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des
Affizierens und Affiziert-Werdens, in deren Verlauf sich Entitäten
mit ihren jeweiligen
Eigenschaften herausbilden, konsolidieren, verändern und womöglich auch wieder auflösen.
38
Transponiert man diese metaphysische Perspektive in die Sphäre individueller Erfahrung und
interpersonaler Beziehungen, dann bezeichnet »Affekt« relationale Dynamiken im
Interaktionsgeschehen zwischen Personen, die sich als Intensitäten, Tendenzen und Potenziale
im Vorfeld der reflexiven Bezugnahme und außerhalb des sprachlich Kodierten abspielen.
39
Charakteristisch ist eine von Massumi vielfach variierte Abgrenzung gegen sprach- und
diskursorientierte Ansätze. So versteht Massumi auch Emotionen als die subjektive und
diskursive Einhegung (capture) – und damit tendenziell: Zurichtung, Stillstellung,
Vereinnahmung – von Affekt. Umgekehrt besitze Affekt das Potenzial, diskursive
Fixierungen und eingefahrene Verständnisse aufzubrechen und Transformationen anzustoßen.
Affekt steht für Potenziale, für das Virtuelle im Unterschied zum bereits auskonkretisierten
Aktuellen. Nicht zuletzt diese schematische und stark wertende Gegenüberstellung von
Emotion und Affekt hat Kritik provoziert, zumal es gelegentlich so klingt, als tendiere
Massumi zu einem kruden, körperlich-naturalen Verständnis von Affekt.
40
Wo liegt das politische Moment von Massumis Affektverständnis? In diagnostischer
Hinsicht kann der Begriff des Affekts helfen, Wirkweisen politischer Kommunikation und
Prozesse der Subjektivierung sichtbar zu machen. Hier zeichnet sich u.a. eine medienkritische
Perspektive ab – wie wird etwa über Terrorlagen oder über bestimmte Menschengruppen
berichtet? Welche Botschaften werden wie präsentiert, repetiert und dadurch amplifiziert?
Zugleich fungiert »Affekt« bei Massumi als Sehnsuchtsbegriff, der die Gegenwart
transformativer Potenziale selbst in den unauffälligsten Vollzügen des Alltags anzeigen soll;
»Mikropolitik« ist dafür das Stichwort (vgl. S. 47-82).
41
Bisweilen scheint es gar so, als wolle
Massumi eine »permanente Revolution« im Erleben, in der Wahrnehmung, im
Relationalgeschehens des Mit-Seins herbeischreiben. Man kann bemängeln – und das gilt
38
Instruktiv als aktualisierende Spinoza-Lektüre und mit Blick auf die Anschlussfähigkeit von Spinozas
politischer Philosophie ist S
AAR
:
Die Immanenz der Macht. Saar geht darin ausführlich auf den Status der
ontologischen Begrifflichkeit Spinozas und deren Aktualisierungspotenzial ein. Einige Abschnitte dieses Buchs
können direkt als Beitrag zur Diskussion um eine politische Affektivität gelesen werden, so etwa das Kapitel VI
»Über Bilder und Affekte«.
39
Eine in der Sache konstruktive Kritik an Massumis affekttheoretischer Spinoza-Deutung stammt von M
OIRA
G
ATENS
: »Affective Transitions and Spinoza's Art of Joyful Deliberation« in: A
NGERER
/
B
ÖSEL
/O
TT
(H
G
.):
Timing of Affect, S. 17-33.
40
Auch Mohrmann wendet sich en passant gegen Massumis Affektverständnis, dem sie – in einer allerdings
stark vereindeutigenden Lesart – cartesianische Tendenzen attestiert (vgl. S. 19 u. 192). Validere Kritik, gerade
auch an der politischen Mobilisierung von Affekt, übt C
LARE
H
EMMINGS
: »Invoking Affect:
Cultural Theory and
the Ontological Turn« in: Cultural Studies 19(5) (2005), S. 548-567.
