Seminar für allgemeine pädagogik


Ethnomethodologie (Harold Garfinkel)



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2.3 Ethnomethodologie (Harold Garfinkel)


Literatur

Patzelt, Werner J.: Grundlagen der Ethnomethodologie. Theorie, Empirie und politikwissenschaftlicher Nutzen einer Soziologie des Alltags. München 1987.

Weitere Literatur

Flynn, P.J.: The ethnomethodological movement. Sociosemiotic Interpretations. Berlin (de Gruyter) 1991.

Garfinkel, Harold: Studies in Ethnomethodology. London (Prentice Hall) 1967.

2.3.1 Was heißt Ethnomethodologie?


Ethnomethodologie ist ein aus der sog. „verstehenden“ Soziologie entwickelter spezieller Forschungsansatz, der die Alltagsroutinen und Formen der Alltagskommunikation von Personen bzw. Gruppen untersucht.

Begründer und Hauptvertreter der „verstehenden“ Soziologie war Alfred Schütz (1899-1959), der, in Wien geboren, bei Edmund Husserl studierte, während des Dritten Reiches in die USA emigrierte und ab 1943 bis zu seinem Tod an der New Yorker School for Social Research lehrte. Schütz’ „verstehende“ Soziologie ist durch eine auf Husserl zurückgehende phänomenologisch-lebensweltliche Grundauffassung gekennzeichnet. Nicht die abstrakte Gesellschaft, sondern die in einer bestimmten Lebenswelt handelnden Personen, nicht die quantifizierend arbeitende Wissenschaft, die Gesellschaft erklärt, sondern das „Verstehen“ der Handlungen von Individuen in ihren sozialen Lebenszusammenhängen war der Ausgangspunkt seiner Soziologie.

Der Begriff Ethnomethodologie wurde 1954 von Harold Garfinkel geprägt. Garfinkel war Student bei Alfred Schütz und Doktorand von Talcott Parsons (dem bekannten Soziologen). Garfinkel, der zur Ethnomethodologie durch eine radikale Kritik an Parsons Handlungstheorie fand, lehrte seit 1954 an der University of California in Los Angeles (heute emeritiert). Zu den führenden Ethnomethodologen der Gründerzeit gehören - neben Garfinkel - Aaron V. Cicourel und Harvey Sacks (vgl. Flynn 1991, S. 38 f.).

Nach ethnomethodologischer Auffassung ist die soziale Wirklichkeit ein Konstrukt - Inbegriff der als „vernünftig“ bezeichneten Rede- und Handlungsweisen, die dem Menschen im Alltag soziale Stabilität verleihen. Die Ethnomethodologie untersucht die Produktionsformen, Balancen, Gefährdungen und Praktiken dieser Konstrukte, die jeweils an gruppenspezifische („ethniebezogene“) Kontexte und bestimmte Methoden der situativen Bewältigung sozialer Wirklichkeit gebunden sind. Ins Deutsche übersetzt würde der Begriff „Ethnomethodologie“ etwas umständlich, aber genau, heißen: Lehre der Methoden zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit - einschließlich Aufrechterhaltung, Infragestellung und Destruktion innerhalb sozialer Gruppen [Ethnien].

Im Mittelpunkt ethnomethodologischer Forschung steht die Analyse und Aufdeckung der Prozeduren, mit denen im kommunikativen Prozeß die interagierenden Personen sich in einer bestimmten Situation des gemeinsamen Sinnzusammenhangs dieser Situation versichern. Dies geschieht im Alltag so, daß sich die agierenden Personen durch wechselseitige Wahrnehmung ihrer Mimik und Gestik die Vernünftigkeit ihrer Rede und die Wertschätzung des Gesprächspartners beständig indirekt bestätigen, wobei sie sich der impliziten Sinnbestätigung ihrer Kommunikation nicht bewußt sind.

Der ethnomethodologische Forscher kommt zu seinen Ergebnissen unter anderem, indem er Alltagssituationen der kommunizierenden (Versuchs-)Personen in Frage stellt, verfremdet, so daß der als gültig angesehene „Sinn“ der Situation und die Hintergrunderwartungen der Handelnden plötzlich in Frage gestellt sind und das Konstrukt brüchig wird. Für den ethnomethodologischen Forscher sind Alltagssituationen besonders interessant, in denen es zu unvorhergesehenen Mißverständnissen und Konflikten kommt.

