.

Schiller hat diese seine Ansicht in seinen «Briefen über die


ästhetische Erziehung des Menschengeschlechtes» ausgeführt. Ihm
schwebt die Vorstellung einer freien Individualität vor, die sich
ihren egoistischen Trieben ruhig überlassen darf, weil diese Triebe
dasjenige aus sich selbst wollen, was von der unfreien, unedlen
Persönlichkeit nur vollbracht werden kann, wenn sie ihre eigenen
Bedürfnisse unterdrückt. Der Mensch, so führt Schiller aus, kann
in zweifacher Hinsicht unfrei sein: erstens, wenn er nur seinen
blinden, untergeordneten Instinkten zu folgen fähig ist. Dann
handelt er aus Notdurft. Die Triebe zwingen ihn; er ist nicht frei.
Zweitens aber handelt auch der Mensch unfrei, der nur seiner
Vernunft folgt. Denn die Vernunft stellt die Prinzipien des Han-
delns nach logischen Regeln auf. Ein bloß der Vernunft folgender
Mensch handelt unfrei, weil er sich der logischen Notwendigkeit
unterwirft. Frei aus sich selbst heraus handelt nur derjenige, bei
dem das Vernünftige so mit seiner Individualität verwachsen ist,
ihm so in Fleisch und Blut übergegangen ist, daß er mit größter
Lust vollbringt, was der minder sittlich Hochstehende nur durch
die äußerste Selbstentäußerung und durch den stärksten Zwang
vollziehen kann.

Den Weg, den Fichte genommen hat, wollte Friedrich Joseph


Schelling weiter fortsetzen. Von der unbefangenen Erkenntnis des
Ich, die sein Vorgänger erlangt, ging dieser Denker aus. Das Ich
war als Wesen erkannt, das sein Dasein aus sich selbst schöpft.
Die nächste Aufgabe war, zu diesem auf sich selbst gebauten Ich
die Natur in ein Verhältnis zu bringen. Es ist klar: Sollte das Ich
nicht wieder das eigentliche höhere Wesen der Dinge in die
Außenwelt verlegen, so mußte gezeigt werden, daß es aus sich
selbst auch dasjenige schafft, was wir die Gesetze der Natur nen-
nen. Der Bau der Natur mußte also draußen im Räume das
materielle System dessen sein, was das Ich in seinem Innern auf
geistige Weise erschafft. «Die Natur soll der sichtbare Geist, der
Geist die unsichtbare Natur sein. Hier also, in der absoluten
Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muß sich

139


das Problem, wie eine Natur außer uns möglich sei, auflösen.»
«Die äußere Welt liegt vor uns aufgeschlagen, um in ihr die Ge-
schichte unseres Geistes wieder zu finden.»

Schelling beleuchtet also scharf den Vorgang, den die Philo-


sophen so lange falsch gedeutet haben. Er zeigt, daß aus einem
Wesen heraus das erklärende Licht auf alle Weltvorgänge fallen
muß, daß das Ich ein Wesen in allem Geschehen erkennen kann,
aber er stellt dieses Wesen nicht mehr als ein außer dem Ich lie-
gendes hin, er sieht es in dem Ich selbst. Das Ich fühlt sich end-
lich stark genug, den Inhalt der Welterscheinungen aus sich her-
aus zu beleben. In welcher Weise Schelling die Natur als eine
materielle Ausgestaltung des Ich im einzelnen dargestellt hat,
braucht hier nicht ausgeführt zu werden. Darauf kommt es in
dieser Darstellung an, zu zeigen, in welcher Weise sich das Ich
den Machtbereich wieder zurückerobert, den es im Verlauf der
abendländischen Gedankenentwickelung an ein selbstgezeugtes
Geschöpf abgetreten hat. Deswegen können in diesem Zusam-
menhange auch die übrigen Schöpfungen Schellings nicht berück-
sichtigt werden. Sie bringen höchstens noch Einzelheiten zu der
berührten Frage bei. — Gleich wie Fichte kommt auch Schelling
von der klaren Selbsterkenntnis wieder ab und sucht die aus dem
Selbst fließenden Dinge dann aus anderen Wesenheiten abzuleiten.
Die späteren Lehren der beiden Denker sind Rückfälle in An-
schauungen, die sie in einem früheren Lebensalter vollkommen
überwunden hatten.

