Zeugen des gegenwärtigen Gottes Band 071 Johann Georg Hamann Ein Prediger in der Wüste



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Johann Georg Hamann

ist als der „Magus des Nordens“ bis auf den heutigen Tag vielen ein Wegweiser zur Wahrheit. Wie einst die drei Weisen aus dem Morgenlande kamen, den neugeborenen König der Juden zu suchen, weil sie seinen Stern gesehen, so hat dieser Mann ein ganzes Leben lang durch Schuld und Irrtum, Armut und Not hindurch der verborgenen Herrlichkeit dieses Königs nachgespürt, der Gnade und Wahrheit des Gottes, der sich zu uns herabgelassen.

Das Leben Hamanns, wie es der Verfasser hier in geschickter Verflechtung mit seinem schriftstellerischen Werk darstellt, macht besonders deutlich, unter wieviel Druck und Unvollkommenheit des familiären und beruflichen Lebens dieser „Prediger in der Wüste“, wie er sich selbst bezeichnet hat, seiner geistigen Aufgabe treublieb, ja, daß ihn die Anfechtung von außen erst zum Erkennen und Erfüllen dieser Aufgabe brachte.

Die wichtigsten Schriften Hamanns werden im einzelnen behandelt, ihre geistesgeschichtliche Bedeutung als erste und nahezu einzige Auflehnung seiner Zeit gegen die damalige Herrschaft des Vernunft- glaubens gewürdigt.

Wer der Wegweisung Hamanns folgt, wird für die Offenbarung und Selbstmitteilung Gottes die Augen neu geöffnet bekommen und sich ihr dankbar anvertrauen.



Band 71 der Sammlung
.Zeugen des gegenwärtigen Gottes


Johann Georg Hamann

Ein Prediger in der Wüste


Von

Heinrich Steege








BRUNNEN-VERLAG • GIESSEN UND BASEL





INHALTSVERZEICHNIS

Zeuge der Wahrheit 5

Irrwege der Jugend 8

Ein anderer wird dich führen . . .“ 11



Begegnung mit dem Wort 14

Deuter und Verkündiger 18

Trennung 22

Christus und Sokrates 26

Widersacher und Freunde 33

Harte Dienstjahre 38



Im Kampf mit der neuen Weltanschauung ... 50

Absage an Kant 57

Theologie des Kreuzes 61

Um den Abend wird es licht 68



Fahrt ins Reich und Heimfahrt 74


Copyright 1954 by Brunnen-Verlag, Gießen.

Drude: Buchdruckerei Hermann Rathmann, Marburg/Lahn.





Zeuge der Wahrheit


Es ist ein seltsamer Mann, mit dem die folgenden Blätter uns bekanntmachen möchten. Zweifellos gehört er zu den geistigen und literarischen Größen seiner Zeit. Kant und Herder, Claudius, Lavater und Goethe haben zu ihm aufgeschaut. Nur merkwürdig: selbst in literaturbeflissenen Kreisen mag es wenige geben, die viel mehr als seinen Namen wissen. Das ist leicht zu erklären. Es gibt unter den zahlreichen Veröffentlichungen unseres Denkers kaum eine Schrift, die gut und leicht zu lesen wäre. Hamann führt eine dunkle, unverständliche Sprache. Die Gedanken drängen bei ihm in einer solchen Fülle und Mächtigkeit hervor, daß ihm die Bändigung und Formung sehr schwer wird. Es ist auch gar nicht wirklich sein Bemühen, hell und klar, für jeden einsichtig und faßbar zu reden und zu schreiben. Es geht ihm nicht darum, populär zu werden. Ja, er meint sogar, daß das, was er zu sagen hat, der Menge, auch der geistig bewegten und interessierten, notwendig dunkel und verhüllt bleiben muß und nur den ganz wenigen, die wirklich nach der Wahrheit fragen, sich mitteilt.

Aber was ist das für eine merkwürdige Sache: einer, der sich berufen weiß, als Publizist, als Autor zu wirken, und dabei doch von vornherein darauf verzichtet, wirklich an die Öffentlichkeit zu dringen und das Ohr der Menschen zu erreichen!