Die Ethnomethodologie ist weit entfernt von einem behavioristischen, marxistischen oder strukturfunktionalistischen Ansatz (im Sinne von T. Parsons). Sie ist an quantitativer Forschung (Berechnung von Durchschnittswerten, Prüfung von Mittelwertdifferenzen mit Hilfe statistischer Tests) wenig interessiert. Es dominieren vielmehr qualitative Forschungsmethoden (Beobachtung, Protokollierung, Befragung) sowie Methoden der situativen Verfremdung und experimentellen Beeinflussung.

2.3.2 Einige Begriffe und Befunde der Ethnomethodologie


Im Zuge der Ausdifferenzierung des ethnomethodologischen Forschungsansatzes führten verschiedene Forscher eine Vielzahl von neuen Begriffen ein. Im folgenden werden nur Indexikalität sowie die Stabilität bzw. Fragilität der Wirklichkeitskonstruktionen des Normalen behandelt.

Indexikalität: Ein zentraler Begriff der ethnomethodologischen Analyse der Wirklichkeitskonstruktion und der davon abgeleiteten Theorie der Alltagskommunikation ist die Indexikalität von sprachlichen Zeichen, d.h. von Worten und Redewendungen.

Die Eigenschaft eines Zeichens, innerhalb der Wissensbestände von Mitgliedern einer Ethnie auf vielfältige Kontexte hinzuweisen, wird ‘Indexikalität’ genannt; ein diese Eigenschaft aufweisendes Zeichen ist ein ‘indexikales’ Zeichen. (Patzelt 1987, S. 61)

Das bedarf der Erläuterung: Die Wissensbestände einer Ethnie (= Gruppe derselben soziokulturellen Zugehörigkeit) beziehen sich auf vielfältige Bedeutungen und situative Kontexte des Alltags. Diese Kontexte und Bedeutungen sind durch sprachliche und nichtsprachliche Zeichen erschließbar. Die Zeichen sind in mehr oder minder komplexen Codes organisiert („Ethnocodes“). Die Beherrschung des jeweils situations- und gruppenspezifischen Codes ist eine kommunikative Grundkompetenz, die der Mensch im Laufe seiner Sozialisation erwirbt. So gesehen ist Indexikalität eine fundamentale Eigenschaft von Zeichen, die die Steuerung komplexer Kommunikation ermöglicht.

Aufgabe: Suchen Sie Beispiele für indexikalische Zeichen in unserer Sprache!

Zum Verständnis des Begriffes Indexikalisieren bzw. Entindexikalisieren sei das folgende Zitat vorangestellt:

Zeichen so zu verwenden, daß die Interaktionspartner möglichst wenig Schwierigkeiten haben, ihre gemeinsame Bedeutung zu erschließen und von anderen benutzten Zeichen situativ korrekt zu ent-indexikalisieren, ist offenbar eine zentrale Aufgabe wirklichkeitskonstruktiven Handelns: nur wenn sie routinemäßig gut erfüllt wird, kann jene Kommunikation gelingen, von der die Konzertierung [=das Aufeinanderabstimmen] von Sinndeutungen und Handlungen abhängt. Fehlerhafte Zeichenverwendung und fehlerhafte Entindexikalisierung bringen grundsätzlich den Mitgliedsstatus in Gefahr und stören die Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion (Patzelt 1987, S. 62).

Indexikalität läßt sich in den verschiedensten sprachlichen Kontexten nachweisen. Einige Beispiele, die ich aus eigener Anschauung gebe, sind:



  • die Begriffe „cool“ und „geil“ in der Sprache von Jugendlichen;

  • der Begriff „Relevanz“, die Redewendung „Wenn ich recht sehe...“ in der Sprache von Wissenschaftlern;

  • Das „Dümpeln“ von Segelschiffen im Hafen (in der Sprache des Wochenmagazins DER SPIEGEL);

  • Die Wendung „Ich gehe davon aus, daß ...“ in der öffentlichen bzw. politischen Rhetorik;

  • Die Wendung „Wie geht es Ihnen?“ oder der Terminus „Unpäßlichkeit“ in der Alltagssprache.

Eine stark indexikalische Redeweise zwischen den Kommunikanten ist Ausdruck von Stärke und Selbstgewißheit, d.h. es existiert ein hoher Grad an Übereinstimmung der kulturellen Kontexte und der zu Grunde liegenden Wirklichkeitskonstruktionen.

