Wörtliches Protokoll


Hatzl (unterbrechend): Sie haben noch eine Minute Redezeit. Abg Erika Stubenvoll



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Hatzl (unterbrechend): Sie haben noch eine Minute Redezeit.

Abg Erika Stubenvoll (fortsetzend): Ein Altern in Würde ist für viele nicht zu erwarten. (Abg Heinz Hufnagl: Trefflich heiraten ist angesagt!) Die Pensionsreform ist jedenfalls sozial unausgewogen, und das wissen die Arbeitnehmerorganisationen der ÖVP genauso wie wir alle. Es werden außerdem die erfolgreichen und richtigen Grundprinzipien der bisherigen Altersversorgung, der Generationenvertrag, demoliert. Eine große Gefahr sehe ich auch in der Abschaffung der vorzeitigen Alterspension: Das würde unzählige ältere Menschen zu Bittstellern, zu Arbeitslosen und Notstandshilfeempfängern machen. Ein Altern in Würde ist für diese Gruppe dann sicher nicht möglich.

Meine Fraktion wird zu diesem Thema auch heute einen entsprechenden Antrag einbringen.

Jedenfalls ist es ein Recht der älteren Bevölkerung, bei allen Pensionsreformmaßnahmen durch die Interessenvertretungen mit eingebunden zu werden - und nicht durch die Husch-Pfusch-Reform links liegen gelassen zu werden. Wenn Sie die Würde der älteren Generation bewahren wollen, dann verhindern Sie in Ihrer Partei solche Regierungspläne! (Beifall bei der SPÖ.)

Präsident Johann Hatzl: Die Aktuelle Stunde ist somit beendet.

Bevor wir zur Erledigung der Tagesordnung kommen, gebe ich gemäß § 15 Abs. 2 im Zusammenhalt mit § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung bekannt, dass an schriftlichen Anfragen von Abgeordneten des Grünen Klubs im Rathaus eine und vom ÖVP-Klub der Bundeshauptstadt Wien eine eingelangt sind.

Die Abgen Mag Schmalenberg, Reinberger und Blind haben gemäß § 30b der Geschäftsordnung eine Gesetzesvorlage betreffend Schutz der Wiener Abwasserentsorgung eingebracht. Diesen Antrag weise ich dem Ausschuss für Umwelt zu.

Die Abgen Mag Wehsely, Malyar, Genossinnen und Genossen haben gemäß § 30b der Geschäftsordnung eine Gesetzesvorlage betreffend Änderung des Wiener Kindertagesheimgesetzes eingebracht. Diesen Antrag weise ich dem Ausschuss für Bildung, Jugend, Soziales, Information und Sport zu.

Die Abgen Dr Michael LUDWIG, Malyar, Genossinnen und Genossen haben gemäß § 30b der Geschäftsordnung eine Gesetzesvorlage betreffend Änderung des Wiener Veranstaltungsgesetzes eingebracht. Diesen Antrag weise ich dem Ausschuss für Kultur und Wissenschaft zu.

Vor Sitzungsbeginn sind von Landtagsabgeordneten des Grünen Klubs im Rathaus vier, vom ÖVP-Klub der Bundeshauptstadt Wien zwei und vom Klub der Wiener Freiheitlichen drei Anträge eingelangt.

Den Fraktionen wurden alle Anträge schriftlich bekannt gegeben. Die Zuweisungen erfolgen wie beantragt.

Nach Beratung in der Präsidialkonferenz nehme ich folgende Umstellung der Tagesordnung vor: Die Postnummern 3, 2, 1, 4 und 5 werden in der von mir genannten Reihenfolge verhandelt.

Da, wie ich sehe, gegen diese Umreihung kein Einwand erhoben wird, werde ich so vorgehen.

Hohes Haus! Der Herr Landeshauptmann hat sich gemäß § 16 der Geschäftsordnung zu einer Mitteilung betreffend "Europäische Integration – Konvent – Erweiterung" zum Wort gemeldet. Ich darf bemerken, dass seine Redezeit mit 40 Minuten begrenzt ist, und erteile ihm nunmehr das Wort.

Lhptm Dr Michael Häupl: Sehr geschätzte Mitglieder des Wiener Landtags! Meine Damen und Herren!

Die alten und die neuen Mitgliedsländer der Europäischen Union, aber auch die europäischen Länder, die heute noch nicht in der Union Mitglieder sind, stehen vor der großen und wichtigen Aufgabe, dieses gemeinsame Europa in Richtung wirtschaftliche Prosperität, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden gemeinsam weiterzuentwickeln. Die aktuelle Debatte um die europäische Verfassung bietet auch für uns die Möglichkeit, Wien einmal mehr europapolitisch zu positionieren - so wie wir dies auch schon bisher erfolgreich getan haben.

Meine Damen und Herren! Am 12. Juni 1994 haben zwei Drittel der Wiener und Wienerinnen Ja zu einem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union gesagt. Dieses Ergebnis sollte die höchste Zustimmungsrate der damaligen Beitrittsländer Österreich, Finnland und Schweden bleiben. Damit war der Weg frei für Österreichs Beitritt zur Europäischen Union, ein Beitritt, der in eine der bislang intensivsten Phasen der europäischen Integration fiel.

Das vom früheren Kommissionspräsidenten Jacques Delors entworfene und nachhaltig betriebene Projekt der Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums, des europäischen Binnenmarkts, hat die in den achtziger Jahren in Österreich verantwortlichen Politiker auf allen Ebenen dazu veranlasst, über die künftige Rolle und Position Österreichs in Europa nachzudenken. Nach intensiven und - das sei an dieser Stelle auch gesagt - kontroversiellen Diskussionen wurde schließlich im Juli 1989 der berühmte Brief um Aufnahme in die damaligen Europäischen Gemeinschaften in Brüssel übergeben.