Freilich ist das nicht die einzige Widersinnigkeit dieses Lebens. Es hängt hiermit eng zusammen, daß er, der Zeuge sein wollte, Zeuge der Wahrheit, gerade um dieser übermächtigen Wahrheit willen sich nicht meinte in die schlichte Ordnung eines irdischen Berufes fügen zu können, auch nicht in die Ordnung des


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geistlichen Amtes. Dabei hat er aus der Not keine Tugend gemacht. Er hat diesen seinen Weg nicht andern empfohlen; vielmehr hat er den Freund ermuntert, Theologie zu studieren und ein Prediger des Evangeliums zu werden. Er selbst mußte, so hart und bitter das war, ihm selbst und andern imverständlich, als Angestellter des Zolls und städtischer Packhofverwalter sein Leben fristen, bis ihm die Freundlichkeit einiger ihm wohlgesinnter Menschen zu einem etwas freundlicheren Lebensabschluß verhalf. Er ist also in keiner Weise ein erfolg- und ruhmgekrönter Mann gewesen. Seine äußere Lebenshaltung war vielmehr in mancher Hinsicht durchaus fragwürdig, bis hin zu jener merkwürdigen Tatsache, daß er, der doch lebenslang um die Heiligung vor Gott rang, in einer Ehe lebte, die kirchlich nicht eingesegnet war, und die ihm selber nicht als eine wirkliche Lebensgemeinschaft erschien.

Aber nun ist in diesem scheinbar ganz bedeutungslosen und fragwürdigen Leben doch etwas, was bis auf den heutigen Tag viele aufhorchen läßt. Schon die Zeitgenossen haben das gemerkt. Einer, Friedrich Karl v. Moser, Regierungspräsident in Hessen-Darmstadt, schrieb ihm 1760: „Sie haben den Stern gesehen! Lassen Sie andere Irrwischen folgen!“ Er hat dabei sicher an die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenlande gedacht, an die Hamann selbst in einem kleinen Aufsa§ zum Epiphanienfest des Jahres 1761 erinnert. Darin hebt er hervor, daß der Wandel eines Christen in dieser Welt ebensowenig durch vernünftige Beweggründe zu erklären und durch sichtbare Erfolge zu rechtfertigen sei wie die Reise jener Magier in ein fremdes Land, um einem fremden Könige zu huldigen. Es gebe eben „Handlungen höherer Ordnung, für die keine Gleichung durch die Elemente dieser Welt her




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ausgebracht werden kann“. Und der Wandel eines Christen sei „das Meisterstück eines unbekannten Genies, das Himmel und Erde für den einigen Schöpfer, Mittler und Selbsterhalter erkennt und erkennen wird in verklärter Menschengestalt“.

Vielleicht merken wir diesen Worten an, was das für ein Mann ist, der so zu uns spricht. Er läuft nicht, wie die anderen, Irrwischen nach. Er glaubt denen nicht, die das natürliche Licht, das Licht der Vernunft, preisen und verherrlichen und mit ihm auszukommen meinen. Er hat den Stern gesehen. Er weiß, wo uns Menschen in unserer Todesnacht das Licht leuchtet. Und er wird ein Zeuge des Lichtes, — ein Zeuge und Verkünder der Offenbarung des lebendigen Gottes im Wort der Heiligen Schrift. Es sind seit den Tagen der Reformation nicht viele gewesen, die so klar, so unerbittlich die Wahrheit, von der Luther und seine Mitstreiter bewegt waren, ans Licht gebracht haben. Er war kein bequemer Zeuge. Nicht mit Ehre und Anerkennung hat man ihn überhäuft. Er stand unter seinen Zeitgenossen als ein „Prediger in der Wüste“, wie er selber gesagt hat, und das ist ihm bis auf den heutigen Tag so ergangen, — ihm wie allen, die das gleiche Zeugnis vertreten. Und doch hängt für uns heute alles daran, daß gerade dieses Zeugnis wieder unter uns Gehör finde.

Zeuge der Wahrheit wird kein Mensch aus sich selber. Wohl haben die Menschen ihre verschiedenen Meinungen und Weltanschauungen. Aber der Wahrheit bleiben sie fern, bis diese sich selber Gehör verschafft, Menschen in Dienst und Gehorsam nimmt und unter ihren Befehl stellt. Das ist das Wunder und Geheimnis ewiger Barmherzigkeit, daß Gott sich keinem Menschen, keinem Volk, keinem Geschlecht unbezeugt


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läßt, daß er auch in einer Zeit allgemeinen Abfalls einzelne erweckt und zurüstet, sich dem Geiste des Unglaubens entgegenzustellen. Dafür haben wir ein Beispiel, wenn wir den Lebensweg Hamanns überdenken.


