Selen: Sollen wir es routinemäßig substituieren?
Dr. Matthias Angstwurm
Ludwig-Maximilians-Universität München; Abteilung Endokrinologie
Matthias.Angstwurm@med.uni-muenchen.de
Einleitung
Selen wurde im Jahre 1817 von Berzelius erstmals beschrieben. Als 34. Atom gehört Selen der
Periodengruppe von Sauerstoff und erklärt daher die chemischen Eigenschaften. Seit 1957 ist bekannt,
dass Selen ein essentielles Spurenelement ist und ein absoluter Mangel an Selen nicht mit dem Leben
vereinbar ist. Im gesamten Körper befinden sich 10 bis 20mg Selen. Von der deutschen Gesellschaft
für Ernährung werden 70µg Selen als minimale Menge Tagesmenge in jeder Ernährung empfohlen.
Die maximal empfohlene Menge an Selen liegt bei etwa 400µg/die, ab einer Dosis von 3000µg/die
über Jahre ist mit Nebenwirkungen zu rechnen.
Als Bestandteil von Proteinen wurde Selen erst vor 25 Jahren entdeckt. Freies Selen ist nur in Spuren
vorhanden. Die Eigenschaften von Selen erklärt, dass die meisten dieser Proteine wesentlich an
Reaktionen mit Radikalen beteiligt sind, aber auch im Metabolismus von Hormonen oder auch bei der
Reproduktion. In den Proteinen liegt Selen gebunden an Cystein im katalytischen Zentrum vor. Eine
für Selen-Cystein spezifische tRNA weißt auf die fundamentale Bedeutung von Selen für den
Stoffwechsel hin.
Zu den wichtigsten selenabhängigen Enzymen, die bisher beim Menschen nachgewiesen wurden,
gehören vier durch unterschiedliche Gene kodierte Glutathionperoxidasen (cytosolische GPx,
gastrointestinale GPx, Plasma GPx, Phopholipid-Hydroxyperoxid-GPx), drei Thioredoxinreduktasen
(TrxR), drei Dejodasen (Typ I, Typ II und Typ III 5‘-Dejodase) und Selenoprotein P.
GPx-Enzyme konnten inzwischen in allen Geweben von Säugetieren nachgewiesen werden, in denen
oxidative Prozesse ablaufen. Durch den Abbau von H
2
O
2
zu H
2
O oder von Lipid- oder Cholesterol-
Hydroperoxiden zu entsprechenden Alkoholen wirken diese Enzyme protektiv gegen Folgeprodukte
reaktiver Sauerstoffverbindungen. Die GPx sind unter anderem auch in den Mitochondrien am Schutz
der lipidhaltigen Zellmembranen des Organismus vor Oxidation beteiligt. Die Selen-Enzyme
beeinflussen weiterhin den Stoffwechsel von Leukotrienen, Thromboxan und Prostaglandin.
Ein weiteres Enzym, die vor kurzem in höheren Säugetieren als Selenoprotein identifizierte
Thioredoxin Reduktase (TrxR), reduziert ein bereites Spektrum von breite Substraten, u.a.
synthestische Verbindungen, oxidierte Peptide und Proteine. Thioredoxin (Trx) und Glutathion sind
natürliche Substrate der TrxR. Sie sind nicht nur Regulatoren des zellulären Redoxstatus, sondern
auch der Redox-regulierten Funktion von Transkriptionsfaktoren, sowie hormonell regulierter
Kernrezeptoren. Thioredoxin beeinflusst die DNA-Bindung einzelner Transkriptionsfaktoren wie AP-
1 oder NF-kB. Selen ist daher in der Lage, an vielen Stellen damit Entzündungsvorgänge zu
modulieren.
Selen bei Erkrankungen
Sehr häufig sind die Selenspiegel bei Patienten der Intensivstation gegenüber der Norm deutlich
erniedrigt. Diskutiert wird, dass eine Mangelernährung möglicherweise einen Prädispositionsfaktor für
schwere Erkrankungen darstellen könnte. Ein Selenmangel ist z.B. bei Patienten mit
Alkoholproblemen bekannt. Bei einer längeren parenteralen Ernährung und Fortbestehen der
Erkrankung sinkt der Selenspiegel jedoch konstant ab. Eine lange anhaltende künstliche Ernährung
sollte daher Selen als Zusatz unabdingbar enthalten.
