Zeugen des gegenwärtigen Gottes Band 001 Friedrich von Bodelschwingh Der Vater des Bethel-Werkes


Dieser Ton der Freude zog auch durch seine



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Dieser Ton der Freude zog auch durch seine Predigten in der Zionskirche. Er

verstand es, seinen Hörern ans Herz zu greifen, und schreckte nicht davor zurück, etwas zu erzählen, worüber die ganze Gemeinde lachte. Hinterher prägte sich dann der ganze Ernst des Evangeliums um so tiefer in die Herzen ein. Fröhlichsein und Frommsein, Lachen und Beten gehörten für ihn zusammen. Er konnte sich freuen und lachen wie ein Kind und Kindern ein Kind sein.

In der innersten Bruderschaft des Kreuzes war Bodelschwingh mit seinen Kranken verbunden, in diese Bruderschaft suchte er alle hineinzuziehen. Aus diesem Grunde sprach er die Sprache der Bruderschaft, sagte, wo er es seel- sorgerlich für nötig hielt, zum anderen „Du", dieses ehrende Du, das den anderen emporhebt zu dem, der mit ihm spricht, das seine Heimat bei Gott hat, der sich in seiner Barmherzigkeit mit uns auf du und du stellt, damit wir glauben, daß er uns liebt. Er nannte den anderen B r u d e r , in dem Bewußtsein der gemeinsamen Schuld, der gemeinsamen Vergebung und der gemeinsamen Freude. Als Glaubensbekenntnis seiner Gemeinde könnte man den Lieblingsvers der Mutter Bodelschwinghs bezeichnen:

Einmal ist die Schuld entrichtet, und das gilt auch immerhin,

Moses Opfer stehn vernichtet, weil ich nun vollendet bin.

Denn mit einer Opfergabe hat das Lamm so viel getan, daß das Volk von seiner Habe sich vollendet nennen kann.

Wer nach Bethel kommt, glaubt, dort ein riesiges Krankenhaus und eine Stätte des Elends zu finden, und findet etwas ganz anderes — in einem langhingestreckten Tal größere und kleinere freundliche Häuser und blühende Gärten. Wenn man am Abend durch die Straßen geht, hört man aus den Häusern ein Singen und Klingen. Es sind die Lobgesänge der Kranken, der Kranken, die zum großen Teil wissen, daß sie Sterbende, unheilbar sind, aber sie können singen, und „was sie singen machet, ist, was im Himmel ist." Man findet eine Stätte, an der die Nachfolge Jesu geübt wird, in aller Schlichtheit und in aller Demut. Kleine und Große, Kranke und Gesunde sind in der gleichen Schule des gegenseitigen Dienstes und Dienens, des Glaubens und Liebhabens. Manchmal sind Kranke den Gesunden weit voran im Glauben und in ihrer frohen Hoffnung. „Hier sitzen", sagte Bodelschwingh einmal von seinen singenden Kranken, „die Professoren auf ihren Lehrstühlen und bringen uns deutlich bei, was Evangelium und Gottes Kraft zur Seligkeit ist."

Wer durch Bethel geht, glaubt, durch das Heilige Land zu gehen. Die Häuser tragen biblische Namen; da kann man von Libanon nach Tabor gehen, von Nazareth nach Kana und Kapernaum, von Zion nach Jericho pilgern. Es war Bodelschwingh heiliger Ernst mit dieser Namengebung, diese Häuser sollten heilige Stätten sein, wo der Herr Jesus Raum hat, Marksteine für die Taten Jesu in unserem Vaterlande und in unseren Tagen.

Wichtige Hilfe für die Kranken bestand in der Gewährung von Arbeit. Es war Bo- delschwinghs besondere Gabe, auch für die schwächsten Kräfte eine Arbeit, und sei es auch nur die kleinste Beschäftigung, ausfindig zu machen. Unter Gesunden blieb den Kranken jedes Arbeitsgebiet verschlossen, in Bethel sind nur Kranke. Was für eine gütige Fügung, daß Bodelschwingh alle Feld- und Gartenarbeit von früher her kannte, wie kamen diese Kenntnisse ihm jetzt zustatten! In Feld und Garten wurden die Kranken an die Arbeit gestellt. Die Arbeit lenkte von der Krankheit ab. Die Kranken fühlten sich nicht mehr überflüssig, sie konnten zur Schule gehen, später ein Handwerk lernen, die Schwächeren konnten Hilfsdienste leisten. Es blieb auch keiner mehr einsam. Da die Häuser als Familienhäuser gebaut waren und jedes Haus seinen Hausvater und seine Hausmutter hatte, mit deren Familie die Kranken eine Einheit bildeten, so erlebten sie echtes, christliches Familienleben. Jedes Gefühl des Ausgeschlossenseins und Ueberflüssigseins verlor sich, es waren ja alle krank. Hier gewann der Kranke einen Freund, draußen hatte er Freundschaft nie gekannt. Eine neue Welt tat sich ihm auf. So wurde Bethel eine Welt für sich, in der alle Arbeit, soweit nur möglich, von Kranken geleistet wird. Und die, die nichts mehr tun konnten, konnten noch ihre Hände falten. Damit rückten sie wieder hinein in die Reihe der ersten und wichtigsten Mitarbeiter; denn Bethel stand und steht auf den gefalteten Händen seiner Beter. Die sind sein Fundament.

Vom Kleinen zum Großen

„Es gibt Leute, die wollen große Taten des Gehorsams tun; aber wenn es auf kleine Dinge ankommt, dann sind sie langsam und voller Widerspruch."

Es ist die Eigenart aller Bodelschwinghschen Arbeit, daß immer ein Zweig der Arbeit aus dem anderen erwuchs, aus zuerst ganz unscheinbarem Anfang. Aus wenigen Kranken wurden Hunderte, dann Tausende. Dann fanden sich Mitarbeiter. Bethel wirkte wie die Stadt auf dem Berge; die Augen des christlichen Deutschlands waren dorthin gerichtet. Bethel liegt nicht irgendwo, sondern hat das Minden- Ravensberger Land hinter sich. Von dorther strömten die Arbeitskräfte, junge Männer und junge Mädchen, die dem Herrn Christus dienen wollten, in den Dienst nach Bethel. Sie brachten einen fröhlichen Glauben und eine tatbereite Liebe mit. Das Mutterhaus Sarepta entstand zur Ausbildung der Diakonissen und das Brüderhaus Nazareth für die D i a k o n e.