Das Jahr 1989 stellt aber nicht nur aus innenpolitischer Sicht Österreichs ein wesentliches historisches Datum dar, sondern vor allem auch aus europäischer Perspektive. Es hätten wohl nur wenige geglaubt, dass noch am Ende des 20. Jahrhunderts der Eiserne Vorhang fällt und sich für die Staaten des Ostblocks die Perspektive einer Integration in die Europäische Gemeinschaft, der Freiheit und der Demokratie eröffnet.

Für Österreich ging es nach 1989 rasant vorwärts. Es dauerte gerade bis zum Februar 1994, um die Verhandlungen um eine Mitgliedschaft erfolgreich abzuschließen. Dies war vor allem Ergebnis der Entschlossenheit und der Zusammenarbeit der politisch Verantwortlichen auf allen Ebenen, sei es im Bund, sei es in den Ländern und in den Städten und Gemeinden.

Hiezu kam das Engagement der Sozialpartner und - dies sei auch angesichts aktueller Diskussionen gesagt - eine hoch motivierte Beamtenschaft und letztlich auch eine Informationsarbeit, die Pro und Kontra einer Mitgliedschaft offen diskutierte. Das gemeinsame Ziel einer Mitgliedschaft wurde dabei von den politisch Verantwortlichen nicht aus den Augen gelassen. Die deutliche Zustimmung der Österreicher und Österreicherinnen bei der Volksabstimmung im Juni 1994 ebnete schließlich den Weg für den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union mit 1. Jänner 1995.

Warum erwähne ich dies hier eingangs? - Nicht zuletzt aus aktuell gegebenem Anlass, den politischen Ereignisse in Österreich, dem Verhältnis Europas zu den Vereinigten Staaten und den innereuropäischen Diskussionen über die Rolle Europas in der Welt sowie den Diskussionen im Konvent um die Vertiefung der Europäischen Union, um die Ausarbeitung einer "Europäischen Verfassung" wegen. Von 1989 bis heute hat sich viel getan in Europa. Halten wir kurz inne und analysieren wir, welch weiten Weg wir in Europa im letzten Jahrzehnt hinter uns gebracht haben. Nur derjenige, der seine Geschichte kennt, kann seine Gegenwart und seine Zukunft aktiv gestalten.

Meine Damen und Herren! Das Konzept und die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarkts, eines Raums ohne Grenzen für Personen und Waren bildete gleichsam den Startschuss für weitere vertiefende Integrationsschritte. Und auch wenn es hier noch viel zu tun gibt, gerade in den Bereichen Soziales und nachhaltige Entwicklung, war die ökonomische Integration einmal mehr die Triebkraft zur weiteren politischen Integration. Hand in Hand mit dem Binnenmarkt ging das Konzept der Schaffung einer gemeinsamen Währung, des Euro, und damit verbunden die Einrichtung einer europäischen Institution, der Europäischen Zentralbank - auch dies ein Ausdruck der Europäer und Europäerinnen, dass sie willens und bereit sind, jenseits der zu eng gewordenen staatlichen Grenzen zusammenzuarbeiten.

Die Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion ist ein zentraler Teil des Vertrags von Maastricht, der 1993 in Kraft ist. Nicht einmal ein Jahrzehnt später verfügen wir, wenn auch nicht in allen derzeitigen 15 Mitgliedstaaten, so doch in einer Mehrheit der Staaten, über eine gemeinsame Währung, die wohl nicht unwesentlich ist für die Identifikation der Bürger und Bürgerinnen mit der, mit ihrer Europäischen Union.

Der Vertrag von Maastricht brachte aber auch einige andere wichtige Schritte hin in Richtung einer weiteren Vertiefung der Union. So wurden erstmals Vereinbarungen zur Sozialpolitik in den Vertrag aufgenommen. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wurde in Ansätzen festgeschrieben und die Zusammenarbeit im Bereich Inneres und Justiz wurde ebenfalls vereinbart. Wenngleich gerade in diesen beiden Bereichen noch keine Verlagerung der Entscheidung auf die supranationale Ebene der Union erfolgte, ist gerade damit die Diskussion über eine gemeinsame Außenpolitik in Gang gebracht worden.

Demokratiepolitisch wesentlich war der Ausbau der Befugnisse des Europäischen Parlaments und die Einführung des so genannten Mitentscheidungsverfahrens. Aus Sicht der Länder und Städte bedeutsam war die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in den Vertrag, die Schaffung des Ausschusses der Regionen, der sich am 9. März 1994 konstituierte, sowie die Einräumung der Möglichkeit, dass Ländervertreter im Rat der Europäischen Union, wenn Verhandlungsgegenstände nach der innerstaatlichen Rechtsordnung eines Mitgliedstaats in die Kompetenz eines Landes fallen, teilnehmen können.

Für die Bürger und Bürgerinnen der Union ist natürlich die Einrichtung eines Bürgerbeauftragten zu erwähnen, an den sich jeder Bürger, jede Bürgerin bezüglich Missstände bei der Tätigkeit der Organe und Institutionen der Union wenden kann, sowie die Einrichtung der Unionsbürgerschaft; damit verbunden - für uns in Wien bedeutsam - die Schaffung des kommunalen Wahlrechts für Unionsbürger und Unionsbürgerinnen in den Städten und Gemeinden der Mitgliedstaaten. Damit konnten bereits bei den beiden letzten Wahlen in Wien Unionsbürger und Unionsbürgerinnen auf Bezirksebene über ihre politischen Vertreter und Vertreterinnen mitentscheiden. Es war dies ein wichtiger demokratiepolitischer Schritt, den der Wiener Landtag im Vorjahr mit der Verabschiedung des Demokratiepakets entschlossen weitergegangen ist.