Allerdings ist - fast regelmäßig - bereits zu Beginn der Erkrankung Selen erniedrigt in Korrelation mit
der Entzündungsreaktion, ohne dass eine vermehrte Ausscheidung von Selen im Urin gefunden wird.
Während der Erholung des Patienten steigt auch ohne externe Substitution der Selenspiegel im Serum
wieder an. Das akute Absinken und der Anstieg von Selen im Serum nach Erholung zeigen, dass eine
Umverteilung im Körper stattfindet. Ein erniedrigter Selenspiegel im Serum bei akut erkrankten
Patienten kann somit nicht als Ausdruck eines Selenmangels interpretiert werden.
Etwa 60-70% des Selens im Serum sind gebunden im Selenoprotein P. Selenoprotein P wird in
Abhängigkeit von der in der Leber zur Verfügung stehenden Menge an Selen in der Leber gebildet. Im
gesunden Menschen korreliert der Spiegel an Selenoprotein P mit der Versorgung des Körpers an
Selen. Bei akuten Entzündungsreaktionen ist in der Leber der Selengehalt vermindert und es wird -
invers zu Akutphaseproteinen und beeinflusst durch Zytokine wie TNF oder Interleukine – auch
Selenoprotein P vermindert gebildet. Die Funktion von Selenoprotein P ist noch nicht eindeutig
geklärt. Der Mangel an Selen im Serum von Patienten mit akuten Erkrankngen ist daher durch einen
Mangel an Selenoprotein P verursacht. Selenoprotein P ist ein extrazelluläres antioxidatives Protein
mit einer Transportfunktion. Es ist aber auch am Abbau von Peroxinitrit beteiligt und bindet
Schwermetalle. Selenoprotein P bindet mit hoher Affinität an Endothelzellen, sodass es dort lokal
antioxidativ wirksam sein kann und z.B. die oxidative Schädigung von Membranlipiden verhindern
kann. Bei Selenmangel und damit einem Mangel an Selenoprotein P ist eine vermehrte
Aktivierung der Endothelzellen beschrieben, die als Auslöser und Verstärker eines
Multiorganversagens derzeit im Zentrum der wissenschaftlichen Forschung bei der Sepsis steht. Eine
Selensubstitution induziert u.a. in den Endothelzellen die Aktivität der TrxR und GPx. In wieweit trotz
einer vorhandenen Entzündungsreaktion die Substitution von Selen zu einem Anstieg von
Selenoprotein P und zu einem Schutz des Endothels führt, ist bisher nicht bekannt.
Immunmodulation mittels Selen
Die Gabe von Selen erhöht die Resistenz gegen Infektionen, insbesondere virale Infektionen, durch
eine Modulation der Interleukin Bildung und nachfolgend der Th1/Th2 Antwort der Lymphozyten.
Selen beeinflusst die Aktivierung von NF-kB, eines zentralen Regulationsproteins für
Adhäsionsmoleküle oder Zytokine: Unter dem Einfluss von Selen wird die Bildung von Zytokinen wie
Interferon oder IL-2 positiv beeinflusst.
Die Aktivierung von Makrophagen oder neutrophilen Granulozyten zur Phagozytose beinhaltet die
Bildung von reaktiven Sauerstoffradikalen, den so genannten „respiratory burst“, der zur Abtötung
von Mikroorganismen erforderlich ist. Eine Reihe von antioxidativ wirkenden Enzymen muss
innerhalb der Zellen aktiv sein, um einen Schutz der Zellen vor den Sauerstoffradikalen zu
gewährleisten, vor allem sind dies die Selen abhängigen Enzyme TrxR und GxP.
Klinische Studien
Aus diesen Erkenntnissen der Grundlagenforschung erklärt sich die breite klinische Bedeutung von
Selen. Da bei vielen Erkrankungen insbesondere entzündlicher und autoimmuner Genese vermehrt
reaktive Sauerstoffradikale (Superoxidanionen, Hydroperoxyd und Hydroxylradikale) freigesetzt
werden, benötigt der Organismus einen erhöhten antioxidativen Schutz. Das antioxidativ wirkende
System ist jedoch bei schwer erkrankten Patienten deutlich weniger aktiv, entsprechend sind auch
messbare Parameter einer oxidativen Reaktion wie z.B. Malondialdehyd deutlich erhöht.