Ein weiterer kühner Versuch, die ganze Welt auf Grund des


im Ich liegenden Inhalts zu erklären, ist die Philosophie Georg
Wilhelm Friedrich Hegels. Was Fichte mit allerdings unvergleich-
lichen Worten charakterisiert hat, das Wesen des menschlichen
Ich: Hegel suchte seinen ganzen Inhalt allseitig zu durchforschen
und darzustellen. Denn auch er sieht dieses Wesen als das eigent-
liche Urding, als das «An-sich der Dinge» an. Nur macht Hegel
ein Eigentümliches. Er entkleidet das Ich alles Individuellen, Per-
sönlichen. Trotzdem es ein echtes, wahres Ich ist, was Hegel den

140


Welterscheinungen zugrunde legt, wirkt es unpersönlich, un-
individuell, fern dem intimen, vertrauten Ich, fast wie ein Gott.
In solch unnahbarer, streng abstrakter Form legt Hegel das An-sich
der Welt, seinem Inhalte nach, in seiner Logik auseinander. Das
persönlichste Denken wird hier auf die unpersönlichste Art dar-
gestellt. Die Natur ist nun nach Hegel nichts anderes als der in
Raum und Zeit auseinandergelegte Inhalt des Ich. Dieser ideelle
Inhalt in seinem Anderssein. «Die Natur ist der sich entfremdete
Geist.» Im individuellen Menschengeiste wird Hegels Aufstellung
nach das unpersönliche Ich persönlich. Im Selbstbewußtsein ist
das Ichwesen nicht nur an sich, es ist auch für sich; der Geist
entdeckt, daß der höchste Weltinhalt sein eigener Inhalt ist. -
Weil Hegel das Wesen des Ich zunächst unpersönlich zu fassen
sucht, bezeichnet er es auch nicht als Ich, sondern als Idee. Hegels
Idee ist aber nichts anderes als der von allem persönlichen Cha-
rakter freigemachte Inhalt des menschlichen Ich. Dieses Abstra-
hieren von allem Persönlichen zeigt sich am kräftigsten in Hegels
Ansichten über das geistige, das sittliche Leben. Nicht das ein-
zelne persönliche, individuelle Ich des Menschen darf sich seine
Bestimmung vorsetzen, sondern das von diesem abstrahierte große,
objektive, unpersönliche Welt-Ich, die allgemeine Welt-Vernunft,
die Welt-Idee. Dieser aus seinem eigenen Wesen geholten Ab-
straktion hat sich das individuelle Ich zu fügen. In den recht-
lichen, staatlichen, sittlichen Institutionen, in dem geschichtlichen
Prozesse hat die Weltidee den objektiven Geist niedergelegt. Die-
sem objektiven Geiste gegenüber ist der Einzelne minderwertig,
zufällig. Hegel wird nicht müde, immer wieder und wieder zu
betonen, daß das zufällige Einzel-Ich sich den allgemeinen Ord-
nungen, dem geschichtlichen Verlauf der geistigen Entwickelung
eingliedern müsse. Es ist die Despotie des Geistes über die Träger
dieses Geistes, was Hegel verlangt.