Der Vertrag von Maastricht brachte viele wichtige integrationspolitische Fortschritte, die auch und vor allem für die Städte und Regionen wichtige Schritte zur anerkannten Mitwirkung in den Entscheidungsprozessen der Union darstellen.

Allerdings konnten in Maastricht bei weitem nicht alle Fragen beantwortet werden. Es wurde vereinbart, eine weitere Regierungskonferenz im Jahr 1996 durchzuführen. Abschluss dieser Regierungskonferenz war der Vertrag von Amsterdam. Österreich nahm erstmals als Vollmitglied teil und auch die österreichischen Bundesländer definierten gemeinsame Länderpositionen, die von der österreichischen Bundesregierung auch in die Verhandlungen eingebracht wurden. Dabei handelte es sich insbesondere um die Stärkung des Subsidiaritäts-


prinzips, den Ausbau der Rechte des Ausschusses der Regionen sowie Fragen der Einstimmigkeit betreffend wichtige Anliegen der österreichischen Bundesländer. Aufgrund der aktuellen Diskussion besonders hervorzuheben ist das Thema der Verfügung über die Wasserressourcen. Schon damals forderten die österreichischen Bundesländer, dass die Verfügung über die Wasserressourcen weiterhin einstimmig im Europäischen Rat zu erfolgen hat. Dies entspricht im Übrigen der geltenden europäischen Rechtslage.

Der Vertrag von Amsterdam brachte aus heimischer Sicht durchaus erfreuliche Entwicklungen: Erstmals wurde ein Beschäftigungskapitel in den Vertrag aufgenommen, womit beschäftigungspolitische Ziele auf Ebene der Union zu berücksichtigen sind. Wien hat - dies ist hier zu erwähnen - ebenfalls viele beschäftigungspolitische Initiativen ergriffen und mit der Einrichtung des Wiener ArbeitnehmerInnen-Förderungsfonds und der Anerkennung dieses Fonds durch die Union als Beitrag zum Territorialen Beschäftigungspakt sehr viel positive Aufmerksamkeit und Reaktionen erhalten.

Darüber hinaus konnte das Sozialprotokoll nun endgültig, nach dem Regierungswechsel im Vereinigten Königreich, in den Vertrag aufgenommen werden.

Besonders hervorheben möchte ich, dass seit Amsterdam die Möglichkeit besteht, höhere nationale Standards im Umweltbereich einzuführen – von Bedeutung gerade für Wien als einer Stadt, die Umweltpolitik und eine nachhaltige Entwicklung immer sehr hoch eingeschätzt und beiden Themen hohe politische Priorität zugemessen hat.

Geringe Fortschritte gab es demgegenüber in der Weiterentwicklung der so genannten zweiten und dritten Säule, der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Zusammenarbeit im Bereich Inneres und Justiz, sowie bei den grundsätzlichen Fragen zur "Architektur Europas" angesichts der laufenden Beitrittsverhandlungen.

Seit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam hat ein neuer Begriff Eingang in den europäischen Sprachgebrauch gefunden: "Left-overs". Das sind jene Themenbereiche, insbesondere im institutionellen Bereich, die weder in Maastricht noch in Amsterdam befriedigend gelöst werden konnten. Einmal mehr wurden Grundsatzfragen auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Dieser kam mit einer weiteren Regierungskonferenz, nämlich dem Abschlussgipfel in Nizza. So konnte hier Einigung über die Reform der Institutionen im Hinblick auf den Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder erzielt werden.

Als noch bedeutsamer erachte ich es allerdings, dass die erstmals im Rahmen eines so genannten Konvents ausgearbeitete Charta der Grundrechte der Europäischen Union Zustimmung der Staats- und Regierungschefs erlangte und diese Charta der Grundrechte zumindest - und dies kann nur ein erster Schritt sein - feierlich proklamiert wurde: nach der Einführung der gemeinsamen Währung ein weiterer wichtiger historischer Schritt zur politischen Vertiefung der Europäischen Union.

In einer eigenen Erklärung zur Zukunft der Union über die künftige Entwicklung wurde übereingekommen, spätestens ein Jahr nach dem Treffen in Nizza die weiteren Schritte angesichts der bevorstehenden Erweiterung sowie der notwendigen weiteren politischen Vertiefung zu vereinbaren. Im Dezember 2001 in Laeken beschlossen die Staats- und Regierungschefs, die Zukunft der Union in einer breit angelegten öffentlichen Debatte zu führen. Ein europäischer Konvent war demnach einzurichten, um ausgehend von den Fragen über die Zuständigkeit der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten, den Status der Charta der Grundrechte, die Vereinfachung der Verträge sowie die Rolle der nationalen Parlamente eine grundsätzliche Debatte über die weitere politische Vertiefung der Union zu führen. Damit begann ein neues Stück europäischer Verfassungsgeschichte.

Nach der Einheitlichen Europäischen Akte in den achtziger Jahren, den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza wurde damit die fünfte große Vertragsrevision in Angriff genommen. Insbesondere die beiden letzten großen Gipfel, Amsterdam und Nizza, hatten gezeigt, dass in wesentlichen Punkten, vor allem in Fragen der Handlungsfähigkeit und Fragen der institutionellen Reform der Union, nur noch minimale Ergebnisse erzielt werden konnten. Dies war ein Anzeichen dafür, dass die Methode der Regierungskonferenz an ihre Grenzen gestoßen ist und der politische Wille bislang gefehlt hat, über die Wirtschaftsunion hinaus den Grundstein für die politische Union zu legen.