Selenmangel bedeutet auch eine verminderte GPx Aktivität sowohl an den Zellmembranen als auch im
Plasma. Die verminderte Plasma-GPx-Aktivität ist invers mit der Mortalität korreliert. Auch
Patienten mit einer chronischen oder akuten Niereninsuffizienz haben verminderte Selenspiegel
und eine verminderte GPx Aktivität. Die Gabe von Natrium-Selenit führt bei allen Erkrankungen
sowohl zu einer Normalisierung von Selen im Plasma als auch zu einer normalisierten GPx-Aktivität,
das zugeführte Selen wird somit auch tatsächlich metabolisiert.
Erste unkontrollierte Studien zeigten einen positiven Einfluss von Selen auf den Krankheitsverlauf
einer hämorrhagisch- nekrotisierender Pankreatitis, schwerer Verbrennung und SIRS/Sepsis.
Auch bei Patienten mit schwerem Polytrauma oder Verbrennungen wurde in prospektiven
kontrollierten Studien ein positiver Effekt auf die infektiösen Komplikationen und das
Multiorganversagen nachgewiesen werden. Es handelt sich dabei leider um Studien mit kleinen
Fallzahlen mit z.T. erheblichen Mängeln im Studiendesign. Daher wird in der Cochraine Analyse von
2005 festgestellt, dass eine generelle Substitution zwar die Mortalität zu vermindern scheint, aber noch
nicht ausreichend Daten vorliegen, dies allgemein zu empfehlen.
In einer ersten Studie, die den Ansprüchen einer modernen klinischen Studie erfüllt, konnte in der
SIC-Studie eine erniedrigte Mortalität unter Selen gezeigt werden. Die Anhebung von Selenspiegeln
war mit einer verminderten Mortalität assoziiert, während in der Kontrollgruppe ein erniedrigter
Spiegel mit einer erhöhten Mortalität einherging. Insbesondere die schwer erkrankten Patienten
mit einem Multiorganversagen profitierten von der Selengabe. Weiterhin sind durch diese
Substitution von Selen keine relevanten Nebenwirkungen aufgetreten, auch nicht bei Patienten mit
Nierenversagen. Auch wenn mit der jetzt vorliegenden SIC-Studie noch nicht endgültig eine
Selensubstitution zu einem Standard in der Therapie der Sepsis werden kann, so stellt doch die zeitlich
limitierte Therapie mit Selen eine bedeutende Therapieoption dar, die weiter in nationalen und
internationalen Studien geprüft werden sollte.
Zusammenfassung
Selen und die von Selen abhängigen Enzyme haben infolge der bisherigen Ergebnisse aus der
Grundlagenforschung in den letzten Jahren an klinischer Bedeutung zugenommen, woraus sich ein
weites Feld von möglichen klinischen Anwendungen ergibt. Nach den bisherigen Ergebnissen der
SIC-Studie zur Gabe von Selen bei Patienten mit schweren Infektionen liegt ein positiver Einfluss
einer hochdosierten Selensubstitution auf den Verlauf einer Sepsis nahe, ohne dass relevante
Nebenwirkungen erkannt worden wären. Aufgrund der bisher vorliegenden Studienlage kann
daher eine zeitlich unbegrenzte Substitution von mindestens 200 µg Natrium-Selenit bei allen
Erkrankungen empfohlen werden, die mit einer schweren systemischen Entzündungsreaktion
einhergehen.
Keypoints
Bei einer lange durchgeführten künstlichen Ernährung ist Selen als Zusatz erforderlich.
Bei kritisch kranken Patienten ist der Selenspiegel im Serum regelhaft erniedrigt. Ein Mangel an Selen
darf daraus jedoch nicht abgeleitet werden.
Bei Selenmangel ist eine vermehrte Aktivierung der Endothelzellen beschrieben.
Erniedrigte Serum – Selenspiegel sowie eine verminderte Plasma-GPx-Aktivität sind invers mit der
Mortalität korreliert.
Patienten mit einer chronischen oder akuten Niereninsuffizienz haben verminderte Selenspiegel.
Insbesondere die schwer erkrankten Patienten mit einem Multiorganversagen profitieren von einer
Selengabe.
Aufgrund der bisher vorliegenden Studienlage kann die Substitution von mindestens 200µg Natrium-
Selenit bei allen Erkrankungen empfohlen werden, die mit einer schweren systemischen
Entzündungsreaktion einhergehen.
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