Seminar für allgemeine pädagogik


Zur Verlaufsstruktur des Kommunikationsgeschehens



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1.4 Zur Verlaufsstruktur des Kommunikationsgeschehens


Die Geschichte beinhaltet einen Prozeß zunehmender kommunikativer Entfremdung zwischen dem Gast, Herrn Stöhr, und der gastgebenden Familie Farnbühler während des gemeinsamen Mittagessens. Im Folgenden wird die Verlaufsstruktur der Handlungs- und Kommunikationssequenzen dargestellt.

  1. Herr Stöhr nimmt auf Grund seiner Kurzsichtigkeit versehentlich ein riesengroßes Bratenstück auf den Teller, ohne dies zu bemerken.


1. Die Familie sieht dies, sieht aber auch, daß Herr Stöhr dies nicht sieht; sie will ihm die Peinlichkeit ersparen, daß er seinen Fehler bemerkt.

Folge: Frau F. beginnt eine Konversation, die von dem Fauxpas ablenken soll. Dadurch werden Inhalt und Form der Mitteilung „unnatürlich“.

Sohn Fritz kann diese - von den Eltern zur Wahrung der Höflichkeit inszenierte - Kommunikation nicht mitvollziehen, er wird „blaurot“ und bläst „vor Lachen die Backen auf“.







Die Familie sieht dies, sieht aber auch, daß Herr Stöhr dies nicht sieht und bemerkt; will ihm auch die Peinlichkeit ersparen, daß er dies bemerkt. Folge: Die Gespräche, die ablenken sollen, werden „unnatürlich“. (Kommunikattion+Metakommunikation)

Sohn Fritz kann aber auf Grund seiner Einsicht, die 2. Ebene der Kommunikation nicht mitvollziehen, er wurde blaurot“ und blies vor Lachen die Backen auf“)



2. Herr Stöhr bemerkt die Unnatürlichkeit der Situation nicht, verbleibt auf der Kommunikationsebene des behaglich plaudernden Gastes (Erbsen „sind mein Lieblingsgemüse!“).

2. Verzweifelt versuchen die Eltern, ihren Sohn von einer unangemessenen (den Gast verletzenden) Reaktion abzuhalten - sind sich aber selbst der Komik der Situation bewußt.







3. Steigerung: Die Erbsen prasseln auf das Tischtuch; Herr Stöhr merkt immer noch nichts: er wird mit seinem Fleischstück nicht fertig; sein Kneifer rutscht; Herr Stöhr zerschneidet den Kneifer: „Hallo, Knochen!“

3. Fritz kann sich vor Lachen nicht mehr halten und stürzt hintenüber; die Eltern reagieren so, daß ein Unbeteiligter an ihrer Normalität zweifeln muß: Der Vater verdrischt den Sohn unter donnerndem Gelächter; die Mutter greift mit beiden Händen in das Mirabellenkompott.







4. Herr Stöhr vermeint zu erkennen, daß in dieser Familie der Wahnsinn ausgebrochen sei; er stürzt zur Tür.










Versuchen wir, Antworten auf die beiden folgenden Fragen zu finden: Wer ist „normal“ geblieben in dieser Situation? Hätte diese „pathologische“ Form der Kommunikation vermieden werden können? Wenn ja, an welchem Punkt? Die größten Chancen für eine Korrekturmöglichkeit bestanden vermutlich ganz am Anfang des Geschehens.

Die Frage nach der Normalität („Wer ist normal geblieben?“) läßt sofort eine noch grundsätzlichere Frage aufkommen: Was heißt überhaupt „normal“? Offenbar war die Definition von Normalität zu Beginn des Mittagessens für beiden Seiten, seitens Herrn Stöhr und seitens der Familie Farnbühler, kein Problem. „Ein Geschäftsfreund des Hausherrn als Gast am Mittagstisch der Familie“ ist eine Standardsituation, deren Verhaltensregeln nichts Ungewöhnliches darstellen bzw. bekannt sind.

Wo tritt der erste Konflikt auf? Herr und Frau F. sehen sich einem Konflikt ausgesetzt, als Herr Stöhr das unverhältnismäßig große Fleischstück auf seinen Teller hievt. [Zugegeben: der Mann muß fast blind gewesen sein, wenn er nicht sah, was er sich da angetan hat, aber glauben wir das einfach dem Autor!]. Insbesondere die Hausfrau, Frau F., hat sich innerhalb von Sekundenbruchteilen zu entscheiden: Ist es „normal“, Herrn Stöhr dem Fleischkoloß zu überlassen, oder ist es „normal“, einzuschreiten und freundlich darauf aufmerksam zu machen, daß hier ein „Ver-sehen“ vorliege, das aber leicht zu korrigieren sei? Zu Bedenken sind die Folgen für das Handeln oder Nichthandeln. In jeder anderen Situation innerhalb der Familie würde die Hausfrau sofort interveniert haben. Hier aber war ein fremder Gast anwesend, der eine bestimmte Form von Öffentlichkeit herstellt, dem Respekt und Gastfreundschaft zuzugestehen ist.