Die berühmte Finalität der Europäischen Union, Gegenstand von unzähligen Europaräten im Jahr 2000, war im Verhandlungsmarathon an der Côte d' Azur plötzlich verschwunden. Der Gipfel von Nizza brachte ein für die alten wie auch für die zukünftigen neuen Mitglieder der Union enttäuschendes Ergebnis. Jedoch die Staats- und Regierungschefs ebneten den Weg für den "Post-Nizza-Prozess". Dabei geht es nicht um Feinjustierungen im politischen Räderwerk der Europäischen Union, sondern um eine Generalrevision. Mehr als 50 Jahre eines erfolgreichen europäischen Einigungsprozesses haben ein Gebilde geschaffen, das, so einer der Vizepräsidenten des Konvents, Giuliano Amato, dem einer gotischen Kathedrale gleicht. Verschiedene Baustile wurden im Laufe der letzten Jahrzehnte neben- und übereinander angeordnet. Dabei ist ein imposantes Gebäude entstanden. Das Problem ist allerdings, dass der Kern des Projekts nur mehr schwer zu erkennen ist.

Worum geht es bei dieser "Generalrevision"? - Es geht um nicht mehr, allerdings auch um nicht weniger als um die Handlungsfähigkeit und damit um die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union im 21. Jahrhundert: Es geht um das Innenverhältnis im Zusammenschluss der einzelnen Mitglieder, die sich ja gemeinsam zu diesem historisch einmaligen Gebilde einer Union von Staaten zusammengeschlossen haben, um auf die allein auf staatlicher Ebene nicht mehr zu bewältigenden und zu lösenden Fragestellungen und Herausforderungen in einer sich zunehmend globalisierenden Welt gemeinsame Antworten zu finden. Es geht auch um die gemeinsame Handlungsfähigkeit nach außen im globalen Wettbewerb und - darauf lege ich besonderen Wert - im globalen Miteinander, im Bewusstsein der gemeinsamen Verantwortung für die kommenden Generationen.

Meine Damen und Herren! Eine der wesentlichsten Fragen ist, in welcher Form wir das bereits gemeinsam Erreichte, den friedlichen Wiederaufbau Europas nach den schrecklichen Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem europäischen Einigungswerk des Friedens und des Wohlstands, des sozialen Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit, weiterführen wollen, und zwar weiterführen im Sinne eines Föderalismus freier Staaten, eines supranationalen föderalen Systems geteilter Herrschaft zwischen Zentralgewalt und konstituierenden Teilgewalten, eines Mehrebenensystems politischer Herrschaft, bei dem die Balance von Macht und Zuständigkeit eher sachgesetzlichen Notwendigkeiten als vorgegebenen Finalitätsmodellen folgt – ein Gedanke, den im Übrigen bereits Immanuel Kant in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" im Jahre 1795 angesprochen hat; eine gewisse Aktualität dieses Gedankens ist zweifelsohne durchaus gegeben.

Wenn wir uns diesem supranationalen Staatsgebilde mit dem Namen Europäische Union weiter annähern, ist angesichts der aktuellen Diskussion im und um den Konvent zur Ausarbeitung einer europäischen Verfassung die Frage zu stellen, wie es kam, dass wir gerade heute so intensiv über eine Verfassung für die Europäische Union nachdenken. Hiezu gibt es im Anschluss an meine bisherigen Ausführungen vier zentrale Antworten:

Erstens: Der bevorstehende Beitritt vorwiegend mittel- und osteuropäischer Staaten zur Europäischen Union stellt mit Nachdruck die Frage nach klar erkennbaren, eindeutig rechtlichen Grundlagen für die Identität und das Handeln der Union mit neuem Gewicht.

Zweitens erfordert dieser Beitritt dringend eine über die differenziert zu beurteilenden Errungenschaften der Verträge von Amsterdam und Nizza hinausgehende Anpassung der bereits vorhandenen rechtlichen Grundlagen der europäischen Integration an die gewachsenen Aufgaben sowie eine grundlegende Selbstvergewisserung über die Ziele und Werte der europäischen Integration.

Drittens ist die Verknüpfung der Verfassungsfrage mit der Frage nach der Finalität der Integration erstmalig überwunden. Denn nicht nur überzeugte Europäer und Europäerinnen, sondern auch und gerade so genannte Nationalisten wollen und fordern heute eine europäische Verfassung, auch wenn sie damit einzig die nationalen Kompetenzen vor befürchteten weiteren europäischen Zugriffen schützen wollen.

Schließlich, viertens, haben gerade die angeführten Entwicklungen und die zunehmende ökonomische Vertiefung der Europäischen Union zu einem Unbehagen in der Bevölkerung bezüglich der mangelnden politischen Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit der Europäischen Union nach innen und nach außen auf der weltpolitischen Bühne geführt. Schon heute wollen rund 63 Prozent der EU-Bevölkerung - so eine vom Eurobarometer im Frühjahr 2002 durchgeführte Umfrage - eine europäische Verfassung. Auch die Mehrheit der nationalen Regierungen kann sich inzwischen mit dieser Vorstellung anfreunden. Dies ist nicht zuletzt auch Ergebnis der Dynamik, die im Konvent entstanden ist. Unter Politikern aller Parteien in nahezu allen Mitgliedstaaten der Union gehört die Forderung nach einer europäischen Verfassung heute zum guten europapolitischen Ton.

Der mit der Erklärung von Laeken eingerichtete "Europäische Verfassungskonvent" hat mit seiner Eröffnungssitzung am 28. Februar 2002 in Brüssel seine Tätigkeit aufgenommen. Die Ausarbeitung einer europäischen Verfassung steht damit politisch eindeutig auf der Tagesordnung. Wir kommen damit allerdings zu einer weiteren zentralen Frage: Braucht die Europäische Union überhaupt eine Verfassung?

Nach 50 Jahren erfolgreicher europäischer Einigung, etlichen Gründungs-, Änderungs-, Ergänzungs- und Beitrittsverträgen sowie zahlreichen technisch-administrativen Regelungen, angesichts der Tatsache, dass sich immer mehr Probleme auf einzelstaatlicher Ebene nicht mehr wirksam lösen lassen, der Tatsache, dass die nationalstaatliche Souveränität durch die ökonomische Globalisierung zunehmend in Frage gestellt ist, und schlicht und einfach angesichts der Tatsache, dass das vorhandene Vertragswerk wohl nur mehr für Spezialisten durchschaubar und überblickbar ist, ist es höchst an der Zeit, dieses historisch gewachsene Vertragswerk einer - wie ich es schon nannte - Generalrevision zu unterziehen.