Immer wenn sprachlicher Ausdruck mehrdeutig ist und in dieser Mehrdeutigkeit auch verstanden wird, ist der Sachverhalt der Indexikalität gegeben. Die Aussage „Bei mir liegen Sie richtig!“ ist ein guter Werbetext für ein Bettenhaus, schwerlich aber für ein seriöses Bestattungsunternehmen. Die professionelle Entsorgung der Toten darf schließlich nicht der Ironie ausgesetzt sein. In anderem Zusammenhang kann der Satz sehr wohl ironisch auf den Tod anspielen. Tatsächlich wurden die Worte „... denn bei mir liegen Sie richtig!“ in den sechziger Jahren in einer Serie von Kurzfilmen zur Aufklärung vor den Unfallgefahren im Alltags- und Berufsleben benutzt - als Schlußpointe des Hauptdarstellers, „der in der Rolle eines Chirurgen oder Bestattungsunternehmers damit auf den Operationstisch oder gar den Sarg anspielte“ (wie der Duden-Jahreskalender „Geflügelte Worte & flotte Sprüche“ für den 9./10. Januar 1999 erläutert).

Hohe Indexikalität bedeutet nicht nur vielfältige Verwendungsmöglichkeit, sondern auch inhaltliche Leere, wie sie typisch ist für die Sprache von Experten aus Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. In deren Sprache wimmelt es nur so von Ausdrücken wie „Ressourcen“, „Grundbedürfnissen“, „Wachstum“, „Modernisierung“, „Modell“, „Lebensstandard“, „Zukunft“, „Funktion“, „Faktor“ usw. Uwe Pörksen spricht in diesem Zusammenhang von „Plastikwörtern“, die über den Einfluß der Medien in unsere Alltagssprache eingedrungen sind (vgl. Pörksen 1989, S. 41).

Stabilität und Fragilität der Wirklichkeitskonstruktion: Standardsituationen des Alltags wie „Begrüßung auf der Straße“ „Dienstbesprechung“ oder „als Gast beim Mittagstisch der Familie F.“ bieten allen Beteiligten ein hohes Maß an Sicherheit auf Grund der in vielen Wiederholungen eingeschliffenen Vorerwartungen - so wie dies G.H. Mead in seiner Theorie des Symbolischen Interaktionismus und Watzlawick mit dem Begriff der „Redundanz“ andeuteten. In ähnlichen Situationen wächst die Wahrscheinlichkeit, daß das Verhalten sich dem in früheren Situationen gezeigten Verhalten ähnelt. Ethnomethodologen haben darüber hinaus versucht herauszufinden, wie Menschen reagieren, wenn die (normalerweise unzweifelhafte) Erwartung von A bezüglich der üblichen Reaktion von B plötzlich nicht eintrifft.

Eine solche außergewöhnliche Situation wurde von Garfinkel in einem Experiment hervorgerufen, indem der Experimentator (E) bei einer Begegnung mit einem Bekannten (dem unfreiwilligen Probanden P) auf die - normalerweise nicht hinterfragte - Mitteilung oder Begrüßungsformel mit einer differenzierenden Nachfrage reagierte. Die Ungewöhnlichkeit dieses Verhaltens bewirkte, daß der jeweilige Proband nicht selten die Fassung verlor und an der Normalität des Gesprächspartners zweifelte. Im folgenden zwei besonders drastische Beispiele:



Beispiel 1

(Der - ahnungslose - Proband berichtet dem ‘Experimentator’, er habe auf dem Weg zur Arbeit eine Reifenpanne gehabt).

P: Ich hatte eine Reifenpanne.

E: Was willst du damit sagen: ‘Ich hatte eine Reifenpanne’?

P: (blickt einen Augenblick lang fassungslos und antwortet dann verärgert:) Was willst du sagen mit: was willst du damit sagen’? Eine Reifenpanne ist eine Reifenpanne. Genau das wolle ich sagen. Weiter nichts Besonderes. Was für eine verrückte Frage! [...]

Beispiel 2

(Der - ahnungslose - Proband hebt die Hand zum Gruß).

P: Wie geht es dir?

E: Wie geht es mir in welcher Hinsicht? Meinst du meine Gesundheit, meine Finanzen, meine Arbeit, meinen Gemütszustand, meine ...