Irrwege der Jugend

Als Johann Georg Hamann am 27. August 1730 im ostpreußischen Königsberg seinen Lauf begann, war die sog. „Aufklärung“, die von Frankreich und England ihren Ausgang genommen, bereits zu einer das deutsche Geisteswesen bestimmenden Macht geworden. In seinem Elternhause hatte sie freilich keinen Eingang gefunden. Hier herrschte vielmehr der Geist schlichter Frömmigkeit, wie ihn der Pietismus in weiten Volkskreisen hatte heimisch werden lassen. Der Vater, der aus der Lausitj herübergewandert war, bekleidete das Amt eines Wundarztes und stand als „altstädtischer Bader“ bei der Bevölkerung in hohen Ehren. Nie ist er darum der Versuchung erlegen, an anderen Orten und in anderen Stellungen sein Glück und seinen Ruhm zu vermehren, obwohl ihm dazu oft Gelegenheit geboten wurde. Die Mutter, die aus Lübeck stammte, war darin mit ihm gleichen Sinnes. Eine stille, emsige Hausfrau, die, was der Vater sauer erwarb, mit Umsicht zu hüten verstand. So ging es den Eltern nicht übel; aber sie lebten auch nicht im Überfluß.

Im Geiste schlichter Frömmigkeit suchten sie ihre beiden Söhne zu erziehen. Hamann hat stets mit großer Dankbarkeit und Ehrerbietung von den Eltern gesprochen. Sie waren, wie er sagt, „Feinde des Müßiggangs und Freunde göttlicher und menschlicher Ord


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nung“. Sie sorgten dafür, daß die Kinder frühzeitig von guten Lehrmeistern unterwiesen wurden, und überwachten selber gewissenhaft den Fortgang des Unterrichts. Streng war, dem Geiste der guten alten Zeit entsprechend, die Erziehung. „Lügen, Umtreiben und Näscherei waren drei Hauptdinge, die uns nicht vergeben wurden, und denen wir niemals Erlaubnis hatten, uns zu überlassen.“

Johann Georg war ein sehr begabter Junge. Das bedeutete, wie er später erkannte, von früh auf eine Gefahr für ihn, zumal die Eltern es bei der Erziehung an einem festen Plan fehlen ließen, die Hauslehrer oft wechselten und der Umgang mit gleichaltrigen Freunden lange versagt war. So entwickelte sich Hamann zum Bücherwurm, der sich, wie er sagt, „mit einer Menge Wörtern und Sachen überschüttet fand, ohne davon Verstand, Grund, Zusammenhang und Gebrauch zu kennen“.

Als er sich Ostern 1746, kurz nach der Einsegnung, noch nicht 16 Jahre alt, bei der Universität seiner Vaterstadt einschreiben ließ, fand dieser Wissensdurst reiche Nahrung. Aber während sein Geist „in den Vorhöfen der Wissenschaft umherschweifte“, während er, Philosophie und Theologie, Mathematik und Rechtsgelehrsamkeit studierend, auf allen Gebieten daheim zu sein trachtete, verlor er den Beruf, den er gefunden zu haben glaubte. Er ließ den Plan, ein Prediger des Evangeliums zu werden, aus nichtigen Scheingründen fahren und gab sich statt dessen „den sogenannten schönen und zierlichen Wissenschaften, Poesie, Romanen, Philologie und französischen Schriftstellern . . .“ hin. Ein Universalgenie, konnte er sich nicht dazu verstehen, ein Fachstudium zu ergreifen und sich für einen Beruf zu rüsten. Vielmehr wollte er „nach Nei


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gung, zum Zeitvertreib und aus Liebe zu den Wissenschaften selbst“ studieren, gewiß, „daß es besser wäre, ein Märtyrer denn ein Tagelöhner und Mietling der Musen zu sein“.