Als Bodelschwingh seine Arbeit nicht mehr bewältigen konnte, schenkte ihm Gott auch die Mitarbeiter, die er brauchte: Pastor Stürmer, als Arzt Dr. Huchzermeier, die Kasse übernahm der frühere Postverwalter aus Gramenz, der alte Mellin, der seine Seelsorgetätigkeit nun nach Bethel verlegte.

Bodelschwingh war groß genug, manche Tätigkeit, besonders die des Unterrichtens, die ihm nicht besonders lag, anderen zu überlassen; er selber aber blieb mit der Glut seiner Liebe das Herz des Ganzen. Er wußte, daß erTreuhän- der des Herrn Jesu war, der in seinem Namen seinen Dienst ausrichtete, darum war er innerlich unabhängig von allen materiellen Gesichtspunkten. Gewiß brauchte er für seine Arbeit immer wieder Geld, aber er verstand zu bitten. Dabei sah er nicht in erster Linie auf die Größe der Gabe, sondern auf das Herz, das dahinterstand. Bei aller seiner Liebe war er auch ein kühler Rechner, der mit Pfennigen zu rechnen verstand. Durch, seine Berichte über die Arbeit, die der „Bote von Bethel" ins Land hinaustrug, öffnete er die Augen für die Not und machte die Herzen warm; so wurden die Hände willig zum Geben. Er hat es sich bis an sein Ende nicht nehmen lassen, persönlich zu danken. Wieviel tausendmal hat er seinen Namen unter die Dankkarten gesetzt, und wieviel persönlichste Bande sind zwischen ihm und seinen Gebern entstanden! Vom „Dank- o r t" gehen noch heute die Bestätigungen der kleinen und kleinsten Gaben aus. So entstand um Bethel herum eine Bethel-Gemeinde, die mit ihren Gebeten und ihren Gaben dieses ganze Werk trug.

Wurde Bodelschwingh gefragt, wem denn nun Bethel gehöre, dann antwortete er gelegentlich; „der ganzen Christenheit". Er fühlte sich als der Beauftragte, der nichts weiter tat als diesen Dienst, der ihm ans Herz gelegt war. Damit diente er zugleich seinem Volk, schaffte den Kranken Licht und Leben und bewahrtedas deutsche Volk davor, daß diese Kranken sich vermehrten und die Last noch größer machten. So war er auch in dieser Beziehung seiner Zeit weit voraus.

Bodelschwingh hat es immer abgewiesen, als „G r ü n d e r" von Bethel zu gelten. Es waren ja schon einige Kranke vor seiner Zeit da. Manchmal aber, wenn diese Frage an ihn kam, ging er mit dem Besucher hinaus an ein Grab auf dem Friedhof. Dort lag der blindeHeer- m a n n. Er war früher, noch vor der Erweckungszeit, durchs Land gezogen und hatte den Namen des Herrn Jesu verkündet. „Der hat", so sagte Bodelschwingh, „die gläubigen Pastoren ins Land gebetet". Diese Antwort ist bezeichnend. Bodelschwingh nannte nicht die großen Erwek- kungsprediger, sondern diesen stillen, den meisten unbekannten Mann. Er hatte die Augen, die tiefer in die Anfänge eines göttlichen Werdens hineinzusehen verstanden als andere.

In Bethel selbst wurde Vater Bodelschwingh ■— diesen Namen hatte er längst bei allen seinen Kranken und weithin im Lande •— vor eine neue Not gestellt. Eines Tages stand ein Wanderer vor ihm, der ihn bat: „La s - senSiemichinBethelbleiben!" Bodelschwingh kannte die Not der Wanderer schon aus seinen Studentenjahren und aus Paris. Er hatte auf seiner Wanderung gelegentlich Handwerksburschen getroffen und erfahren, wie sehr bei ihnen die Fundamente des christlichen Glaubens und Lebens unterhöhlt waren. Er hatte sich um die Herbergen und um ihren Weiterausbau bemüht, um die Wanderer vor den Gefahren der Landstraße zu bewahren und ihnen für die Nacht eine menschenwürdige Bleibe zu schaffen, hatte auch hier seine Stimme erhoben und um Hilfe gerufen. Der Wanderer vor ihm wollte mehr, er wollte, weil er des Wanderns müde war, eine Heimat. Auf Bodelschwinghs Antwort: „Du bist ja nicht fallsüchtig, darum kann ich dich nicht behalten" hat er wie das kanaanäische Weib geantwortet: Ja, Herr, aber doch —- „ich bin auch fallsüchtig." In diesem Mann standen vor Bodelschwingh die vielen Tausende von der Landstraße, die niemand mehr nimmt, die zumeist mit ein paar Pfennigen an der Tür abgespeist werden, die doch keine Hilfe bedeuten, sondern den Wanderer nur tiefer ins Elend hineinstoßen. Die Pfennige wurden meist wieder in Schnaps umgesetzt und der Anfang zu einem neuen und noch tieferen Fall. „U n - barmherzigeBarmherzigkeit" nannte Bodelschwingh solch gedankenloses Geben. Im Grunde wurde der Charakter der Bettler dadurch noch weiter verdorben, sie mußten auf den Gedanken kommen: Es geht auch ohne Arbeit, man bettelt sich eben durch.

