Seminar für allgemeine pädagogik


Eine Geschichte als Beispiel: „Das Roastbeef“



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1.3 Eine Geschichte als Beispiel: „Das Roastbeef“


Die folgende Geschichte entnahm ich der Tageszeitung „Fränkischer Tag“ vor mehr als dreißig Jahren, im Jahr 1957. Ihr Wahrheitsgehalt steht hier nicht zur Diskussion. Im Zweifelsfall ist sie im Sinne des bekannten italienischen Sprichwortes zu behandeln: Si non è vero, é ben trovato (Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden!). Die Geschichte soll lediglich als ein Beispiel dienen, wie ein „normaler“ Kommunikationsvorgang durch eine Folge von Umständen zu einem bestürzenden Ende kommt, das niemand der Beteiligten voraussieht.

Das Roastbeef - von Walter Foitzick

Dieses Mittagessen hätte an sich ganz ruhig und harmonisch verlaufen können, wie alle anderen Mahlzeiten in der Familie des Direktors Farnbühler.

Es war auch nicht das geringste Anzeichen vorhanden, daß gerade dieses Mittagessen am 4. April so ein tumultuarisches Ende nehmen würde. Der Direktor Farnbühler lebte mit seiner Frau in einem Zustande gelinder Abneigung, den man gemeinhin als glückliche Ehe zu bezeichnen pflegt, und der Sohn Fritz blieb nur manchmal in einer Klasse sitzen, was aber vom Direktor im Drange der Geschäfte übersehen wurde.

Am 3. April kam Farnbühler abends aus seinem Büro nach hause und sagte seiner Frau, daß er für morgen Mittag Herrn Stöhr zum Essen eingeladen hätte. Diese Mitteilung versetzte Frau Farnbühler keineswegs in Aufregung, sie sagte, es passe ihr sehr gut, denn es gäbe morgen mittag Roastbeef, und deshalb sei ihr ein Gast recht willkommen, zum Nachtisch werde sie einfach ein Glas der eingemachten Mirabellen aufmachen.

Damit war die Angelegenheit für Farnbühler vorläufig erledigt.

Am nächsten Mittag kam also Herr Stöhr, ein Geschäftsfreund des Direktors. Ein ganz normaler Mensch, dieser Herr Stöhr, nur etwas unbeholfen und anscheinend etwas kurzsichtig, denn er trug einen dicken Kneifer, den er mit einer automatischen Handbewegung immer wieder auf die Nase hochschob, da er die Tendenz zeigte, nach vorne abzurutschen. Man setzte sich zu Tische. Bei der Suppe geschah nichts; die Herren unterhielten sich von Geschäften, und die Mutter beschäftigte sich damit, Fritz durch kurze Winksignale anzudeuten, daß er den rechten Zeigefinger aus seinem linken Nasenloch entfernen sollte. Dann kam das Roastbeef. Frau Farnbühler hatte das Roastbeef in der Küche draußen aufschneiden lassen, so ungefähr zu drei Viertel, damit es nicht unnötig trocken werde. Am Ende lag noch ein großes unaufgeschnittenes Stück.

Ein unglücklicher Zufall wollte es, daß der kurzsichtige Herr Stöhr gerade dieses große Fleischstück aufspießte und sich auf den Teller legte. Hier bemerkte er, daß die Dimensionen seiner Portion doch etwas gewaltig ausgefallen waren, und er sagte abwehrend, entschuldigend: "Oh, so ein großes Stück."

Aber Frau Farnbühler wollte das Peinliche der Situation beseitigen und meinte: "Aber bitte, das Stück ist gar nicht groß."

Auch der Herr Direktor setzte in liebenswürdigster Gastfreundschaft hinzu: "Im Gegenteil, es ist sehr klein." Fritz traten die Augen aus dem Kopf, er wurde blaurot und blies die Backen auf.

Das Stück hatte phantastische Dimensionen; es füllte den ganzen Teller aus und auf allen Seiten hingen die Fleischlappen über den Tellerrand auf das Tischtuch.

Jetzt kam die Soße. Frau Farnbühler sah das Unglück kommen; es war unabwendbar. Schnell also Konversation machen: "Daß es in diesem Jahr so gar nicht warm werden will - nein, so ein später Winter."

Und da schossen schon die braunen Fluten der Bratensoße die Flanken des Fleischmassivs herunten und schäumend ergossen sie sich auf das Tischtuch, hierhin und dorthin, wie bei einem geologischen Modell eines Vulkanausbruches. Der arme Herr Stöhr, er sah nichts.