Freilich, es kam bald die Zeit, wo er darüber ganz anders dachte. Er hat es tief bereut, daß er die Gelegenheit, etwas Ordentliches zu lernen und soliden Grund zu legen, nicht treuer und gewissenhafter wahrgenommen; daß er den sauren Schweiß seines Vaters durchgebracht und seine Hoffnung, Früchte seiner mit viel Entsagung und Selbstverleugnung geübten Aufwendungen zu sehen, zunichte gemacht; daß er seine Gaben und Kräfte, die dem Dienste Gottes und der Menschen hätten geweiht sein sollen, mißbraucht, verstümmelt und verdorben hatte. „Was für ein Unsinn läßt sich in runden und wohllautenden Worten ausdrücken!“

Leider hat diese Reue, so aufrichtig sie sein mochte, ihn nicht vor neuen Irrwegen bewahrt. Es ist merkwürdig: wer das Leben Hamanns überblickt, wird bemerken, daß sich die von ihm mit Recht beklagten Verfehlungen und Versäumnisse immer von neuem wiederholen, und daß mitten durch alle Irrungen der eigenen Wege hindurch ein anderer mit ihm seinen Weg geht und durch ihn seinen Ruhm verkünden läßt. Ob es sich mit unser aller Leben nicht ähnlich verhält, soweit es überhaupt jenen verborgenen ewigen Hintergrund durchscheinen läßt?

Jedenfalls verließ Hamann die Hochschule, als ihm des Studierens genug dünkte, stark berührt von den schöngeistigen, künstlerischen und philosophischen Interessen der Zeit, angeregt und befruchtet durch mancherlei freundschaftliche, gesellige Verhältnisse, die er durch das ganze Leben bewahrt hat, aber schlecht gerüstet für einen praktischen Lebensberuf. Er empfand




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diesen Mangel zunächst nicht. Drang nach dem Leben und nach eigener Lebensgestaltung ließ den kaum Großjährigen sich von Heimat und Elternhaus losreißen und den Beruf eines Erziehers und Hausmeisters ergreifen. Auf eigenen Füßen stehend, als Menschenbildner andern zu innerer und äußerer Selbständigkeit zu verhelfen, das erschien ihm als ein Lebensziel, für das der Einsatj sich lohnte. Dabei stand ihm ein hohes Ideal vor Augen. Er machte es sich und allen in der Bildungsarbeit Stehenden zur Pflicht, die Geschöpfe Gottes als lebendige Seelen zu achten, denen gegenüber es verwehrt sei, „sie in Puppen, Affen, Papageien oder sonst etwas noch Ärgeres zu verwandeln“.

Dieses heiße Bemühen aber, das Leben in freier Entwicklung und Selbstentfaltung bei sich und andern zur Vollendung zu bringen, führte, da es an der Zucht des Geistes fehlte, bei allem hohen Idealismus in die äußere und innere Katastrophe. Die letjte Etappe dieses Weges war jene für sein Leben so folgenreiche Londoner Geschäftsreise vom Jahre 1756, von der wir noch hören werden.




Ein anderer wird dich führen . .

Manche Enttäuschung war diesem Zusammenbruch, der zur heilsamen Lebenswende werden sollte, vorangegangen. Aus der ersten Hauslehrerstelle auf einem Gutshofe in Livland wurde er bald in Ungnaden entlassen, da er es gewagt hatte, einer unverständigen Mutter ins Gewissen zu reden, die ihr einziges Kind heillos verzog. Später mußte er sich sagen, daß wir von Natur geneigt sind, unsere Bemühungen zu über




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schälen: „Ich ging wie ein mutig Roß im Pflug mit vielem Eifer, mit redlichen Absichten, mit weniger Klugheit und mit zu vielem Vertrauen auf mich selbst und Zuversicht auf menschliche Torheiten bei dem Guten, das ich tat oder tun wollte.“ So urteilt er über diesen ersten Versuch.

Aussichtsreicher schien der Dienst im Hause des Generals von Witten auf Gut Grünhof in Kurland sich zu gestalten. Ungebrochen war jedenfalls sein Selbstvertrauen, das ihn dem Vater schreiben ließ: „Nicht zuviel Mißtrauen, wenn ich bitten darf, und nicht gar zuviel Anteilnahme! Sie müssen mich jetjt schon dem lieben Gott und mir selbst überlassen. Gott wird Ihre Stelle vertreten, und ich will der Überlegung und dem Gewissen folgen.“ Ähnlich äußerte er sich noch einige Jahre später (1755), als der Vater ihn aufgefordert hatte, nach Hause zurüdczukehren, da er, krank an Leib und Seele, entschlossen war, auch die Arbeit in Grünhof aufzugeben. Noch war er nicht bereit, den Rüdeweg anzutreten. „Entschlagen Sie sich der Sorgen, die Ihrer und meiner Ruhe nachteilig sind“, so schreibt er dem Vater, „der Sorgen für ein Glück, das ich nicht dafür erkennen kann! Die Erde ist des Herrn! Seine Gegenwart und die Vorstellung meiner Pflichten, denen ich lebe, möge mir allenthalben nahe sein . . . Ich habe noch Herz genug, mehr zu erfahren, mehr zu leiden, mehr zu übernehmen.“