Seine nimmermüde Liebe fand auch hier einen Weg der Hilfe. Im Oedland der Senne schuf er für die Wanderer, die lieber arbeiten wollten als betteln, eine Heimat, kleine Häuser, deren Schlafsäle später in Kabinen eingeteilt wurden und mit einem Tagesraum für den Aufenthalt. So hatte jeder ein ganz kleines Zuhause, seine drei Wände, die vierte war der Vorhang. So war er wieder persönlich genommen, wie Gott jeden einzelnen persönlich nimmt, er hatte einen Platz, ein Gebetskämmerlein, um sich herauszubeten aus seiner inneren Not, und hatte Arbeit. Oedland kultivieren, mit Hacke und Spaten arbeiten, das konnte schließlich noch jeder. Eine feste Hausordnung mit eingeteilter Arbeits- und Freizeit, mit Andachten abends und morgens und den Gesängen der alten Choräle regelte den Tageslauf. Wieviel, was in einem harten Leben verschüttet war, wachte da in den Herzen wieder auf! Was für ein Unterschied: draußen auf der Landstraße ohne Arbeit, ohne Hoffnung, ohne Zukunft, ohne Brot und immer wieder vor der verschlossenen Tür, und in der „Arbeiterkolonie", so nannte Bodelschwingh diese Heimstätte Wilhelmsdorf : Arbeit, Brot, Heimat, Gottes Wort und die Möglichkeit zu seelsorger- licher Aussprache. Nicht mehr überflüssig und abgewiesen, sondern brauchbar und eingeladen, früher abgerissene „Kunden", die um die Schnapsgroschen bettelten („fechten gingen") — jetzt Bodelschwinghs „liebe Brüder von derLandstraße".

Nach dem Tode des alten Vaters hat Johan- nesTrojan in der „Münchener Jugend" ein kleines Gedicht veröffentlicht, das die Stimmung und den Dank des Wanderers zum Ausdruck bringt:

„Ein Kunde war ich, duft und fein, stets ohne Moos und Fleppe.

Ich kehrt' in jedem Wirtshaus ein und stieg jedwede Treppe.

Als mir die Straßen, die ich ging, zum Hals herausgehangen, bin ich zum Vater Bodelschwingh

nach Wilhelmsdorf gegangen.

Das war ein Kerl! Wie väterlich sprach er mir ins Gewissen, und „Bruder, Bruder" nannt' er mich; das hat mich fortgerissen.

Zum Spaten griff die träge Hand, die sonst nur Klinken drückte, und grub und grub im Ackerland, und die Bekehrung glückte.

Nun ist der Patriarch zur Ruh'.

Wie einst mit allem Volke, spricht er mit Petrus jetzt per „Du" auf einer Himmelswolke.

Der revidiert den Ankömmling gestreng und sagt die Worte:

„Die Fleppe stimmt, Herr Bodelschwingh, herein zur Herbergspforte!"

Diese erste Kolonie im Jahre 1882 blieb nicht die einzige. Südlich von Bremen, in Freistatt, hatte der alte Vater eine große Oedlandfläche, ein Hochmoor, in Bearbeitung genommen, und als er im Berliner Asyl für Obdachlose die Plünderte der Hoffnungslosen sah, griff er noch als 74jähriger dieselbe Arbeit für die Berliner Obdachlosen an. Im Norden Berlins, nahe Bernau, entstand 1905 für die Obdachlosen ein „H o f f n u n g s t a 1" — damit sie wieder das Hoffen lernen —, „L o b e t a 1" für jüngere Leute —• damit sie wieder ein Loblied auf die Lippen bekommen — und „Gnadental" für die Alten.



Bodelschwinghs Grundsatz „Arbeit statt Almosen" ist heute nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt als richtig anerkannt.

Der Weg zur Schaffung der Arbeiterkolonien war kein leichter. Als Bodelschwingh diesen Gedanken zuerst aussprach, hat man ihn ausgelacht. Er hat sich nicht beirren lassen. Die Mittel mußte er sich, wie immer, erbitten. Für Wilhelmsdorf übernahm der damalige Kronprinz Friedrich das Protektorat. Für Hoff- n u n g s t a 1 schenkte der letzte Kaiser den Speisesaal, und die Kaiserin war mit dem Prinzen Eitel, der für Hoffnungstal das Protektorat übernahm, bei der Einweihung zugegen. Sie hatte sich ausgebeten, zwischen den Wanderern zu sitzen, was auch zum Entsetzen der Oberhofmeisterin geschah. Bodelschwingh erklärte in seiner Ansprache: „Es ist mir die größte Freude meines Lebens, daß Sie, liebe Kaiserin, einmal zwischen den allergeringsten Ihrer Landeskinder sitzen." Vielleicht hat er auch „Du" gesagt, genau weiß das niemand mehr.

Die Unmöglichkeit dieser Arbeit, die man Bodelschwingh prophezeit hatte, stellte sich als Möglichkeit heraus. Es war möglich, dem Wanderer Heimat zu geben, ihn äußerlich und innerlich aufzurichten, ihm seine Selbstachtung wiederzugeben, ihn in Arbeit zu vermitteln und so wieder in das Leben einzufügen. — „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt." An Hoffnungstal, seiner letzten Gründung, hing sein Herz mit besonderer Liebe.

Dienst am Arbeiter

„Wir wollen daran arbeiten, daß durch die Kraft des Evangeliums jeder Deutsche sein Stückchen Sonne hat."

Das Kleine, Verlorene, Unscheinbare, Verachtete und Leidende hat Vater Bodelschwingh

nicht mit menschlichen Augen gesehen, sondern mit den Augen des Glaubens. In ihnen erschien ihm der Herr Christus, zwar verhüllt und verborgen, aber doch der Herr, nach seinem eigenen Wort: „Was ihr getan habt einem unter

diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr m i r getan." Bodelschwingh wußte auch, daß der Herr Christus noch in einer anderen Gestalt über die Erde geht, in der Gestalt der Gemeinde, die an ihn glaubt. Wo die beiden Gestalten, die glaubende Gemeinde und der verhüllte Christus, sich treffen, da entsteht allemal ein Stück Himmelreich. Davon hat nicht nur die Gemeinde ihren Segen und die, denen geholfen ist, sondern das Volk, in dessen Mitte die Gemeinde lebt. In der so verschiedenartigen Not hat Bodelschwingh nicht nur die Not gesehen, sondern auch die Quellen, aus denen diese Nöte entsprangen. Daß er diese Not im Glauben anpackte, ohne zu fragen, was die Verwaltungen der Länder oder die Regierungen dazu sagten, daß er Wege wies, die mit Erfolg begangen werden konnten, war sein Verdienst. Bodelschwingh gehörte eben nicht zu denen, die nur an der Pumpe stehen, wenn das Schiff sinkt, sondern zu denen, die das Leck verstopfen wollen.