So stürmten - nehmen wir das einmal an - auf Frau F. bei der Übernahme des Bratenstücks durch Herrn Stöhr mehrere Fragen gleichzeitig ein: Was muß Herr Stöhr von mir denken, wenn ich seine Entscheidung korrigiere? Diese Überlegung wird durch eine zweite überlagert: Was muß Herr Stöhr denken, wenn er die Peinlichkeit seines Handelns auf Grund meines Eingreifens erkennt? Das hat bei Frau F. schließlich die dritte Überlegung - und die Entscheidung - zur Folge: Er darf überhaupt nicht in die Situation kommen, diese Peinlichkeit zu bemerken - also schnell Konversation gemacht! Da es für diese Konversation keine sachlichen Gründe gab, sondern nur noch das Bemühen dahinterstand, Herrn Stöhr die selbst verursachte Blamage zu ersparen, mußte der Gast der Familie F. über kurz oder lang merken, daß irgend etwas im Verhalten seiner Gastgeber nicht stimmte. Denn mit dem Hören - der akustischen Wahrnehmung, also dem Was und dem Wie des Gesprochenen - hatte Herr Stöhr keinerlei Schwierigkeiten! Die immer absonderlich werdenden Inhalte der Kommunikation („ja, ja, der gute alte Mond - und die Säuglingsfürsorge!“) fand in dem immer absonderlicher werdenden Ausdrucksverhalten der Familie F. („ha ha ha - zum Kugeln!“) eine Bekräftigung der Sinnlosigkeit des Gespräches. Das bei aller Sinnlosigkeit der Gesprächsinhalte jedoch keineswegs heitere, sondern nervös-angestrengte Lachen der Familienmitglieder ließ etwas Unaufgeklärtes ahnen, dem Herr Stöhr im Hinblick auf den Respekt vor der Gastgeberfamilie aber nicht nachging, Seine Reaktion beschränkte sich auf ein leichtes Erstaunen.

Insbesondere das Verhalten von Sohn Fritz mußte in Herrn Stöhr allmählich das Gefühl aufkeimen lassen, daß er sich in einer absonderlichen Situation befinde. Allerdings: Der Junge zeigte angesichts des Fleischberges auf dem Teller des Gastes ein Verhalten, wie es für Kinder typisch ist: spontan reagierend, das Komische erkennend und nicht mehr fähig, den Benimmregeln der Eltern Genüge zu tun. Damit eröffnete sich für Herrn und Frau F. gleichsam eine Doppelfront von Kommunikationszwängen mit jeweils unterschiedlicher Problemlagen - hier Fritz, der im Zaum gehalten mußte, dort Herr Stöhr, der nichts merken sollte. Das konnte nicht gut gehen.

Die Amputation des Kneifers, die Herr Stöhr nicht bemerkte [auch dies sei dem Autor ausnahmsweise geglaubt!], war dann der entscheidende Schritt, der das tumultuarische Ende des gemeinsamen Mittagessens einleitete: Herr Stöhr konnte nicht sehen, was Familie F. sah. Was Familie F. im Umkreis des Tellers von Herrn Stöhr wahrnahm, veranlaßte alle drei Familienmitglieder zu - individuell unterschiedlichen, insgesamt aber jeden Normalitätsbegriff sprengenden - Reaktionen, die jedem unbeteiligten Beobachter, der nur die Mitglieder der Familie F. betrachtete, das Urteil abverlangen mußte: „völlig verrückt geworden!“ Dergestalt reagierte Herr Stöhr und entfloh.



Fazit: Wer hier „normal“ blieb, muß offen bleiben. Oder aber: jeder blieb auf seine Weise normal. Beide Parteien entfernten sich im Fortgang der Ereignisse immer stärker von einem gemeinsam getragenen Verständnis von Normalität, Herr Stöhr und Familie F. entwickelten jeweils eigene soziale Wirklichkeiten, die bei Herrn Stöhr auf Grund geringer visueller Wahrnehmung starken Einschränkungen in der optischen Wahrnehmung unterlag und bei Familie F. gebrochen war durch das Erkennen der situativen Komik bei gleichzeitigem Bemühen, dies zum Schutz des Gastes nicht zum Ausdruck bringen zu wollen. Das führte bei Familie F. zu einer Reihe von Reaktionen, die in ihrer Hilflosigkeit und Unangepaßtheit eine solche Eigendynamik entfalteten (nicht zuletzt durch die gezielten Aktionen von Sohn Fritz), daß das Verhalten seiner Gastgeber für Herrn Stöhr nur noch als unverständliche und bedrohliche Groteske interpretierbar war.

Im Fortgang der Darstellung verschiedener Kommunikationskonzeptionen wird theoretisches Rüstzeug zur Verfügung stehen, das eine Vertiefung der Einsicht in die Kommunikationsstruktur der Geschichte „Das Roastbeef“ erlaubt.



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