Den Worten merkt man freilich das Aufkommen innerer Unsicherheit an. Der, der darauf brannte, „sich selber führen zu lernen“, begann die Grenze und das Ende dieses Unternehmens zu ahnen. Aber noch ein letjter Versuch wurde unternommen. Noch fehlte seinem Leben die rechte Mitte, von der er in seinem Lebenslauf einmal spricht: „Wenn unsere Seele erst


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ihren Mittelpunkt in Gott findet, so verläßt derselbe sie in ihrer Bewegung nicht mehr. Sie bleibt ihm, wie die Erde der Sonne, getreu. Und alle übrigen Neigungen richten sich wie die Monde nach ihrem ursprünglichen und eigentümlichen Eindruck des Schwunges und ihres Laufes.“ Noch wußte er nichts von diesem Mittelpunkt, und darum mangelte seinem Wesen die Ruhe, seinem Arbeiten die Stetigkeit und klare Zielstrebigkeit, die nötig ist, wenn es zu einem gesegneten Lebenswerk kommen soll.

So lag über all diesen Jahren seiner Jugend ein dunkler Schatten. Schwer rang der Jüngling mit den erwachenden natürlichen Leidenschaften. Krankhafte Hypochondrie umdüsterte das Gemüt des zu grüblerischer Schwermut Veranlagten, häufige Krankheiten bedrängten den mit einer schwächlichen Körperkonstitution Behafteten. Gefühlsweichheit und übermäßige Schüchternheit erschwerten ihm den Umgang mit Freunden. Auf der andern Seite dieser unbändige Wille, sein eigener Herr zu sein, auf eigenen Füßen zu stehen. Er ließ ihn der Versuchung erliegen, der Aufforderung seines Studienfreundes Christoph Behrens nach Riga zu folgen. Behrens hatte Gefallen an der geistigen Regsamkeit und Gewandtheit des jungen Mannes und bewog ihn, in sein Geschäft einzutreten und sich der Nationalökonomie zuzuwenden. Hamann begann seine neue Tätigkeit mit der Übersetjung eines französischen Werkes: „Über die Vor- und Nachteile von Frankreich und England in Ansehung des Handels“ und zeigte dabei besonderes Verständnis und eindringenden Tiefblidc. So wurde er bestärkt in seinem Vertrauen, auf dem richtigen Wege zu sein. Darum konnten ihm auch die ernsten Eindrücke, die ihm gerade um diese Zeit, an das Sterbebett der




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Mutter gerufen, zuteil wurden, in seinem Vorhaben nicht wankend machen. Vielmehr verließ er gleich nach ihrer Bestattung heimlich das Elternhaus, dem Vater nur sein Bild als Andenken zurücklassend, und kehrte nicht, wie er versprochen, in das Haus des Generals zurück, sondern stellte sich seinen neuen Freunden zur Verfügung, die ihn die schon erwähnte Geschäftsreise antreten ließen, welche ihn über Lübeck, Hamburg und Amsterdam im April 1757 in die englische Hauptstadt führte.

Eine große Torheit war es, den ganz Unkundigen für diesen Auftrag, der dann auch völlig mißriet, ein- zusetjen. Aber es wurde Hamann nachträglich gewiß, daß hier eine ganz andere Hand im Spiele war. Während er in seiner weltlichen Mission nichts erreichte und in keiner Weise das in ihn gesetjte Vertrauen rechtfertigen konnte, während die Handelsherren, die er aufsuchte, über seine Unfähigkeit lächelten und ihm selbst der russische Botschafter, der sich seiner verständnisvoll annahm, nicht zu helfen vermochte, so daß er, zweimal aller seiner Mittel beraubt und tief in Schulden geraten, der Verzweiflung nahekam, rückte die Stunde heran, die unerwartete Hilfe bringen sollte.