Ich möchte an dieser Stelle hinzufügen, meine Damen und Herren: Eine derartige Generalrevision würde auch unserer Verfassung gut tun. Die aktuelle Diskussion weist ja in diese Richtung, wenn ich auch nicht ganz verstehen kann, warum der österreichische Konvent beinahe so viele Mitglieder haben soll wie der EU-Konvent. Man ist beinahe geneigt, in Umkehrung eines alten Sprichworts zu sagen: "Die Union - die kleine Welt, in der Österreich seine Probe hält."

Meine Damen und Herren! Bei allen Verfassungsdiskussionen ist es gut, sich in Erinnerung zu rufen, was denn eigentlich Sinn und Zweck einer Verfassung ist:

Eine Verfassung konstituiert und begrenzt demokratisch legitimierte Hoheitsgewalt; durch sie schaffen sich Menschen auf einem gegebenen Gebiet Institutionen für die Erfüllung bestimmter gemeinsamer Zwecke, durch sie werden Verfahren der Beschlussfassung, Kompetenzen zur individuellen Entscheidung, die individuellen Rechte sowie der Status und die Beteiligung der Betroffenen festgelegt, die sich so selbst der konstituierten Hoheitsgewalt unterordnen. Kurz gesagt, eine Verfassung legt fest: wer tut was auf welcher rechtlichen Grundlage und wer kontrolliert wen. Es spricht nichts dagegen, dass dies auf einer den Staaten übergeordneten Ebene supranationaler Erfüllung ehedem staatlicher Aufgaben geschieht.

Hiezu kommt - und dies ist gerade für uns Europäer und Europäerinnen von großer Bedeutung - die identitätsstiftende Funktion einer Verfassung. Einer europäischen Verfassung ohne Identifikation der Bürger und Bürgerinnen dieses Europa mit ihrer Verfassung wird kein Erfolg beschieden sein. Diese europäische Verfassung – und dies zeigen ja die Diskussionen im Konvent – muss daher auf den grundlegenden Werten Europas aufbauen.

Was sind nun diese grundlegenden gemeinsamen Werte, auf denen die Demokratien in Europa aufbauen? - Es ist dies das Wissen um den Wert eines funktionierenden Rechtssystems und damit die Regelung der Beziehungen zwischen den Menschen auf einer rationalen, geordneten Ebene. Es geht um das Wissen um den gleichen Wert und die gleiche Würde jedes einzelnen Menschen und schließlich das Wissen um die Bedeutung von Vernunft, Wissenschaft, Freiheit und Gerechtigkeit für ein demokratisches Gemeinwesen. Alles, was auf diesen gemeinsamen Werten aufbaut, steht im freien Willen der Europäer und Europäerinnen und ihrer gewählten Volksvertreter und Volksvertreterinnen.

Eine europäische Verfassungsurkunde, mit der die Bürger und Bürgerinnen Europas sich identifizieren können, ist allerdings bislang nicht vorhanden. Europa als Werte- und Identitätsgemeinschaft tritt seinen Bürgern und Bürgerinnen und der Welt bislang weder im symbolischen Akt einer Verfassungsgebung noch durch den einheitsstiftenden Inhalt einer europäischen Verfassungsurkunde entgegen.

Meine Damen und Herren! Aber genau darum geht es in der aktuellen Debatte über die Zukunft der Union, geht es bei den Beratungen im Konvent.

Und wenn ich eingangs Giuliano Amato zitiert habe: Die künftige europäische Verfassung darf jedenfalls nicht als schlechte Variante nationalstaatlicher Konzepte gesehen werden. Das Erstellen von "Blaupausen" nationaler Verfassungen würde den Konvent zu nicht mehr als einer politisch unproduktiven Bastelstunde verkommen lassen. Es sind neue Formen des "europäischen Regierens" unter Einbeziehung aller politisch verantwortlichen Ebenen zu erarbeiten. Die demokratische Verantwortlichkeit angesichts gegenseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeit ist auf allen Ebenen demokratischer Legitimation zu verstärken und auszubauen.

Meine Damen und Herren! Für die Bürger und Bürgerinnen besonders wichtig: Die europäische Verfassung muss die Hoheitsgewalt der Union gegenüber dem einzelnen Unionsbürger, der einzelnen Unionsbürgerin sichtbar begrenzen. Die Aufnahme der Charta der Grundrechte in den Verfassungsvertrag ist daher unabdingbar, insbesondere auch deshalb, weil diese Charta nicht nur die klassischen Freiheits- und Gleichheitsrechte enthält, sondern auch im Bereich der Freiheitsrechte grundrechtlichen Schutz gegenüber neuen, modernen Gefährdungslagen individueller Freiheit, etwa im Bereich des Datenschutzes oder der Gentechnologie garantiert.

Darüber hinaus führt die Charta der Grundrechte die klassischen Freiheits- und Gleichheitsrechte erstmals auf überstaatlicher Ebene unter dem Gesichtspunkt der Unteilbarkeit der Grundrechte mit der Garantie wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte zusammen. Gerade die Berücksichtigung sozialer Grundrechte ist wesentlicher Ausdruck des europäischen Gesellschaftsmodells und stellt eine deutliche Abgrenzung vom Grundrechtsverständnis etwa der Vereinigten Staaten dar - und damit auch vom US-amerikanischen Gesellschaftsmodell.