In seiner Arbeit an der Not mußte Bodelschwingh notwendigerweise auf die Spuren des kapitalistischen Systems stoßen, das Deutschland zwangsläufig aus einem Agrarstaat in einen Industriestaat verwandelte. Er sah wohl den gewaltigen Aufschwung, er sah aber auch die entsetzlichen Folgen, die seelische Entwur-

zelung der Menschen, ihre Entfremdung vom Boden und die daraus entstehende Heimatlosigkeit und alle damit zusammenhängenden Verfallserscheinungen des Volkslebens. Durch den äußeren Glanz ließ er sich nicht blenden. Als sein Freund Adolf Stoecker, auch ein Kämpfer und Diener der Liebe, den marxistisch beeinflußten Massen, die dem liberalistischen Zeitgeist verfallen waren, die Worte zurief: „Es kommt darauf an, die ganze heutige Gesellschaft an der christlichen Weltanschauung zu mustern und allem, was derselben widerstrebt, den Kampf anzusagen", da stand Bo d eise hwingh an seiner Seite. Als zuerst Bismarck und dann das Kaiserhaus Stoecker fallen ließen, hat Bodelschwingh sich treu und tapfer für seinen Freund Stoecker eingesetzt, ohne Rücksicht auf seine eigenen Beziehungen zum Kaiserhaus. 1885 schrieb er an den Kronprinzen Friedrich Wilhelm:

„Ich glaube, daß auf dem Kampfplatz, den Stoecker betreten, auf dem christlich-sozialen Boden, der Entscheidungskampf der Zukunft liegt, und daß, wenn das Banner im Kampfe sich neigen sollte, das er erhob, auch die Tage des christlichen deutschen Kaiserreiches und die Tage unseres geliebten Hohenzollernhauses gezählt sind, was Gott in Gnaden verhüten wolle."

Ein Menschenalter später war diese Prophezeiung Wahrheit geworden, damals hat man sie nicht gehört. Auch Bodelschwingh stand in der Tragik der Menschen, die eine prophetische Schau haben, die selber das Unheil sehen und den Weg der Rettung wissen, die aber vergeblich rufen und das Unheil nicht abwenden können.

Die Not der Gramenzer Landarbeiter, die aus- gewanderten Deutschen in Paris, die mit Hilfe des dort verdienten Geldes sich in der Heimat eine eigene Scholle kaufen wollten, das Absinken der Industriearbeiter, die keine Heimat hatten, machte ihm klar: die größte äußere Not liegt in der Loslösung vom Boden. Bodenlosigkeit kann ein Volk in bodenlose Tiefe versinken lassen. Als er seine Ackerbaukolonie Wilhelmsdorf gründete, wollte er den Boden urbar machen und, wenn irgend möglich, die, deren Schweißtropfen in diesem Boden steckten, dort ansiedeln. Dazu ist es nicht gekommen. Die in den Kolonien aufgenommenen Wanderer hatten nicht den „Schuß Eisen im Blut", den der Siedler braucht, um sich durchzukämpfen.

Konnte er in dieser Richtung selber zunächst nichts tun, so stellte er die Siedlerfrage in das Licht der Oeffentlichkeit. Auf dem ersten evangelisch-sozialen Kongreß hielt er 1890 den Hauptvortrag: „Mehr Luft, mehr Licht und eine ausreichend große eigene Scholle für den Arbeiterstand!" Er erzählte von einer Witwe, die mit sieben Kindern in einer nicht heizbaren Kammer wohnte und für alle zusammen nur ein Bett hatte, das nachts durch eine schmale hölzerne Bank ein wenig verbreitert wurde: — „Das ist meine Banke", sagte die Mutter. Sie legte sich auf das harte Brett, um den Kindern noch den

besseren Teil des elenden Lagers zu gönnen. Menschlicher Rechnung nach war es nach seiner Meinung schon zu spät, die Sturzflut des Umsturzes aufzuhalten. Aber das war für ihn nicht entscheidend, seine Frage war: „Was ist hier Recht und Pflicht vor Gott?" Er forderte, daß jedem deutschen Arbeiter ein StückBoden gegeben werden müsse, damit er ein Vaterland habe und eine Liebe zum Boden und zum Volk, er sprach von der Schuld derKirche, die nicht laut genug von dieser Not schrie, nicht zu Gott und nicht zu den Menschen. Er zeigte, wie leicht der S t a a t es hätte, von seinen fiskalischen Grundstücken zu geben und Baumeister auszubilden, die es verstünden, gute und billige kleine Häuser zu bauen. Er mahnte die Bürgermeister der Städte und die Ratsherren. Er wies auf die Sparkassen hin, die leicht billiges Baugeld geben könnten, das nirgends sicherer angelegt sei als in ersten Hypotheken an den Häusern der kleinen Leute, die all ihren Verdienst und ihre Spargroschen in die kleinen Lauben und Schrebergärten vor den Toren der Großstadt stecken, um nur einmal Boden unter den Füßen zu haben. „Kauft die Zeit aus", rief er, „wie lange diese günstigen Stunden noch dauern werden, ist unseren Augen verborgen; wir wissen nur gewiß, daß die Nacht kommt, da niemand wirken kann." Immer wieder hat er gesagt: „Es kostet viel mehr, einen Menschen langsam zugrunde zu richten, als ihm zur rechten Zeit zu helfen." Erst muß etwas passiert sein, eher sinnt niemand auf Abhilfe. Bodelschwingh

5 Bodelschwingh





allein war mit seiner eigenen Kraft und den ihm zur Verfügung gestellten Mitteln nicht imstande, dem Volksganzen zu helfen, das mußten die Regierungen tun; denen schärfte er unaufhörlich das Gewissen.