Er sagte nur: Er für seine Person, er vermisse den Frühling noch nicht.

Fritz entwich die Luft mit einem pfeifenden Laut durch beide, jetzt frei gewordenen Nasenlöcher.

Der Vater schoß einen warnenden Blick auf ihn ab. Blindgänger! Die Mutter stieß mit der Gabel mehrmals sinnlos in ihr Fleisch. Nur nicht hinsehen: Der arme Herr Stöhr, wenn Fritz bloß nicht explodiert. Jetzt noch die grünen Erbsen. "Sie sind mein Lieblingsgemüse", meinte ganz harmlos Herr Stöhr. Und schon prasselte es die Flanken des Bratengebirges herunter, wie Steinschlag bei Tauwetter im Frühjahr. Überallhin schossen die soßengefärbten Erbsenkugeln. Sie hinterließen kleine braune Striche auf dem Tischtuch, das dadurch das Aussehen einer Eisenbahnkarte bekam, mit einer großen Zentrale, das war Herrn Stöhrs Teller. Fritz tat einen grellen Lacher. Der Vater mit dem Angstschweiß auf der Stirn: "Du sollst dich nicht immer an der Unterhaltung der Erwachsenen beteiligen, das habe ich dir schon hundertmal gesagt."

Wenn man nur die Aufmerksamkeit auf irgend etwas anderes lenken könnte. Ihm, dem Herrn Direktor, war das Lachen auch schon in der Kehle, und sein Verweis gegen Fritz endete in einem vollkommen unsachgemäßen Meckern.

Herr Stöhr merkte noch immer nichts. Er war von unbefangener Heiterkeit und freundlichem Behagen. Frau Farnbühler besaß noch am meisten Haltung. Reden, nur reden, was das Zeug hält. Sie fragte nach der Entfernung des Mondes von der Erde, ereiferte sich über die Orangenpreise und sprach über Säuglingsfürsorge. Über all das lachte die Familie wie wild. Ja, der alte Mond, hahaha, und die Säuglingsfürsorge, zum Kugeln. Herr Stöhr fand solches gar nicht komisch, aber er lächelte, wenn auch etwas erstaunt, mit.

Er aß und aß. Die Frau Direktor schnitt schon ihr Fleisch auf dem Teller in mikroskopische Stückchen, um mit ihrem Gaste Schritt zu halten und nicht früher fertig zu werden. Fritz war längst mit seiner Portion am Ende und beschäftigte sich damit, die Erbsenkugeln, die in seiner Nähe lagen, mit dem Finger weiter zu schnippen, wodurch er das Eisenbahnnetz riesig komplizierte. Jetzt wurde es Herrn Stöhr allmählich doch etwas schwer, mit seinem Fleischkloß fertig zu werden. Er begann zu schwitzen. Und wenn man schwitzt, rutscht bekanntlich der Kneifer, und Herrn Stöhrs Kneifer rutschte, glitt ab wie ein Schiff beim Stapellauf, immer schneller, und fiel - wohin, das wußte Herr Stöhr nicht; er konnte den Kneifer ohne Kneifer ganz gewiß nicht sehen. Nach einigen schüchternen Versuchen um sich herum sagte er bloß: "Man wird ihn schon finden." Es hätte einer heroischen Hausfrau bedurft, um Herrn Stöhr darüber aufzuklären, daß der Kneifer sanft und weich mitten zwischen Erbsen und Fleisch auf seinem Teller lag. Mit starrem Entsetzen sah die Familie das Schicksal seinen Lauf nehmen. Herr Stöhr nahm Messer und Gabel und - schnitt den Kneifer mitten durch: "Hallo, Knochen!" - konnte er noch rufen, wie ein Schiffbrüchiger, der endlich Land erreicht, dann brach es los.

Fritz stürzte mit seinem Stuhl hintenüber und brüllte vor Lachen; der Vater warf sich auf Fritz und verdrosch ihn unter donnerndem Gelächter; die Mutter aber gluckste nur einmal schmerzlich auf und griff mit beiden Händen in das Mirabellenkompott. Herr Stöhr aber hatte vollkommen den Zusammenhang mit seiner Umwelt verloren. Ihm war es klar, daß die ganze Familie auf einmal wahnsinnig geworden war. In langen Sprüngen stürzte er zur Tür.

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