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kapitalistischen „capture“ anheim gegebenen grauen Alltag. Das ist das hippie’esque
Moment: Bruch
mit allem Etablierten, Organisierten, Alltäglichen; auch im Stil, im Gestus
eine Wagenburg der Gegenkultur (jedenfalls dem Anspruch nach).
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Durchgängig und zuletzt nochmals verstärkt zielt Massumi mit seinen Überlegungen zum
Affekt auf Analysen und Interventionen im Feld des Politischen. Offenbar versteht er seine
affekttheoretische Arbeit als primär politisch motiviert, während er seine intellektuelle
Haltung selbst unlängst als aktivistisch bezeichnet hat (vgl. Massumi 2011). Das ist zwar
einerseits im Sinne eines breiteren intellektuellen Aktivismus gemeint, der nicht zuletzt auch
künstlerische Aktivitäten und Haltungen umfasst, und somit primär als Form intellektueller
Tätigkeiten zu deuten ist, hat aber zudem den Anspruch, Interventionen in lebensweltliche
Macht- und Herrschaftskonstellationen anzuregen und anzuleiten.
Thematisch und theoretisch war eine politische Orientierung bereits in „The Autonomy of
Affect“ angelegt. Der Artikel schließt mit einem Abschnitt zu Ronald Reagans affektiver
Wirkkraft, die dem conventional wisdom politiktheoretischer Analysen der damaligen Zeit
deutlich zuwider lief. Der republikanische US-Präsident Ronald Reagan (im Amt von 1980-
1988) sei sowohl inhaltlich, rhetorisch als auch hinsichtlich seiner körpersprachlich-
gestischen Repertoires kaum mehr als eine Witzfigur gewesen, so Massumis durchaus heftige
Zuspitzung. „He was nothing, an idiocy musically coupled with an incoherence“ (Massumi
1995, S. 102). Woher rührte dann aber seine durchschlagende populäre Wirkung? Massumi
verweist auf die medialen Arrangements und Gewohnheiten im amerikanischen
Durchschnittshaushalt, und auf die unterschiedlichen sozialen Agenturen – Kirche, Familie,
Schulen, town halls, etc. –, die das Phänomen Reagan auf jeweils selektive Weise aktualisiert,
ihm lokal Wirksamkeit und Resonanz verschafft hätten. Massumis zentrale Überlegung dazu
liest sich so:
[Reagan] was an incipience. He was unqualified and without content. But the incipience that he
was, was prolonged by technologies of image transmission, and then relayed by apparatuses,
such as the family or the church or the school or the chamber of commerce, which in
conjunction with the media acted as part of the nervous system of a new and frighteningly
reactive body politic. It was on the receiving end that the Reagan incipience was qualified,
given content. Receiving apparatuses fulfilled the inhibitory, limitative function. They selected
one line of movement, one progression of meaning, to actualize and implant locally. That is
why Reagan could be so many things to so many people; that is why the majority of the
electorate could disagree with him on every major issue, but still vote for him. (Massumi 1995,
S. 103)
Man könnte Reagan also im Sinne von Massumis Affekt-Verständnis selbst als eine Art
vermenschlichten Affekt bezeichnen. Unerlässlich dafür, dass jemand wie Reagan als Affekt
wirksam werden kann, sind jedoch die komplexen apparativen Arrangements, die diesen
eigenartigen Polit-Darsteller mit konkreten medialem und sozialen Milieus verschalten –
hochspezifische Gefüge, die nicht primär propositionale Botschaften und ideologische
Gehalte transportieren, sondern charakteristische affektive Stimmungslagen und Atmosphären
erzeugen, mit milieu-spezifischen Eigenheiten, so dass sich eine einheitliche
Gesamtformation kaum ausmachen lässt. Klassische Ideologie-Analysen reichen nicht hin,
weil sie solche lokalen Agenturen und Ensembles der Affekt-Genese und Affekt-
Maschinierung nicht in den Blick bekommen und somit auch nicht sehen, dass es sich nicht
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Dass sich ein solcher Stil inzwischen zum Mainstream der kalifornischen Start-Up- und IT-Kultur entwickelt
hat und insofern kaum mehr als gegenkulturell gelten kann, steht auf einem anderen Blatt (vgl. Turner 2006).
Der Lifestyle-Deleuzianismus hat sein kritisches Potenzial weitgehend eingebüßt. Davon wird an anderer
Stelle ausführlicher zu handeln sein (vgl. auch Mühlhoff, im Erscheinen).