Als 78jähriger schreibt er ein kleines Heft; „Arbeitslosenelend und Notstandsarbeiter" mit dem Vorwort: „Eine sehr dringende Bitte an den deutschen Reichstag" und spricht zwei Bitten aus; „1. Gib jedem notleidenden deutschen Arbeiter nutzbringende Arbeit! 2. Gib ihm ein Gesetz, welches die vorhandene Arbeit auf deutschem Boden gleichmäßig verteilt, dann ist sofort für alle Arbeitslosen reichlich Arbeit vorhanden." Der 73jährige läßt sich um seiner Wanderer willen in den Preußischen Landtag wählen, um in Preußen die Errichtung von Arbeiterkolonien, Herbergen und Wanderstraßen durchzusetzen. Er schreibt: „Volle 25 Jahre bin ich in gleicher Bettlereigenschaft vor den noch tauben Ohren des Abgeordnetenhauses gelegen, um für meine Brüder von der Landstraße die gleiche Gunst zu erbitten, bis endlich am 29. Juni 1917, nachdem ich 47mal in dieser Notsache von Westfalen nach Berlin gereist war, die Gewährung kam, freilich auch erst in einer schwer verstümmelten Gestalt."

Es gehört zu seinen schmerzlichsten Erlebnissen, daß seine politischen Freunde ihn hier, bei dem Kampf um dieses Gesetz, im Stich ließen. Das Reichsgesetz für die Wanderer ist b i s h e u t e nicht gekommen. Vater Bodelschwingh ist darüber gestorben.

In derselben Sache hatte er im Jahre 1904 an den damaligen preußischen Finanzminister geschrieben:



„Eine letzte bescheidene Bitte!

Ew. Exzellenz

gaben mir bei unserer letzten Begegnung mit voller Deutlichkeit zu verstehen, daß ich mit meinen Bitten für das Wanderarmengesetz nun gerade genug geleistet habe und Sie weiteres Drängen nicht ertragen könnten. — Ich gebe Ihnen darin vollständig recht; ich gestehe, daß ich nie in meinem Leben so anhaltend, so unverschämt, so bis aufs Blut einen Menschen mit Bitten gepeinigt habe wie Ew. Exzellenz. Vorgänger hat Aehnliches von mir erlitten. — Ich habe aber auch noch niemals ein solches Recht, ja eine solche heilige Pflicht zum Bitten gehabt — aber ich gestehe ein, daß ich auch vollständig am Ende meiner Leistungsfähigkeit bin auf diesem Gebiete."

Fand Bodelschwingh bei seinen Bitten taube Ohren, dann griff er selbst mit aller Kraft und den ihm gegebenen Möglichkeiten die Aufgabe an. Die Ausdehnung Bethels brachte es mit sich, daß in dem kleinen Tal ein Bauernhaus nach dem anderen der Anstalt einverleibt wurde. Bodelschwingh hatte sich darüber wenig Gedanken gemacht, zumal viele der Besitzer durch Trunk und schlechte Wirtschaft zugrunde gingen. Als er bei einem Brand in Bethel hörte: „Das ist recht, daß es bei Bodelschwingh brennt, warum nimmt er uns unsere Häuser?", da gingen ihm die Augen auf. Er schuf Abhilfe. Dicht vor Bethel wurde ein Grundstück gekauft und in acht Bauplätze eingeteilt. Hier entstanden die ersten acht Arbeiterheimstätten, Einfamilienhäuser mit einem kleinen Garten. Sie waren schnell vergeben. Es mußten immer neue geschaffen werden, so entstand ein großer Kreis von Arbeiterheimstätten rings um Bielefeld. Der Verein „Arbeiterheim" wurde gegründet, um Kapital zu schaffen. Als das nicht genügte, machte sich Bodelschwingh wieder auf seinen „Bettelweg". Im Jahre 1907 hatte er durch sein rastloses Bemühen erreicht, daß ein Ministerial- erlaß herauskam, der den Rentenbanken gestattete, auch Grundstücke von nur einem halben Morgen Größe bis zu drei Vierteln ihres Gesamtwertes zu beleihen. So war auch hier geholfen. Es trat aber ein neues Hindernis ein. Zum Bauen gehörte Land. In der Nähe der Siedlungen gingen die Bodenpreise sprunghaft in die Höhe. Bodelschwingh war längst mit Damaschkes Bodenreform vertraut, konnte sich aber mit seinen Forderungen nicht befreunden und hatte ihn abgelehnt.



Adolf Damaschke erzählt, wie bei ihm eines Tages die Tür aufgeht und Bodelschwingh hereinkommt. Ehe Damaschke ihn begrüßen kann, fängt er an: „Bruder Damaschke, hier ist ein Sünder, der Buße tun will. Ich muß beichten. Ich habe manchmal gedacht: da sitzt Damaschke und schreibt und fordert Gesetze über Bodenreform, ja, warum eigentlich? Ich bin ein viel besserer Bodenreformer, ich fange an! Ich baue Häuschen für die kleinen Leute. Und nun ist es so gekommen, wie du immer gesagthast. Mit jedem Häuschen, das ich baute, stieg der Preis der Nachbargrundstücke, schon passen Spekulanten auf, wo wir mit unseren Siedlungen hingehen. Es hilft nichts, der Bodenwucher schnürt uns den Hals zu."

So war Bodelschwingh immer bereit, einzugestehen, was er nicht richtig gesehen hatte, und zu lernen. Dabei war er aller Theorie abhold.

Als er einmal in Basel gefragt wurde: „Wie denken Sie über die soziale Frage?", antwortete er: „Darüber habe ich nicht nachgedacht, das ist mir viel zu theoretisch." Wo er aber praktische Wege sah, da griff er mit tatbereiter Liebe zu.

Erziehungsarbeit

„Was will die Jugend unserer Zeit?

Nichts anderes als neue Antworten

auf uralte Fragen."

Erziehen —- christlich verstanden — ist nichts anderes als helfen, Menschen zu Jesus zu ziehen. Das kann nun eigentlich keinMensch; Jesus sagt: „Es kann niemand zu dir kommen, es ziehe ihn denn der Vater." Das tiefe Wissen Bodel- schwinghs um alle Erziehungsarbeit war: Nur der von Gott Gezogene und Erzogene kann solchen Erzieherdienst leisten. Er leistete ihn so, daß die anderen merkten: der läßt sich von Gott erziehen. Neben seinem Amtszimmer hatte er sein Gebetskämmerlein, in dem der Gekreuzigte hing. HierwurdeBodelschwingher- zogen. So kam es, daß seine Umgebung sein Wort gern annahm, weil sie merkte, daß er selber auf diesem Wege der Mensch geworden war, den sie vor sich sahen. Und der war etwas. Er war es gerade dadurch, daß er nichts aus sich machte. Seine Person trat immer zurück, die Sache, die Arbeit, die er trieb, war Numero eins, er selbst Numero zwei; aber gerade das ist der Weg, auf dem Gott sich seine Leute erzieht. Um so besser kann er selber durch den Menschen

„hindurchtönen" (per-sonare). So wurde Bodel- schwingh Persönlichkeit.