Zu überlegen ist auch die Durchführung einer Volksabstimmung über die europäische Verfassung - trotz aller Schwierigkeiten, die zweifelsfrei damit verbunden sind. Eine Verfassung, die in einer Volksabstimmung von den Bürgern und Bürgerinnen der Union verabschiedet wird, hätte jedenfalls einen unübersehbaren Vorteil gegenüber einem Zustandekommen auf rein mitgliedstaatlicher Ebene. Allein der Prozess der Vorbereitung und Durchführung einer solchen Volksabstimmung in allen Mitgliedstaaten der Union würde zwingend europaweit eine politische Diskussion und Auseinandersetzung über die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen und Folgen der europäischen Integration in Gang setzen. Ein derartiger Prozess würde einen Diskurs der europäischen Bürger und Bürgerinnen über das europäische Gemeinwohl auf der Basis gemeinsamer Zielvorstellungen und Werte ins Leben rufen. Das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit und eines europäischen politischen Prozesses und damit die außerrechtlichen Voraussetzungen für die Herausbildung einer europäischen Identität würden zweifelsfrei deutlich gestärkt.

Die Diskussion im Konvent und der vorgeschlagene erste Artikel über die Gründung der Union, in dem es heißt: "Entsprechend dem Wunsch der Völker und Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, ...", weisen deutlich in diese Richtung.

Die Forderung nach Durchführung eines Referendums über die künftige europäische Verfassung erhob im Übrigen auch der Jugendkonvent im Juli 2002.

Meine Damen und Herren! Die künftige europäische Verfassung kann das starke Fundament der supranationalen Zusammenarbeit der Völker und Staaten Europas bilden, die Grundwerte und gemeinsamen Ziele Europas nach innen und außen anschaulich werden lassen und die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit, aber auch der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit bei der Ausübung der Gemeinschaftskompetenzen endlich da verankern, wo es dem erreichten fortgeschrittenen Integrationsstand angemessen ist: in einer zusammenhängenden, formal als Verfassung erkennbaren und in ihrer Gesamtheit als Verfassung konsentierten europäischen Verfassungsurkunde, die die Legitimation, die Organisation und die Begrenzung der europäischen supranationalen Zusammenarbeit erkennbar macht.

Der EU-Konvent und die Diskussion um die Zukunft der Union bilden damit nicht mehr als das Nachholen des schon lange erforderlichen und rechtsstaatlich gebotenen Konstitutionalisierungsaktes der europäischen supranationalen Hoheitsgewalt. Wenn die Europäische Union zukunftsfähig sein soll, muss dieses Vorhaben erfolgreich zum Abschluss gebracht werden.

Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn wir von der Identität Europas, der Identität der Europäischen Union und ihrer Zukunftsfähigkeit sprechen, müssen wir über die grundlegende Substanz dieses unseres europäischen Einigungswerks sprechen, das Herzstück, das diese Europäische Union einzigartig macht. Dieses Herzstück ist der dauerhafte und nachhaltige Friede auf diesem Kontinent, basierend auf unseren - bereits von mir erwähnten - Werten der Aufklärung, den Werten der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, der Freiheit, der sozialen Sicherheit und der Achtung der Würde der Menschen. Dieses "Friedensprojekt" basiert auf dem freien Willen der Staaten, ihrer verantwortlichen Politiker und ihrer Bürger und Bürgerinnen, sich in einer supranationalen Organisation zusammenzuschließen und die sich stellenden Herausforderungen und Schwierigkeiten gemeinsam zu bewältigen.

Ein wesentlicher Aspekt und, wie mir scheint, aufgrund der globalen Herausforderungen viel zu wenig beachteter Aspekt des Friedensprozesses Europas ist der soziale Friede im Inneren, das Streben nach sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit, der Ermöglichung gleicher Lebensbedingungen für alle Bürger und Bürgerinnen - kurz das, was wir als europäisches Gesellschaftsmodell bezeichnen. Dies ist auch - und davon bin ich fest überzeugt - der viel zitierte Mehrwert der Europäischen Union: Frieden nach außen und soziale Sicherheit und Wohlstand im Inneren.

Es ist eine schon länger geführte Diskussion und auch politische Praxis, Modelle mit starker Orientierung an den Prinzipien "Markt" und "privat" zu propagieren und vorzuziehen. Auch vor den Sozialsystemen, den öffentlichen Leistungen, den Leistungen der Daseinsvorsorge und der öffentlichen Verwaltung macht diese Debatte nicht Halt. Es gibt vielfache Bestrebungen, Sozialsysteme insgesamt oder in Teilbereichen zu privatisieren. Soziale Errungenschaften werden verächtlich gemacht, um sie dann abschaffen zu können. Es führt so weit, dass, wer in Europa soziale Verpflichtungen und internationales Recht außer Frage stellen möchte, Gefahr läuft, als rückschrittlich und als "altes Europa" gegeißelt zu werden. Dieser Entwicklung muss auf vielen Ebenen entgegengetreten werden. Noch hält der soziale Friede, und vor gar nicht allzu langer Zeit gab es in Europa einen gesellschaftspolitischen Grundkonsens, dass zu den Kernaufgaben des Staates auch soziale Pflichten und gemeinwirtschaftliche Verantwortungen gehören. Die Schaffung nachhaltiger stabiler und gerechter sozialer Verhältnisse war vielen politischer Auftrag.

Schlüsselelement des europäischen Gesellschaftsmodells ist der soziale Dialog. Noch im Jahr 2000 - ein für Österreich wohl nicht unbedeutsames politisches Datum - bestätigte eine Studie der International Labour Organization, dass vor allem die Fähigkeit Österreichs sowie Dänemarks, Irlands und der Niederlande, Wachstum, Innovation und neue Arbeitsplätze und damit soziale Sicherheit zu schaffen, weitgehend mit der Qualität des sozialen Dialogs im Wandel zusammenhängt, die ein solches System bietet. Nicht von ungefähr, so denke ich, haben gegenwärtig zwei Proponenten des österreichischen sozialen Dialogs Spitzenfunktionen auf europäischer Ebene: Der Präsident der Wirtschaftskammer Österreich ist gegenwärtig auch Präsident von Eurochambres, der Vereinigung der europäischen Industrie- und Handelskammern, und der Präsident des Österreichischen Gewerkschaftsbundes ist bereits seit längerer Zeit auch Präsident des Europäischen Gewerkschaftsbundes.