Begegnung mit dem Wort

Die Weltstadt, die ihn, den innerlich haltlosen Sinnesmenschen, tiefer noch in das „Getümmel seiner Leidenschaften“ führte, die ihm aber auch seine Weltverlorenheit, sein gänzliches Preisgegebensein an die Mächte des Verderbens zum Bewußtsein brachte, ließ ihn falschen Freunden in die Hände fallen. Einem, der des Lautenspiels kundig, hatte er, der seit frühe




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ster Jugend sich mit Begeisterung dieser Kunst hingegeben, sich angeschlossen, mußte aber bald innewerden, daß er rücksichtslos ausgenutjt wurde. So wußte er sich schließlich nur dadurch zu helfen, daß er allem geselligen Verkehr entsagte und allein mit seinen Büchern Zwiesprache zu halten suchte. Aber auch sie erschienen ihm jetjt als „leidige Tröster“.

Als die Not seines Herzens ihren Höhepunkt erreichte, kam die Zeit, die er allein kennt, „die beste Zeit, uns den Anfang seiner Hilfe zu zeigen“. Von allen Freunden dieser Welt verlassen, bat er Gott um einen Freund und fand ihn in seinem eigenen Herzen, „da ich die Leere und das Dunkle und das Wüste desselben am meisten fühlte“.

Der Freund, der ihm, wie er schreibt, den Schlüssel zu seinem Herzen geben konnte, den Leitfaden aus seinem Labyrinth, war das von ihm wohl gekannte, aber nicht recht geachtete Bibelbuch. Längst hatte er, der so viele Bücher verschlang, auch die Heilige Schrift zu Rate gezogen. Er hatte das Alte Testament einmal, das Neue zweimal gelesen. Aber den rechten Zugang hatte er nicht gefunden. Als er nun von neuem den Anfang machen wollte, schien es ihm, „als wenn ich eine Decke über meiner Vernunft und meinem Herzen gewahr würde, die mir dieses Buch das erstemal verschlossen hatte“. Daher nahm er sich vor, „mit mehr Aufmerksamkeit und mit mehr Ordnung und mit mehr Hunger dasselbe zu lesen und meine Gedanken, die mir einfallen würden, dabei aufzusetjen“.

Als er am 13. März 1758 mit der Durchführung dieses Vorhabens begann, war damit der Anfang des neuen Lebens gegeben. Das Wort, das er las, gab dem Verzweifelnden neuen Grund unter die Füße. Es wurde ihm zu einer neuen Offenbarung. „Je weiter ich kam,




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je neuer wurde es mir, je göttlicher erfuhr ich den Inhalt und Zielpunkt desselben. Ich vergaß alle meine Bücher darüber, ich schämte mich, selbige gegen das Buch Gottes jemals verglichen, jemals sie demselben zur Seite gesetjt, ja, jemals ein anderes demselben vorgezogen zu haben.“

Was ihm als das unerhört Neue und Überraschende bei diesem Schriftstudium aufging, war dieses, daß ihm die Geschichte, um die es in der Heiligen Schrift geht, nicht mehr als eine fremde Geschichte erschien; vielmehr erkannte er „seine eigenen Verbrechen in der Geschichte des jüdischen Volkes“, las seinen eigenen Lebenslauf, wenn er sich den Lebensweg der biblischen Menschen vor die Augen stellte, und „dankte Gott für seine Langmut mit diesem seinem Volk, weil nichts als ein solches Beispiel mich zu einer gleichen Hoffnung berechtigen konnte“. Die „Einheit des göttlichen Willens“ erkannte er „in der Erlösung Jesu Christi, daß alle Geschichten, alle Wunder, alle Gebote und Werke Gottes auf diesen Mittelpunkt zusammenliefen, die Seele des Menschen aus der Sklaverei, Knechtschaft, Blindheit, Torheit und dem Tode der Sünde zum größten Glück, zur größten Seligkeit und zur Annehmung solcher Güte zu bewegen, über deren Größe wir uns noch mehr als über unsere Unwürdigkeit und die Möglichkeit, uns derselben würdig zu machen, erschrecken müssen, wenn sich uns selbige offenbaret“.

Als er am Abend des 31. März das fünfte Kapitel des fünften Buches Mose las, verfiel er „in ein tiefes Nachdenken, dachte an Abel, von dem Gott sagte: Die Erde hat ihren Mund aufgetan, um das Blut deines Bruders zu empfangen . . . Ich fühlte auf einmal mein Herz quillen, es ergoß sich in Tränen, und ich


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