Seine Erziehungsarbeit bestand darin, daß er das, was ihm von Gott geschehen war und immer wieder geschah, für seine Mitarbeiter, seine Gemeinde, die Kranken und Gesunden erhoffte, erbetete und erflehte. Weil er vorher mit Gott überden Menschen gesprochenhatte, wurde ihm das rechte Wort der Erziehung in den Mund gelegt, das Wort, das erschütterte. Als er im Berliner Obdach den Arbeitslosen erzählt hatte, wie er ihnen Arbeit und Brot geben wolle und dazu Geld brauche, legte er einem der dabeistehenden 20jährigen die Hand auf die Schulter und sagte: „Du mußt mir dazu 500 Mark borgen, wo hast du die 500 Mark?" Der Mann hat nicht gelacht, er war auch nicht empört; mit dieser Frage war seine ganze Vergangenheit aufgedeckt und gerichtet, hoffentlich zu einem neuen Anfang. — Als er in seinen letzten Tagen durch Eckardsheim im Rollstuhl gefahren wurde, rief er einen schwererziehbaren Jungen heran, sprach mit ihm in seiner gewinnenden, väterlichen Weise, legte ihm die Hand auf den Kopf und hieß ihn gehen: „Gott segne Dich!" Dieser Junge war ein rechter Taugenichts in seinem Hause, Bodelschwingh wußte es gar nicht. Am Nachmittag fiel dieser Junge dem Pfleger auf, weil er so ganz still dasaß. „Hausvater", meinte der Pfleger, „der Fritz brütet wieder etwas aus." Der Hausvater nahm den Jungen beiseite, der erzählte dann, was ihm geschehen war. „Alle haben mich bisher immer gescholten, Gott segne Dich! hat noch kein Mensch zu mir gesagt." Der Junge war fortan wie verwandelt.

In diesem besten Sinne war Bodelschwingh Erzieher. Darum konnte er auch Geduld haben mit den Menschen. Für ihn gab es keine Subjekte und Objekte der Erziehung, keine Erzieher und Zöglinge; die anderen waren mit ihm Objekte der Erziehung Gottes, Gottes Zöglinge und Kinder. So erzog er von sich selbst fort, zu Christus hin: „Er muß wachsen, ich aber muß

abnehmen." Das war die Erziehung, in der er selbst stand. — Die uralte Frage der heranwach- senden Jugend: „Was soll das Leben? Was soll ich in der Welt?" wurde ihnen beantwortet, wenn sie Bodelschwinghs Leben und Wirken ansahen. Das war wirklich Leben, dabei bedürfnislos, schlicht, und doch von der eigenen Hoheit, die aus der echten Nachfolge Jesu kommt. Rein pädagogisch gesehen war seine Erziehung manchmal ganz und gar „unpädagogisch". Den kleinen Mädchen in Paris ausgerechnet sofort vom Gekreuzigten zu erzählen, war wirklich unpädagogisch, aber wirksam. Wenn er am Geburtstagmorgen der Tochter einen Kuß gibt und sagt: „Mein liebes Kind, verzeih mir alles, was ich an dir versäumt habe", so war das auch ganz und gar unpädagogisch, aber in diesem Augenblick stand er mit der Tochter zusammen vor dem Angesicht des Herrn und dadurch in der tiefsten Verbundenheit. So allein kommt es zu dem innersten Vertrauen zwischen Zögling und Erzieher, wie es sich viele wünschen. „Nichts verbindet Menschenkinder so tief und so fest, als wenn sie gemeinsam auf den Heiland schauen", das ist das Geheimnis seiner Erziehung.

Es war eine Erziehung zur Freude; denn wer auf den Heiland schaut, kann erst fröhlich werden. Seine Erziehung drückte nicht, er ließ dem anderen Menschen seine andere Art und war zufrieden, wenn er mit ihm die Front zum Kreuz und die Freude an der Vergebung hatte. Seine Mitarbeiter wurden nicht seine Kopien. Wie er seine Arbeit angesehen wissen wollte, zeigt der Besuch des ersten Pastors in Hoffnungstal, den er für diese Arbeit gewann. Ihn hatte Bodelschwingh eingeladen, sich Hoffnungstal anzusehen und dann nach Bethel zu kommen. Nun war damals Hoffnungstal noch klein, und der Pastor meinte, er wäre doch eigentlich für diese Arbeit zu schade; aber als er zu Vater Bodelschwingh kam, ging ihm der mit ausgebreiteten Armen entgegen: „Du bist also das liebe Brüderchen, das nach Hoffnungstal will. Es gibt keine schönere Arbeit als die,-- denke dir, du kannst die Engel im Himmel singen machen, wenn es dir gelingt, einem Menschen von seinem bösen Wege zu helfen." So wurde der Mann für den Dienst gewonnen.

Diese Art der Erziehung ließ dem anderen die Selbständigkeit, ja weckte sie erst; denn der Erzieher mußte dem anderen ganz offen sagen: „Ich kann dir nicht helfen, ich kann dir aber den nennen, von dem i c h mir helfen lasse." In diesem Sinne hat Bodelschwingh erzogen. In diesem Sinne wurden in Bethel Kranke und Gesunde erzogen, in der Schule des Leides und der Freude erzogen sie sich gegenseitig mit der Gabe und der Rute, die einer für den anderen in Gottes Auftrag hat.

Von seiner „Pädagogik" aus sah Bodel- schwingh auf die Erziehung in den Schulen und Gymnasien; es gab keine Anstalten, in denen so erzogen wurde. Das evangelische Gymnasium in Gütersloh war für ihn die Stätte, die nach seiner „Pädagogik" arbeitete. Dieses Gymnasium lag ihm sehr am Herzen.