Meine Damen und Herren! Europa hat aus seiner Geschichte eine spezielle Verantwortung, sein Gesellschaftsmodell weiterzuentwickeln, es an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts mit seinen neuen Arbeitsverhältnissen, die mit den technologischen Entwicklungen einhergehen, anzupassen. Europa hat aber vor allem die Verantwortung, sein Gesellschaftsmodell und seine grundlegenden Ideen und Prinzipien in der öffentlichen globalen Debatte zu positionieren.

Der Europäische Rat von Lissabon im März 2000 hat der Europäischen Union das Ziel gesetzt, dass sich die Union innerhalb der folgenden zehn Jahre zum wettbewerbsfähigsten, dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum entwickeln soll, der gleichzeitig fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen. Damit wurde erstmals eine umfassende und kohärente Gesamtstrategie für die Entwicklung des originär europäischen Modells entwickelt, das den Herausforderungen des globalen Wettbewerbs ebenso gerecht werden soll wie den Herausforderungen einer wissensbasierten Gesellschaft und das gleichzeitig die Sicherung der Sozial- und Transfersysteme auf hohem Niveau ermöglicht. Bedauerlich ist, dass besonders der zweite Aspekt dieser so genannten Lissabon-Strategie in der öffentlichen Debatte vernachlässigt wird.

Europas Chance und Herausforderung, sich als "Global Player" zu positionieren, liegt darin zu zeigen, dass es möglich ist, Wirtschafts- und Sozialpolitik zu integrieren, sozialen Zusammenhalt und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit gleichermaßen zu erreichen. Dies ist zweifelsohne eine große Herausforderung angesichts des vorherrschenden Zeitgeists und dies macht gleichzeitig die Attraktivität des europäischen Gesellschaftsmodells aus - nicht zuletzt auch in den Vereinigten Staaten.

Die Attraktivität des europäischen Gesellschaftsmodells, des europäischen Einigungswerks liegt somit sowohl in der Schaffung und Aufrechterhaltung des Friedens zwischen Staaten als auch in der inneren Friedenssicherung durch sozialen Zusammenhalt. Will die Europäische Union global einen Unterschied machen, so ist es daher höchst an der Zeit, auch die Schaffung einer Sozialunion und damit die Europäisierung der sozialen Sicherheit vorzunehmen. Dies ist auch ein Anliegen, das von Wien in den laufenden Diskussionen zur Schaffung einer europäischen Verfassung zu unterstützen ist und unterstützt wird. Die Diskussionen im EU-Konvent zeigen bisher, dass weitgehend Konsens darüber besteht, neben der Wirtschafts- und Währungsunion auch das Ziel der Verwirklichung einer Sozialunion in die künftige europäische Verfassung aufzunehmen. Und auch der Jungendkonvent hat im Juli 2002 sehr deutlich gemacht, dass den jüngeren Menschen, den Jugendlichen in Europa die soziale Dimension besonders am Herzen liegt, sowohl in Europa, aber vor allem auch im Prozess der so genannten Globalisierung.

Die Formierung der Zivilgesellschaft in Europa und der Widerstand und das Unbehagen der Bürgerinnen und Bürger Europas gegen eine schrankenlose, einzig an Gewinnmaximierung orientierte Liberalisierung ohne Berücksichtigung sozialer und ökologischer Faktoren legt den Schluss nahe, dass die Zukunft der sozialen Entwicklung in Europa ausgetragen wird. Viel steht dabei auf dem Spiel, denn ich fürchte, dass wir Europäer und Europäerinnen vielfach noch nicht realisiert haben, dass sich Europa hier in einer grundsätzlichen Auseinandersetzung über die künftige Ausrichtung der europäischen Gesellschaft befindet. Viele politische Entscheidungsträger in Europa haben die neoliberalen Dogmen nahezu widerspruchslos übernommen und sind dabei, die eigenen Prinzipien - allen voran jene des sozialen Ausgleichs, der sozialen Sicherheit und des sozialen Zusammenhalts - aufzugeben.

Darüber hinaus, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist es wichtig, auch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik neuerlich ernsthaft anzugehen, wie dies auch eine Mehrheit der europäischen Bevölkerung wünscht, auch wenn dies im Gefolge des Ringens um eine europäische Haltung zum Irak-Krieg deutlich schwieriger geworden ist. Österreich hat dabei seine Haltung an der Seite des europäischen Friedensmodells zu betonen. Die Herausforderung für eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik besteht dabei allerdings nicht nur in der Überwindung nationalstaatlicher Interessen, sondern vor allem auch darin, auf die Konstruktion von Feindbildern zu verzichten und stattdessen Konflikte durch Prävention und Kooperation zu minimieren, wie dies etwa in den Petersberger Aufgaben enthalten ist. Die Übernahme der Friedensmission in Mazedonien vor wenigen Tagen ist in diesem Zusammenhang für die Union ein kleiner, aber wichtiger erster historischer Schritt.

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch eine Bemerkung zur Erweiterung machen; vor wenigen Tagen wurden ja feierlich die Beitrittsverträge in Athen symbolhaft auf der Akropolis unterzeichnet. Ich möchte dabei nicht noch einmal auf die Chancen, die sich für Wien und für Österreich daraus ergeben, hinweisen - davon zu sprechen, dafür war schon mehrfach Gelegenheit, auch an diesem Ort. Hervorheben möchte ich jedoch kurz unsere Bemühungen, gemeinsam mit Niederösterreich und dem Burgenland und unseren Freunden in Brünn, Bratislava, Györ und Sopron eine "Europaregion", eine "Vienna Region", die alle Lebensbereiche umfasst, zu entwickeln.