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primär um Vorgänge im Register der Signifikation oder diskursiven Gehalte handelt. Das
Phänomen „Ronald Reagan“ war Kristallisationsfigur einer
komplexen Affekt-Maschinerie,
eines affektiven Arrangements bzw. agencements, das nur in dieser Spezifik seine Wirkungen
entfalten konnte.
Ich referiere diese Überlegungen auch deshalb etwas ausführlicher, weil hier die analytische
Schlagkraft von Massumis Ansatz über die vielen eher abstrakten, metaphysischen oder
theorie-politischen Ausführungen hinaus deutlich wird. Freilich bleibt just die hierbei
entscheidende Theoriestelle – die Idee komplexer, distribuiert implementierter affektiver
Arrangements, die lokalspezifische Wirksamkeiten affektiven Dynamiken sicher stellen –
ansonsten bei Massumi unterbelichtet.
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Hier liegt eine strukturelle Schwachstelle von
Massumis Ansatz: die ontologische Ebene, auf der von Affekt immer wieder bloß
abstrakt als
reine Prozessdynamik gehandelt wird, bleibt privilegiert gegenüber den konkreten
Organisationsformen und Arrangements, in denen sich relationaler Affekt de facto vollzieht.
Lawrence Grossberg – selbst ein Pionier der kulturwissenschaftlichen affect studies – legt den
Finger in die Wunde, wenn er Massumi und andere dafür kritisiert, diesen Unterschied zu
überspringen – „
there is a leap from a set of ontological concepts to a description of
an
empirical and affective context“
(Grossberg 2010, S. 314) – und somit konkrete Analysen der
lokalen, materiellen „Maschinierungen“ von Affekt weitgehend zu unterlassen.
Grossbergs Kritik, bei gleichzeitiger Anerkennung des großen Potenzials, das Massumis
affekttheoretischer Ansatz in diese Richtung trotz allem bereit hält, verweist uns sehr direkt
ins Feld der zweiten intellektuellen Haltung der Affekt-Studien – der Haltung der empirischen
Sozialforscherin, hier repräsentiert durch Margaret Wetherell. Lassen sich die Einsichten in
die Relevanz und Wirkungsvielfalt dynamisch-prozessualer Affektivität in ein
sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm verwandeln? Wäre eine solche
forschungspragmatische Ausrichtung noch mit Massumis metaphysischer und stilistischer
Orientierung vereinbar, oder liegt zwischen diesen Haltungen unweigerlich ein Bruch?
3.2. Margaret Wetherell – die Forscherin
Die Sozialpsychologin Margaret Wetherell ist als Methodenexpertin im Bereich der
Diskursanalyse ausgewiesen. Für die hier verfolgten Zwecke vor allem einschlägig ist ihr
2012 erschienenes Buch Affect and Emotion: A New Social Science Understanding, mit
welchem sie einen umfassenden kritischen und rekonstruktiven Kommentar zum affective
turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften vorgelegt. Ziel dieser Studie ist es, Affekt und
Emotion in ihrer vollen Komplexität und Dynamik als sozialwissenschaftliche
Forschungsgegenstände zu erschließen und eine Konzeptualisierung vorzuschlagen, die
empirische Untersuchungen von komplexem affektiven Interaktionsverhalten in
lebensweltlichen Settings ermöglicht (vgl. Wetherell 2012, S. 3).
Leitend dafür ist das Konzept der affective practice, mit dem Wetherell sich in die
praxeologische Tradition der Sozialtheorie einschreibt. Flankiert wird der konstruktive Teil
ihres Projekts von kritischen Analysen zu den kulturwissenschaftlichen affect studies. Hier
sieht Wetherell zwar eine wichtige Inspirationsquelle für eine auf dynamische, dramatische
und alltägliche Interaktionen abhebende Sozialtheorie, aber auch viele Probleme
konzeptueller und methodologischer Natur. Ein erklärter Gegner ist Brian Massumi, ebenso
wie Nigel Thrift, Patricia Clough und anderen in der von Deleuze und Guattari inspirierten
Theorielinie (vgl. Wetherell 2012, Kap. 3).
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Zur näheren Bestimmung des Begriffs des affektiven Arrangements vgl. Slaby, Mühlhoff & Wüschner
(
in Vorbereitung).