Nach dieser „Pädagogik" wollte er auch die Pfleger und Pflegerinnen für seine Kranken erzogen wissen, darum erzog er sie im praktischen Dienst der Liebe. Als einmal ein Pfleger sich beschwerte, daß ein Kranker in einem Wutanfall sich auf ihn gestürzt habe, sagte Bodel- schwingh; „Brüderchen, die Prügel hattest du längst verdient."

Es ist kein Zweifel, daß solche Erziehungsarbeit nur der Erzieher leisten kann, der sich immer wieder unter das Wort Gottes stellt. Darin sah er den Mittelpunkt der ganzen Arbeit: „Das Wort Gottes muß euch Zusammenhalten."

Für eine lebendige Kirche

„Jeder Organismus kann nur durch die gleichen Kräfte erhalten werden, die ihn geschaffen haben."

Paris, Dellwig, Bethel waren Zeugnis geworden für das Wirken des Auferstandenen. Bodel- schwingh hat immer wieder erlebt, daß da eine lebendige Gemeinde entsteht, wo das Wort vom Kreuz und vom Auferstandenen verkündigt wird. Aus dieser Verkündigung kamen immer neu die Kräfte zur Erhaltung seines Werkes. Darum war für ihn und seine Gemeinde das Wort Gottes das tägliche Brot. Er wurde nicht müde, überall im Lande von der Freude zu berichten, die durch das Wort in den Herzen der Kranken und Elenden entstand. Christus war nicht ein Mensch der Vergangenheit, sondern erwies sich als der Lebendige und als neue Hoffnung. Dieses Leben von oben wünschte er als ein echter Missionar für sein ganzes V o 1 k. Er fühlte sich als Schuldner der Christenheit und vor allem seines Vaterlandes.

Diese innere Stellung hat ihn nicht etwa unfähig gemacht für die irdische Arbeit; im Gegenteil, er hat den Heimatsinn gepflegt, ganz Bethel hat an den vaterländischen Festen seiner Zeit teilgenommen; in allen Schichten des Volkes, vom armen Mütterchen angefangen bis zum Kaiserhaus, hatte er seine Freunde, er war ein Mann des Volkes. Er hat Einfluß zu nehmen versucht auf die Gesetzgebung zugunsten der Aermsten, wenn es ihm not schien. Er war nicht weltfremd; ernst und entschlossen aber wies er auf das Bürgertum im ewigen Reich Gottes hin, zu dem Christus berufen, und gewann gerade dadurch den inneren Abstand vom Haß und Streit der Parteien und die rechte Stellung zu allen irdischen Gegebenheiten, um wie von höherer Warte aus zu raten und zu führen. Er hat mit größter Freiheit und Unbefangenheit auch an den höchsten Stellen gesprochen, wenn sein Verantwortungsgefühl ihn dazu trieb. Und er hat sich Gehör verschafft, denn man merkte: er redete, weil er mußte. Er wußte, daß ein Volk stirbt, in dessenMitte der Herr Christus keinen Platz mehr hat. Hier dachte Bodel- schwingh genau wie Luther, wie Stoecker und Wiehern und arbeitete in ihrem Sinn.

Sein Blick war frei genug, um die tiefen Schatten der Kirche zu sehen, den bürokratischen Apparat an der Stelle des brennenden Herzens, die Gleichgültigkeit an der Stelle des Missionseifers, die erstarrte Sitte an Stelle des Lebens aus Gott. Christliches Leben bedeutete für ihn: Liebe der Gemeinde, Bruderschaft der Herzen. „Wenn ich nur selig bin, das ist die Art und die Unart des Menschen", sagte er gelegentlich. Echte Frömmigkeit führt immer zur Gemeinde.

Da ist Gemeinde, wo jedes Gemeindeglied etwas für den Herrn Jesus Christus tun will; dazu ist keiner zu schwach. Glauben muß dazu führen, sich selbst in den D i e n s t zu stellen. Darin ging Bodelschwingh voran. Als die Zionskirche gebaut wurde, stand er selbst auf dem Gerüst; als er den Wanderern in Bethel die Arbeit des Steineklopfens anbot, mit der sie ihr Mittagessen verdienen sollten, klopfte er selbst mit. So kam in der Gemeinde ein fröhliches Wetteifern im Dienen zustande. Die Steine und den Sand für die Zionskirche haben die epileptischen Kranken mit ihren Händen und Schürzen auf den Berg hinaufgetragen. So konnten sie sagen: „Das ist unsere Kirche."

Aller echte Glaube beweist, daß es ihm um den Menschen geht, um sein Heil und ewiges Leben. Wie konnte Bodelschwingh zornig werden, wenn er diesen heiligsten Grundsatz des Christenlebens verletzt sah!

Als er in B e r 1 i n bei dem Oberbürgermeister Kirschner zur Aussprache über das Wanderarbeitsstättengesetz das Wort nahm und erlebte, wie ein Bürgermeister nach dem anderen sich über die finanzielle Last dieses Gesetzes beklagte, fragte er leise in den Saal hinein: „Wo sind denn hier die Staatsanwälte?" Als niemand antwortete: „Liebe Staatsanwälte, ich weiß doch, daß ihr hier seid, steht doch bitte einmal auf!" Und als sie standen, sprach er: „Ihr lieben

Staatsanwälte, jeder von euch hat jedes Jahr so und so viele meiner Brüder von der Landstraße ins Gefängnis gesetzt, und ihr gehört doch ins Gefängnis mit eurer unbarmherzigen Gesetzgebung. Ich höre nur: Geld, Geld und immer wieder Geld, aber keiner redetvon den lebendigen Menschen, die umhergehetzt werden, mit Almosen abgespeist statt mit Arbeit . ." In diesem Kreis war dies Wort eine Tat.