P: (wird rot im Gesicht und verliert die Beherrschung:) Hör mal gut zu! Ich wollte bloß freundlich zu dir sein. Aber offen gesagt: es ist mir völlig egal, wie es dir geht! (Garfinkel, zit. nach Patzelt 1987, S. 181)

Das indexikalische Zeichen bei Begegnungen - „Wie geht es?“ - ist bei A mit der sicheren Erwartung verkünpft, daß B auf Grund des gemeinsamen Vorrats an Alltagswissens dieses Zeichen sofort in seiner allgemeinen Funktion verstehen (entindexikalisieren) kann, ohne daß eine Nachfrage erfolgt. Die genaue Nachfrage zerstört den gemeinsamen Kontext des Selbstverständlichen, macht die scheinbar stabile Wirklichkeitskonstruktion plötzlich fragil.



Beispiele: Das international allbekannte „Wie geht’s?“ kann unter Umständen zur Beziehungsfalle für denjenigen werden, dem es gar nicht gut geht, der aber, so angesprochen, gezwungenermaßen antworten muß „gut!“ - weil dies einerseits die erwartete Antwort ist, andererseits der Ärger so tief sitzt, daß man zumindest in diesem Moment gegenüber dieser Person nicht berichten will, was einem widerfahren ist. Mit dem hochindexikalischen Begrüßungsritual „Wie geht’s?“ kann in einer Zweierbeziehung auch Macht ausgeübt werden, wenn die Frage immer nur von A gestellt wird und B nichts anderes übrig bleibt, als ständig zu sagen „gut!“, wobei B sich maßlos darüber ärgert, daß A ihm/ihr mit dieser Frage wieder einmal zuvorkam. Wenn die Begrüßungsformel „Wie geht’s?“ im Alltag nicht die Chance hat, von jedem gestellt zu werden, schafft sie eine Grenze. Der Chef sagt leutselig zum Lehrling: „Wie geht’s?“ Aber es entspricht keineswegs dem erwarteten Verhalten des Lehrlings, wenn dieser seinerseits den Chef mit dieser Frage begrüßt.

Aufgabe: Falls Sie bei einem Arzt ambulant in Behandlung sind, können Sie in die Rolle des Ethnomethodologen schlüpfen, indem Sie nach dem wechselseitigen „Guten Tag!“ unmittelbar anchließend das mit dem Arzt tun, was er sonst mit Ihnen tun würde - fragen: „Wie geht es Ihnen?“

Das Erstaunen über die Umkehrung der Frage zeigt, wie stark sie an jener Wirklichkeitskonstruktion rüttelt, die im Alltag im Zusammenhang eines spezifischen, funktionsabhängigen Kontextes (hier die Beziehung Arzt - Patient) steht - wobei Reversibilität in der Regel nicht gestattet ist. Denn der Patient hat sich dem Arzt in vollem Umfang als Person anzuvertrauen; umgekehrt hat der Arzt als Person nicht in den Aufmerksamkeitshorizont des Patienten zu treten. Das Gesagte gilt ebenso für das Verhältnis Klient - Berater in allen Situationen professioneller Therapie und Beratung.

Ein gutes Beispiel für das Zerbrechen einer gemeinsamen Wirklichkeitskonstruktion bietet unsere oben analysierte Geschichte „Das Roastbeef“. Herr Stöhr versteht das Verhalten seiner Gastgeber im Verlauf des Mittagessens zunehmend weniger. Wie versucht er, den Glauben an die Richtigkeit seiner Wirklichkeitskonstruktion aufrechtzuerhalten? Dadurch, daß er zunächst die Konversation unbefangen, aber im Hinblick auf das ihm immer unverständlich erscheinende Verhalten der Familie Farnbühler freilich mit immer größeren Erstaunen und Unbehagen fortsetzt,. Auf dem Höhepunkt des Geschehens bricht sein Konstrukt von „Normalität“ zusammen. Die Unverständlichkeit der Reaktionen der Gastgeber zwingt ihn zu dem Schluß, daß die Familie wahnsinnig geworden sein müsse. Die damit ausgelösten Ängste zwingen ihn zur Flucht.