Es ist ein merkwürdiger letzter Rest des alten Gottes- und Jen-


seitsglaubens, der hier bei Hegel noch auftritt. Alle die Attribute,
womit das zum äußeren Weltenherrscher gewordene menschliche
Ich einst ausgestattet worden ist, sind fallengelassen, und lediglich
das der logischen Allgemeinheit ist geblieben. Die Hegeische

141


Weltidee ist das menschliche Ich, und Hegels Lehre erkennt das
ausdrücklich an, denn auf der Spitze der Kultur gelangt der
Mensch nach dieser Lehre dazu, seine volle Identität mit diesem
Welt-Ich zu fühlen. In Kunst, Religion und Philosophie sucht
der Mensch das Allgemeinste seinem besonderen Sein einzuver-
leiben, der Einzelgeist durchdringt sich mit der allgemeinen Welt-
vernunft. Den Verlauf der Weltgeschichte schildert Hegel fol-
gendermaßen: «Werfen wir einen Blick auf das Schicksal der
welthistorischen Individuen, so haben sie das Glück gehabt, die
Geschäftsführer eines Zweckes zu sein, der eine Stufe in dem
Fortschreiten des allgemeinen Geistes war. Indem sich die Ver-
nunft dieser Werkzeuge bedient, können wir es eine List derselben
nennen, denn sie läßt sie mit aller Wut der Leidenschaft ihre
eigenen Zwecke vollführen und erhält sich nicht nur unbeschä-
digt, sondern bringt sich selbst hervor. Das Partikulare ist mei-
stens zu gering gegen das Allgemeine: die Individuen werden
geopfert und preisgegeben. Die Weltgeschichte stellt sich somit
als der Kampf der Individuen dar, und in dem Felde dieser Be-
sonderheit geht es ganz natürlich zu. Wie in der tierischen Natur
die Erhaltung des Lebens Zweck und Instinkt des Einzelnen ist,
wie aber doch hier die Vernunft, das Allgemeine, vorherrscht und
die Einzelnen fallen, so geht es auch in der geistigen Welt zu. Die
Leidenschaften zerstören sich gegenseitig; die Vernunft allein
wacht, verfolgt ihren Zweck und macht sich geltend.» Die höch-
ste Entwickelungsstufe der Menschenbildung stellt sich aber auch
für Hegel nicht dar in dieser Opferung des partikularen Indivi-
duums zugunsten der allgemeinen Weltvernunft, sondern in der
vollständigen Durchdringung beider. In der Kunst, Religion und
Philosophie wirkt das Individuum so, daß sein Wirken zugleich
Inhalt der allgemeinen Weltvernunft ist. — Bei Hegel ist durch
das Moment der Allgemeinheit, das er in das Welt-Ich legte, auch
die Unterordnung des menschlichen Sonder-Ichs unter dieses Welt-
Ich noch geblieben.

Dieser Unterordnung suchte Ludwig Feuerbach dadurch ein


Ende zu machen, daß er mit kräftigen Worten aussprach, wie der
Mensch das Wesen seines Ich in die Außenwelt versetzt, um sich

142


ihm dann als einem Gotte erkennend, gehorchend, verehrend
gegenüberzustellen. «Gott ist das offenbare Innere, das ausge-
sprochene Selbst des Menschen, die Religion ist die feierliche
Enthüllung der verborgenen Schätze des Menschen, das Ein-
geständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis
seiner Liebesbekenntnisse.» Aber auch Feuerbach hat die Idee
dieses Ich von dem Momente der Allgemeinheit noch nicht ge-
reinigt. Ihm ist das allgemeine Menschen-Ich ein höheres als das
individuelle Einzel-Ich. Und obwohl er als Denker dieses allge-
meine Ich nicht gleich Hegel zu einem an sich seienden Welt-
wesen vergegenständlicht, so stellt er doch in sittlicher Beziehung
dem menschlichen Einzelwesen den allgemeinen Begriff des
gattungsmäßigen Menschen gegenüber und fordert, daß der Ein-
zelne sich über die Schranken seiner Individualität erheben soll.