Mit der gleichen Glut heiliger Liebe konnte er rücksichtslos auch gegen seine Freunde auftre- ten, wenn sie nach seiner Meinung eine Entscheidung getroffen hatten, die gegen die Liebe verstieß. Er hat, wie sein Sohn erzählt, einmal als alter Mann ein für ihn zurechtgemachtes Quartier nicht angenommen, weil man eine wichtige Frage, ohne ihn anzuhören, falsch entschieden hatte. „Ich höre noch seine Stimme", schreibt GustavvonBodelschwingh: „Wenn ich bis hierher rot gewesen bin vor Zorn, so werde ich jetzt weiß." Auf dem kümmerlichen Lager im Gasthof verbrachte Bodel- schwingh eine schlaflose Nacht, um am nächsten Morgen mit neuer Glut seinen Kampf fortzusetzen. Er drang schließlich durch, gewann aber zugleich mit seiner Demut und Freundlichkeit die Herzen aller. Am Abend bezog er dann das ihm zugedachte Gastzimmer. Es ist Tat des Glaubens, zu der die Gemeinde fähig sein muß, daß sie in wichtigen Dingen kein Nachgeben und keinen Frieden kennt, sondern mit aller Glut ihrer Liebe sich durchkämpft, bis sie den Sieg errungen hat. Sie muß es, weil sie nicht selbst entscheiden darf, sondern weil sieandasWort Gottes und die Liebe gebunden ist.

Bodelschwingh hatte darunter gelitten, daß um 1887 Fürst Bismarck sich weigerte, nach dem Kulturkampf die enge Bindung der evang Kirche an den Staat zu lockern und ihrem Eigenleben Raum zu gewähren. Er schrieb an seinen Freund Hans vonKleist-Retzow:

„. . . Kurz und gut, es gehen einfach Seelen verloren über diesen staatlichen Zwangsschuhen, in die wir eingepreßt werden. ... Es ist die Stunde gekommen, wo wir es für einen Verrat an den uns anvertrauten großen Schätzen und namentlich an den uns anvertrauten Menschenseelen ansehen würden, wenn wir es ferner zuließen, daß der konfessionslos gewordene Staat sich die Leitung der evangelischen Kirche anmaßte. . . . Man muß es Bismarck ins Gesicht sagen, daß wir die evangelische Kirche, von deren Bedürfnissen er nichts versteht, nimmermehr den Rücksichten der Politik opfern, und daß der Widerstand, den er in der katholischen Kirche gefunden hat, nur ein kleines sei von dem, was er von der evangelischen Kirche zu erwarten habe. Er dürfe sich auch nicht die leiseste Hoffnung machen, daß seinem Widerstand in dieser Beziehung Rechnung getragen werde, und daß er lieber zehntausend evangelische Geistliche einsperren dürfe (und es verlangt mich von Herzen, daß ich auch einmal ins Gefängnis gerate), als daß man sein Gewissen in dieser Beziehung weiter verletzen werde. Gott wolle geben, daß bei aller Nüchternheit und bei allem I.eidenssinn, zu dem wir uns schicken wollen, doch die Posaunen der evangelischen Kirche einen einmütigen, klaren Ton abgebenl"

Der Tatbeweis des evangelischen Glaubens ist und bleibt, daß er selbst das Wort Gottes hört und in aller Freimütigkeit und furchtlos sagt.

Praktische Erziehung der Theologen

„Wahre Diakonie ist es, die hohe Wissenschaft der Liebe zu lernen und das Examen demütigen Dienstes zu bestehen."

Vater Bodelschwingh wußte aus seinem eigenen Leben, wie das Studium der Theologie bei beständiger glaubensloser Kritik geeignet ist, das vorhandene Glaubensleben zu gefährden und dem Menschen alle Freudigkeit zum Dienst am Wort zu nehmen. Wo die rechte Verkündigung des Wortes fehlt, kann das Feuer des Glaubens nicht angezündet werden; wo der Glaube fehlt, kann auch keine Liebe entstehen. Er wußte aus seinem Bethel und auch aus anderen Stätten der Inneren Mission, daß sie alle getragen wurden von der Liebe, die aus dem Glauben kommt, und hat es sich immer wieder angelegen sein lassen, mitzuhelfen, daß neuer Glaube entfacht würde. Er reiste selbst im Lande umher und stellte auch seine Mitarbeiter zu Festen der Inneren Mission zur Verfügung, um Glaubensleben in den Gemeinden zu wecken. Zwangsläufig richtete sich sein Auge daher auch auf die, die in der Ausbildung des Studiums standen. Er hatte um 1894 zu einer Besprechung über die Gründung einer freien theologischen Fakultät aufgerufen, war aber auf schärfstenWiderspruch gestoßen. Es wurde nichts weiter daraus als ein Studienhaus in Bonn.

Brennend fiel diese Not in Bodelschwinghs Herz, als ein Pastor, dessen Sohn Theologie studieren wollte, klagte, er wisse nicht, wo er seinen Sohn hinschicken solle. Glaubenslosen Lehrern wollte er ihn nicht ausliefern, hatte auch Furcht vor dem bösen Leben vieler Universitäten, wo junge Studenten an Leib und Seele verderben konnten. Im Jahre 1904 hatte sich Bodel- schwingh mit Pastor D. S. J a e g e r in Eisleben in Verbindung gesetzt, um mit ihm den Plan einer Theologischen Schule in Bethel zu beraten. Es gelang ihm, den Mann zu gewinnen. Bodelschwingh wollte gern heraus aus der bösen Zwickmühle, unter der die Ausbildung der Theologen stand: auf der einen Seite die pietätlosen Kritiker von den Hochschulen, auf der anderen Seite unverständige, wenn auch wohlmeinende Verteidiger der Bibel in den Gemeinschaften, die er sonst sehr schätzte. Auch in dieser Frage war er zugleich der Mann des Gebets und der Mann der Tat. Er wußte wohl, daß fromme Lehrer der Kirche nicht von Menschen gefordert, sondern von Gott erbeten werden müssen, andererseits aber auch ein Platz da sein muß, an dem die Studenten im Zusammenhang mit dem Leben einer christlichen Gemeinde sehen, was Gemeinde, Glauben, Gebetsleben und Tat der Liebe ist. So wurde die Theologische Schule in Bethel im Jahre 1904 gegründet. Ein einziger Kandidat hatte sich gemeldet. Als Bodelschwingh dies betrübt seinem Freunde Jaeger mitteilte, antwortete der: „Ich fange auch mit dem einen an." — „Dafür kriegst du einen Kuß", meinte Bodelschwingh. Am Tage der Eröffnung waren es elf. Mehr wollte er gar nicht, „zwölf höchstens", sagte er, „soviel wie der Heiland Jünger hatte."



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