41
Einschlägige Referenz ist hier das Kapitel »Mikropolitik und Segmentarität« aus G
ILLES
D
ELEUZE
/F
ÉLIX
G
UATTARI
:
Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1993; vgl. auch W
ILLIAM
C
ONNOLLY
:
Neuropolitics: Thinking, Culture, Speed, Minneapolis 2002.
20
zum Teil auch für Protevi – dass Massumi kein geschärftes Verständnis von Politik bzw. des
Politischen anbietet, sondern diese Dimension weitgehend im Ungefähren belässt.
42
Das Buch Politics of Affect besteht aus sechs Interviews, die Massumi zwischen 2002
und 2014 verschiedenen akademischen und künstlerischen Gesprächspartnern gegeben hat.
43
Die Gespräche umkreisen sein Affektverständnis und dessen theoretische Hintergründe, neue
Modalitäten von Macht, affektive Wirkungen neuer Medien, Kapitalismus und dessen Kritik,
Sprache und Erfahrung, die Potenziale der performativen Künste, kreatives Schreiben, das
Ungenügen klassischer Ideologiekritik, und vieles mehr. Wie in akademischen Interviews
üblich werden die Themen nicht in analytischer Tiefe adressiert. Politics of Affect lässt sich
daher vor allem dann mit Gewinn lesen, wenn zugleich Massumis frühere Monographien
studiert werden.
John Protevis Political Affect: Connecting the Social and the Somatic (2009) ist
demgegenüber eine Studie mit eigenständigem theoretischen Anspruch. Protevi verortet sich
im Theoriehorizont der Hauptwerke von Deleuze und Guattari, dem Anti-Ödipus und Mille
Plateaux, die er im Mittelteil von
Political Affect in erhellenden
Übersichten für Nicht-Kenner
aufbereitet.
44
Bei Protevi ist ein größeres Bemühen um Anschlussfähigkeit an aktuelle
Forschungskontexte erkennbar. So bezieht er sich etwa auf die kognitionswissenschaftlich
orientierte Philosophie des Geistes, insbesondere die 4E-Perspektive – the embodied,
embedded, enactive and extended mind. Anders als Massumi strebt Protevi eine Anbindung
an die interdisziplinäre Emotionsforschung an. Das ist ein Vorzug, denn damit demonstriert
er, wie der dynamisch-prozessuale Affekt-Begriff sich gerade als Präzisierung und
Intensivierung klassischer Emotionsanalysen bewähren kann.
Political Affect wäre allerdings als Arbeit zu Affekt und Emotionen im engeren Sinn
fehlbeschrieben. Protevi entwirft einen umfassenden Theorieansatz mit dem Ziel, die
Verfasstheit und Formierung von bodies politic – sozio-somatischer politischer Formationen –
auf den Ebenen Individuum, Gruppe sowie Population nachzuzeichnen. Bodies politic ist ein
gut gewählter Theoriebegriff. Einerseits wird damit ein Band zur Tradition der politischen
Ontologie von Machiavelli und Hobbes bis Carl Schmitt geknüpft; andererseits wird Subjekt-
bzw. Individuen-zentrierten Ansätzen der gegenwärtigen Forschung eine Kategorie
42
Es kann so scheinen, als diene das Wort »political« nur dazu, um in manchen Kontexten als emphatischere
Alternative für »social« zu fungieren. Letztlich fällt dann alles, was soziale Interaktionen, soziale Formationen,
soziale Problematiken betrifft, unterschiedslos unter diese Rubrik. Mohrmanns Diskussion von Arendts On
Revolution zeigt, wie zentral der Unterschied von »politisch« und »sozial« für die Frage nach politischen
Emotionen ist (vgl. S. 30).
43
Einige der Interviews sind vor einigen Jahren bereits in einem vom Merve-Verlag kompilierten Band auf
Deutsch erschienen: B
RIAN
M
ASSUMI
:
Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin 2010
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Auch Massumi hatte sich zu Beginn seiner Karriere als Deleuze/Guattari-Experte einen Namen gemacht, nicht
zuletzt als Übersetzer und Herausgeber der einflussreichen englischen Ausgabe von
Mille Plateaux.