Erst Max Stirner hat in seinem 1844 erschienenen Buche «Der


Einzige und sein Eigentum» in radikaler Weise von dem Ich ge-
fordert, es sollte endlich einsehen, daß es alle Wesen, die es im
Laufe der Zeit über sich gesetzt hat, aus seinem eigenen Leibe
geschnitten und als Götzen in die Außenwelt versetzt hat. Jeder
Gott, jede allgemeine Weltvernunft ist ein Ebenbild des Ich und
hat keine anderen Eigenschaften als das menschliche Ich. Und
auch der Begriff des allgemeinen Ich ist aus dem ganz indivi-
duellen Ich jedes Einzelnen herausgeschält.

Stirner fordert den Menschen auf, alles Allgemeine von sich


abzuwerfen und sich zu gestehen, daß er ein Einzelner ist. «Du
bist zwar mehr als Jude, mehr als Christ usw., aber Du bist auch
mehr als Mensch. Das sind alles Ideen, Du aber bist leibhaftig.
Meinst Du denn, jemals (Mensch als solchen werden zu können?»
«Ich bin Mensch! Ich brauche den Menschen nicht erst in Mir her-
zustellen, denn er gehört mir schon wie alle meine Eigenschaften.»
«Nur Ich bin nicht Abstraktion allein, Ich bin Alles in Allem;
... Ich bin kein bloßer Gedanke, aber Ich bin zugleich voller
Gedanken, eine Gedankenwelt. Hegel verurteilt das Eigene, das

Meinige... Das ist dasjenige Denken, welches


vergißt, daß es mein Denken ist, daß Ich denke, und daß es nur
durch Mich ist. Als Ich aber verschlinge Ich das Meinige wieder,
bin Herr desselben, es ist nur meine Meinung, die Ich in jedem
Augenblicke ändern, das heißt vernichten, in Mich zurücknehmen
und aufzehren kann.» «Mein eigen ist der Gedanke erst dann,
wenn Ich zwar ihn, er aber niemals Mich unterjochen kann, nie
Mich fanatisiert, zum Werkzeug seiner Realisation macht.» Alle
über das Ich gestellten Wesen zerschellen zuletzt an der Erkennt-
nis, daß sie nur durch das Ich in die Welt gebracht worden sind.
«Für mein Denken ist nämlich der Anfang nicht ein Gedanke,
sondern Ich, und darum bin Ich auch sein Ziel, wie denn sein
ganzer Verlauf nur ein Verlauf meines Selbstgenusses ist.»

Das einzelne Ich im Sinne Stirners soll man nicht durch einen


Gedanken, eine Idee definieren wollen. Denn Ideen sind etwas
Allgemeines; und durch eine solche Definition würde somit der
Einzelne - wenigstens logisch — sofort wieder einem Allgemeinen
untergeordnet. Alle übrigen Dinge der Welt kann man durch
Ideen definieren, das eigene Ich aber müssen wir als Einzelnes
in uns erleben. Alles, was über den Einzelnen in Gedanken aus-
gesprochen wird, kann seinen Inhalt nicht in sich aufnehmen; es
kann nur auf denselben hindeuten. Man sagt: sehe hin in dich;
da ist etwas, für das jeder Begriff, jede Idee zu arm ist, um es
in seinem leibhaftigen Reichtum zu umspannen, das aus sich her-
aus die Ideen hervorbringt, selbst aber einen unerschöpflichen
Brunnen in sich hat, dessen Inhalt unendlich umfangreicher ist
als alles, was es hervorbringt. In einer von Stirner verfaßten Ent-
gegnung sagt dieser: «Der Einzige ist ein Wort, und bei einem
Worte müßte man sich doch etwas denken können, ein Wort
müßte doch einen Gedankeninhalt haben. Aber der Einzige ist
ein gedankenloses Wort, es hat keinen Gedankeninhalt. Was ist
aber dann sein Inhalt, wenn der Gedanke es nicht ist? Einer,
der nicht zum zweiten Male da sein, folglich auch nicht aus-
gedrückt werden kann, denn könnte er ausgedrückt, wirklich und
ganz ausgedrückt werden, so wäre er zum zweiten Male da, wäre
im da... Erst dann, wenn Nichts von Dir ausgesagt