Worauf ich aber im Hinblick auf die Erweiterung heute vor allem hinweisen möchte, ist, dass wir, wenn wir an die neuen Mitgliedsländer denken, auch berücksichtigen müssen, in welch kurzer Zeit und unter welch großen Schwierigkeiten diese Gesellschaften einen Transformationsprozess durchmachen. Dieser Transformationsprozess ist, und deswegen erwähne ich das an dieser Stelle, von zweierlei Art: Erstens erfolgt eine radikale ökonomische Umwandlung von einem planwirtschaftlichen System hin zu einem marktwirtschaftlichen System, auch um den Preis sozialer Verwerfungen. Gleichzeitig erfolgt die Integration in die Europäische Union und damit die Integration in das europäische Gesellschaftsmodell, das, wie ich eben ausführte, den sozialen Zusammenhalt als grundlegende politische Aufgabe ansehen sollte. Und auch hier treffen zwei Gesellschaftsmodelle aufeinander: jenes der freien Marktwirtschaft und jenes der sozialen, der ökosozialen Marktwirtschaft.

Wir begrüßen mit traditioneller Herzlichkeit die neuen Mitglieder in der Union und sind zuversichtlich, dass sie ihre Chancen und Aufgaben im gemeinsamen Europa, zur positiven gemeinsamen Entwicklung nutzen und lösen werden.

Die Erweiterung darf jedoch nicht Halt machen. Mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder ist sicher ein großer Schritt vorwärts getan. Wir, Europa darf jedoch nicht stehen bleiben. Die Integration der Staaten Südosteuropas ist zügig voranzutreiben. Darüber hinaus müssen wir uns überlegen, wie wir in Hinkunft unser Verhältnis, das Verhältnis der Europäischen Union, zu jenen Staaten, die bald an der Außengrenze der Union liegen werden, zu Weißrussland, Moldawien, der Ukraine und natürlich auch zu Russland gestalten wollen. Und auch der euro-mediterrane Dialog ist weiterzuführen, ganz zu schweigen vom wichtigen und notwendigen Dialog mit dem Islam, nicht zuletzt angesichts des wachsenden Anteils der islamischen Bevölkerung in der Europäischen Union.

Was hat dies, meine sehr geehrten Damen und Herren, alles mit Wien zu tun? - Eine nicht ganz rhetorische Frage. – Wien hat bereits im Vorfeld die sich aus einem künftigen Beitritt ergebenden Chancen und Herausforderungen einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union zum Anlass genommen, sich aktiv und engagiert auf eine solche Mitgliedschaft vorzubereiten. Bester Beleg dafür ist, und dies sei an dieser Stelle angemerkt, dass sich viele Städte der künftigen neuen Mitgliedsländer in den letzten Jahren an Wien gewandt haben, um aus unseren Erfahrungen in der Vorbeitrittsphase zu lernen, um sich ebenfalls gewissenhaft auf die Herausforderungen einer Mitgliedschaft in der Union vorbereiten zu können.

Wir - und damit meine ich den Wiener Landtag und die politisch Verantwortlichen in dieser Stadt - haben bereits im Jahr 1992 eine Europakommission eingerichtet, um über wichtige Vorhaben der europäischen Integration zu beraten und entsprechende Weichenstellungen in Wien vorzubereiten. Bereits in der Endphase der Beitrittsverhandlungen mit Österreich hat der Wiener Landtag seine erste Europadeklaration verabschiedet und ein klares Bekenntnis zur europäischen Integration abgelegt, ein klares Bekenntnis zu Frieden, sozialer Sicherheit, Gerechtigkeit und zu Wohlstand für alle Bürger und Bürgerinnen Europas. Aus Anlass der Regierungskonferenzen Mitte der neunziger Jahre folgten die Europadeklarationen der Jahre 1996 und 1997. Auch hier galt es einmal mehr, die Standpunkte Wiens zu wichtigen europapolitischen Fragen zum Ausdruck zu bringen.

Wir können durchaus stolz sein auf das Erreichte. Wien hat die Integration und die Mitwirkung am europäischen Integrationsprozess genutzt, wir haben gelernt, in europäischen Netzwerken Politik zu machen, zu lobbyieren, wie das im EU-Jargon heißt, und wir haben damit sichergestellt, dass unsere Anliegen, dass unsere Wiener Anliegen Gehör finden. Und wir haben gelernt, dass wir nur gemeinsam mit Partnern - und ich darf sagen: Freunden - anderer Regionen und Städte erfolgreich sind; stellvertretend für viele darf ich meine Amtskollegen in Paris, London, Berlin, Brüssel und viele andere erwähnen. Für Eigenbrötelei ist in Europa kein Platz.

Auf der anderen Seite haben wir gelernt, dass es, um erfolgreich in Europa Politik mitzugestalten, unabdingbar ist, überhaupt zu wissen, wohin wir denn wollen als Stadt in der Mitte Europas. Gute Argumente und Konsequenz in der Sache waren immer noch Voraussetzung für eine erfolgreiche Politik. Es war daher höchst an der Zeit, dass wir uns nach 1997 wieder eingehender mit grundsätzlichen Positionen des Wiener Landtags zu den aktuellen europäischen Fragen und Herausforderungen auseinander setzen und diese Positionen in Form der im weiteren Verlauf der heutigen Sitzung zu verabschiedenden Europadeklaration zum Ausdruck bringen.

Meine Damen und Herren! Was kann aber Wien nun dazu beitragen, dieses - von mir skizzierte - europäische Gesellschaftsmodell weiterzuentwickeln?

Präsident Johann


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