Ein letztes Beispiel ethnomethodologischer Forschungspraxis entnehmen wir Patzelt (1987, S. 219 ff.), der ausführlich eine Untersuchung von Joan P. Emerson referiert. Es handelt sich um die Standardsituation „gynäkologische Untersuchung“, die von Emerson anhand der Beobachtung vieler derartiger Untersuchungen in einem Krankenhaus ethnomethodologisch erforscht und ausgewertet wurde: Wie wird die gedankliche Konstruktion der Normalität. einer solchen Situation von den Beteiligten (Arzt, Schwester, Patientin) hergestellt bzw. aufrecht erhalten?

Es gibt wechselseitig vorhandene Wissens- und Erfahrungsbestände, die die Beteiligten von vornherein mitbringen, wobei Arzt und Schwester die entscheidende Rolle spielen; An ihnen liegt es, nicht nur den Eindruck einer „normalen“ medizinischen Untersuchung, sondern auch den Eindruck absoluter Korrektheit des Untersuchungsvorganges zu vermitteln. Ihre Situationsdefinition ist vor allem dann entscheidend, wenn eine Patientin Verlegenheit, Hemmungen oder auch ein stark exaltiertes Verhalten zeigt. Indizien für den Eindruck der Normalität sind die sowohl sprachlich als auch im Zusammenwirken von Arzt und Schwester handlungskompetent durchgeführten professionellen Routinen. Darüber hinaus spielt das gesamte szenische Arrangement eine Rolle: Die Anmeldung, das Warten und Aufgerufenwerden im Wartezimmer, die mit medizinischen Ausdrücken angereicherte Kommunikation zwischen Arzt und Schwester, die Vermeidung von umgangssprachlichen, aber auch „technischen“ Ausdrücken bei der Bezeichnung der untersuchten Körperteile der Patientin. Entscheidend dafür, daß die Patientin der Situationsdefinition des Normalen und Angemessenen vertrauen kann, ist die vom Arzt herzustellende Balance, einerseits die Würde der Patientin durch persönliche Anteilnahme zu achten, ohne in den Verdacht geraten zu können, zudringlich zu sein, andererseits mit der entfalteten professionellen Routine die Patientin nicht zum bloßen Untersuchungsobjekt zu degradieren. Besteht auf Grund von unangemessenem Verhalten der Patientin im entferntesten die Gefahr, daß die Normalität der Situation in Frage steht, besitzen Arzt und Schwester durch ihre aufeinander abgestimmte Kommunikation (nonverbal z.B. durch entsprechende Blickkontakte) eine relativ große Macht, die Situation stabil zu halten.

Ich erwähne diese Untersuchung auch deshalb, weil sich für die pädagogisch-psychologische Standardsituation „Beratung“ interessante Parallelen ergeben. Studierende sollten neben den erlernten Wissensbeständen über Beratungsmodelle, angemessenes Beratungsverhalten und Beratungstechniken ebenso informiert sein wie über die Indizes und möglichen Gefährdungen dieser Situation als „Wirklichkeitskonstruktion der Beteiligten“; ethnomethodologische Forschung liegt über diesen Bereich kaum vor.



Erläuterungen

Phänomenologie ist die von dem Philosophen Edmund Husserl (1859-1938) philosophische „Lehre von den Erscheinungen“, eine der einflußreichsten philosophischen Strömungen im 20. Jahrhundert. Die Phänomenologie klärt, wie die Welt dem Menschen zum Bewußtsein kommt und wie sich dabei der Mensch seiner selbst bewußt wird.

Lebenswelt: ein vom späten Husserl in den dreißiger Jahren geprägter Begriff, der eine gegenüber dem objektiv-wissenschaftlichen Weltbegriff vorgeordnete Sphäre des intersubjektiv erfahrbaren konkreten Weltzusammenhangs meint. Die Orientierung des Menschen im konkreten Lebensvollzug (Alltag) vollzieht sich in einem überschaubaren Lebenskreis, ist subjektbestimmt (nicht von objektiver Erkenntnis geleitet) und ist praktisch (nicht theoretisch) ausgerichtet. Die „lebensweltliche Orientierung“ der Sozialwissenschaften Psychologie, Soziologie, Pädagogik) bedeutete eine „Wende zum Subjekt“ und zur Alltagserfahrung - bei gleichzeitiger Abkehr von einer Wissenschaftsprogrammatik nach dem Modell der Naturwissenschaften, wie sie z.B. in der behavioristischen Psychologie stark dominiert.

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