144


und Du nur genannt wirst, wirst Du anerkannt als Du. Solange
Etwas von Dir ausgesagt wird, wirst Du nur als dieses Etwas
(Mensch, Geist, Christ usf.) anerkannt.» Das einzelne Ich ist also
dasjenige, das alles, was es ist, nur durch sich selber ist, das den
Inhalt seines Daseins aus sich selbst holt und ihn fortwährend aus
sich heraus erweitert. — Dieses einzelne Ich kann keine ethische
Verbindlichkeit anerkennen, die es sich nicht selbst auferlegt. «Ob,
was Ich denke und tue, christlich sei, was kümmert's Mich? Ob
es menschlich, liberal, human, ob unmenschlich, illiberal, inhuman,
was frag' Ich darnach? Wenn es nur bezweckt, was Ich will, wenn
Ich nur Mich darin befriedige, dann belegt es mit Prädikaten wie
Ihr wollt: es gilt Mir gleich ...» «Auch Ich wehre Mich vielleicht
schon im nächsten Augenblicke gegen meine vorigen Gedanken,
auch Ich ändere wohl plötzlich meine Handlungsweise; aber nicht
darum, weil sie der Christlichkeit nicht entspricht, nicht darum,
weil sie gegen die ewigen Menschenrechte läuft, nicht darum,
weil sie der Idee der Menschheit, Menschlichkeit und Humanität
ins Gesicht schlägt, sondern — weil Ich nicht mehr ganz dabei
bin, weil sie Mir keinen vollen Genuß mehr bereitet, weil Ich an
dem früheren Gedanken zweifle oder in der eben geübten Hand-
lungsweise Mir nicht mehr gefalle.» Charakteristisch ist, wie sich
Stirner von diesem seinem Gesichtspunkte aus über die Liebe aus-
spricht. «Ich liebe die Menschen auch, nicht bloß einzelne, son-
dern jeden. Aber Ich liebe sie mit dem Bewußtsein des Egoismus;
Ich liebe sie, weil die Liebe Mich glücklich macht, Ich liebe, weil
Mir das Lieben natürlich ist, weil Mir's gefällt. Ich kenne kein
...» Diesem souveränen Individuum gegenüber
sind alle staatlichen, gesellschaftlichen, kirchlichen Organisationen
eine Fessel. Denn alle Organisationen setzen voraus, daß das Indi-
viduum so oder so sein müsse, damit es sich in die Gemeinschaft
eingliedern lasse. Aber das Individuum will sich nicht von der
Gemeinschaft bestimmen lassen, wie es sein soll; es will sich
selbst so oder so machen. Worauf es Stirner ankommt, hat
J.H.Mackay in seinem Buche «Max Stirner, sein Leben und sein
Werk» ausgesprochen, auf die «Vernichtung jener fremden
Mächte, die das Ich in den verschiedensten Formen zu unter-

145


drücken und zu vernichten suchen, in erster Linie; und der Dar-
legung der Beziehungen unseres Verkehrs untereinander, wie sie
sich aus dem Widerstreit und der Harmonie unserer Interessen
ergeben, in zweiter». Sich selbst genügen kann der Einzelne nicht
in einer organisierten Gemeinschaft, sondern nur in dem freien
Verkehr oder Verein. Dieser kennt keine als Macht über den Ein-
zelnen gesetzte gesellschaftliche Struktur. In ihm geschieht alles
durch den Einzelnen. Es ist in ihm nichts festgelegt. Was ge-
schieht, ist immer auf den Willen des Einzelnen zurückzuführen.
Einen Gesamtwillen repräsentiert niemand und nichts. Stirner
will nicht, daß die Gesellschaft für den Einzelnen sorgt, seine
Rechte schützt, sein Wohl fördert und so weiter. Wenn von den
Menschen die Organisation genommen ist, dann regelt sich ihr
Verkehr von selbst. «Ich will lieber auf den Eigennutz der Men-
schen angewiesen sein, als auf ihre , ihre Barm-
herzigkeit, Erbarmen usw. Jener fordert Gegenseitigkeit (wie Du
Mir, so Ich Dir), tut nichts , und läßt sich gewinnen
und — erkaufen.» Lasset dem Verkehr seine völlige Freiheit, und
er schafft unbeschränkt jene Gegenseitigkeit, die ihr durch eine
Gemeinschaft doch nur beschränkt herstellen könnt. «Den Verein
hält weder ein natürliches noch ein geistiges Band zusammen, und
er ist kein natürlicher, kein geistiger Bund. Nicht Ein Blut, nicht
Ein Glaube (das heißt Geist) bringt ihn zustande. In einem natür-
lichen Bunde — wie einer Familie, einem Stamme, einer Nation,
ja der Menschheit — haben die Einzelnen nur den Wert von
Exemplaren derselben Art oder Gattung; in einem geistigen
Bunde — wie einer Gemeinde, einer Kirche — bedeutet der Ein-
zelne nur ein Glied desselbigen Geistes; was Du in beiden Fällen
als Einziger bist, das muß — unterdrückt werden. Als Einzigen
kannst Du Dich bloß im Vereine behaupten, weil der Verein
nicht Dich besitzt, sondern Du ihn besitzest oder Dir zunutze
machest.»

Der Weg, auf dem Stirner zu seiner Anschauung des Einzelnen


gelangt ist, kann als universale Kritik aller das Ich unterdrücken-
den allgemeinen Mächte bezeichnet werden. Die Kirchen, die
politischen Systeme (der politische Liberalismus, der soziale Libe-

146


ralismus, der humane Liberalismus), die Philosophien, sie alle
haben solche allgemeine Mächte über den Einzelnen gesetzt. Der
politische Liberalismus fixiert den «guten Bürger», der soziale
Liberalismus den an Gemeinbesitz mit allen ändern gleichen
Arbeiter, der humane Liberalismus den «Menschen als Menschen».
Indem er alle diese Mächte zerstört, richtet Stirner auf den Trüm-
mern die Souveränität des Einzelnen auf. «Was soll nicht alles
Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Got-
tes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der
Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes,
Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des
Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals
Meine Sache sein. — Sehen Wir denn zu, wie diejenigen es mit
ihrer Sache machen, für deren Sache Wir arbeiten, Uns hingeben
und begeistern sollen. Ihr wißt von Gott viel Gründliches zu ver-
künden und habt jahrtausendelang forscht> und ihr ins Herz geschaut, so daß Ihr Uns wohl sagen
könnt, wie Gott die , der wir zu dienen berufen
sind, selber betreibt. Und ihr verhehlt es auch nicht, das Treiben
des Herrn. Was ist nun seine Sache? Hat er, wie es Uns zuge-
mutet wird, eine fremde Sache, hat er die Sache der Wahrheit,
der Liebe zur seinigen gemacht? Euch empört dies Mißverständ-
nis und ihr belehrt uns, daß Gottes Sache allerdings die Sache
der Wahrheit und Liebe sei, daß aber diese Sache keine ihm
fremde genannt werden könne, weil Gott ja selbst die Wahrheit
und Liebe sei; Euch empört die Annahme, daß Gott Uns armen
Würmern gleichen könnte, indem er eine fremde Sache als eigene
beförderte. wenn er nicht selbst die Wahrheit wäre?> Er sorgt nur für seine
Sache, aber weil er alles in allem ist, darum ist auch alles seine
Sache; Wir aber, Wir sind nicht alles in allem, und unsere Sache
ist gar klein und verächtlich; darum müssen wir einer

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