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Abstract
Bioakustik, ein interdisziplinäres Gebiet
der Biologie zwischen Klang und Um-
welt, erfährt durch die Kunstkopf-Hör-
bilder des Naturforschers und Tonmeis-
ters Walter Tilgner eine plastische,
wissenschaftliche Erweiterung. Mit dem
binauralen Kunstkopfverfahren zeichnet
er nicht nur einzelne tier- und vogel-
kundliche Laute auf, sondern die ge-
samte Umgebung und ihr typisches
Klangbild. Während die Tierstimmen-
analyse etwa der Ornithologie einzelne
Formen des Vogelgesangs untersucht,
geht es ihm und Hörkünstlern wie Gor-
don Hempton, dem ‚Soundtracker‘, um
das Wechselspiel zwischen den Arten in
Zeit und Raum. Auch die pädagogische
Seite spielt eine Rolle, um den Rezipi-
enten Naturklang als wertvolle Ressour-
ce nahezubringen. 1985 hat der Pionier
Tilgner die ersten Naturlandschaften
vollständig digital aufgenommen und
bei WERGO mit dem Label ‚Natural
Sound‘ als CD publiziert. Für den Kom-
ponisten und Wissenschaftler Dr. Bernie
Krause aus Kalifornien repräsentieren
solche Aufnahmen ökologische Nischen
in der Landschaft, von typischen Klang-
verläufen geprägt. In seinem eigenen
Vergleich dichter Naturräume in Süd-
amerika, Afrika und Asien werden sie
unverwechselbar als akustischer Finger-
abdruck nachweisbar. Der Künstler-
Forscher hat mit der Spektralanalyse so
nicht nur seine ‚Nischen-Hypothese‘
entwickelt und empirisch bestätigt, son-
dern auch den Begriff der Biophonie ge-
Prof. Dr. phil. Hans-Ulrich Werner
4.2 „Natural Sound“: Von der
Bioakustik zur Biophonie [1]
prägt: Naturklänge entfalten sich wie in
einem musikalischen Stück, sie sind der
Komposition einer (Bio-)Symphonie ver-
gleichbar. Die Stimmen der Spezies bil-
den darin den ‚materialen Klang‘ (den
Ausdruck verdanken wir dem Kompo-
nisten Johannes Wallmann in Berlin).
Darauf wirken die zeitlichen Prozesse
und räumlichen Faktoren der Umwelt,
als ‚Geophony‘ aus Klima und Flora,
durch Sonne, Wind, Erde und Wasser.
Schließlich verändert auch der Mensch
die Naturlandschaft durch technische
Geräte, wie in der Tonaufnahme, und
durch extensives Wirtschaften hin zur
‚Anthrophony‘. Der Klang der Natur ist
also menschgemacht, und die Aufnah-
men bedeuten nicht nur wertvollen
Rohstoff für die Medien. Bioakustik und
Biophonie fordern den Dialog von und
über Natur und Kultur immer wieder
neu heraus, wie hier im Spektrogramm
einer Waldcollage, mit einer starken
Motorsäge als Mittelpunkt [2].
Bioakustik
Der jährliche Waldschadensbericht er-
wähnt den Klang der Natur zwar nicht,
aber für den Naturforscher und Tonmeis-
ter Walter Tilgner wird biologische Um-
welt ebenso maskiert, demontiert und
‚erstickt‘ wie unser städtisches Leben
durch „Lärm. Der tägliche Terror“ [3].
Die ‚Heiwatils‘ – Heidrun und Walter
Tilgner vom Bodensee – sind radikale
Klangökologen aus dunklem Tann und
im dunklen Lodenmantel, bewaffnet mit
der sanften Technologie des Kunstkopf-
mikrofons und dem digitalen Aufnah-
„Natural Sound“:
Von der Bioakustik
zur Biophonie [1]
Prof. Dr. phil. Hans-Ulrich Werner
Fakultät Medien und
Informationswesen (M+I)
Badstraße 24,
77652 Offenburg
Tel.: 0781 205-233
E-Mail:
hans-ulrich.werner@fh-offenburg.de
1954:
Geboren in Auerbach/Vogtland
Studien Ton- und Bildtechnik, Musik, Publizistik,
Kommunikations- und Musikwissenschaft, Medienpädagogik
1980:
Auditive Medienproduktion für Film, TV, Radio,
Musikprojekte, Hochschulen, Autor und Herausgeber für Klang-
Texte und künstlerische Bildungsprogramme
Sound-Producer für Hörfunk und Fernsehen; Produktionsingenieur
WDR-Studios Klang und Design
Seit 2005:
Professur für Audioproduktion und Sound-Design
an der Hochschule Offenburg
Forschungsgebiete:
Audio-Produktion und Sound-Design: Audio-
Video-Studiotechnik, Audiogestaltung, Radio, Klang
für Film + Video; Sound Design + Klangregie; Akustische
Kommunikation; Intercultural Media und auditive Medienpädagogik,
Soundscape – „Kultur des Hörens“
Abb. 4.2-1: Naturklang-Collage von Walter Tilgner, wie ein Musikstück arrangiert
109
megerät. Der künstliche Kopf ohne Au-
gen auf dem Stativ, mit hochwertigen
Mikrofonkapseln im modellierten Ohr
registriert auch feine Luftbewegungen
wie das Blätterrauschen im Wald, die
Geräusche von Insekten, die leisen Klän-
ge, die als Tonalität den Raum prägen.
Im Rauschen des Waldes, wo einzelne
Vogelrufe in den Hintergrund geraten,
wird die Stimmung, die Atmosphäre
zwischen den Bäumen oder in einer Au
hörbar.
Als Toningenieur ist Tilgner Autodidakt,
seit mehr als 35 Jahren macht er in der
Natur Aufnahmen, die mit einem trag-
baren analogen Bandgerät und dem ge-
richteten Parabolmikrofon begonnen
haben. Seit 1983 setzt er die kopfbezo-
gene Stereofonie zur Raumabbildung
ein [4], dazu digitale Geräte, viel per-
sönliche Erfahrung und Sensitivität für
die Natur. Das bewegte die Archivare in
einem großen Rundfunkarchiv die
Naturatmos des ‚Grünen Ohrs am Bo-
densee‘, in ihre Bestände zu integrieren:
als Klangschicht der Radiofonie vom Au-
dioclip zum Hörspiel, für Programme
mit ‚Special Interest‘, als Originalton-
Dokument für die Nachwelt und als
wertvoller Rohstoff für Klangkompositi-
on und Akustische Kunst.
Walter Tilgner verzichtet mit seinen Hör-
bildern bewusst auf Manipulation, Mi-
schung und spezielle Bearbeitung der
Aufnahmen im Tonstudio. Material, Zeit
und Raum orientiert er in seiner Monta-
ge an authentischen Hörsituationen,
wobei ihm bewußt ist, dass objektive
Wiedergabe bess medialen Situationen
unmöglich ist. Mit dem Kopfhörer, aber
auch mit seinen hochwertigen Moni-
toren der Manger Schallwandler wird
die dichte‚ immersive‘ Illusion der Natur
in der Tiefe der Kunstkopfaufnahme
deutlich, im Gesang der Nachtigallen
am Bodensee wie bei den Weißstörchen
in den Auwaldbiotopen bei Wien oder
den Kranichen auf Rügen.
Tilgner kennt – wie der Regisseur eines
Films – verschiedene ‚locations‘: Orte,
Wälder, Lichtungen, Übergänge, Ufer,
Strände, Bergwelten, Auen, besondere
Baumbestände, dort, wo sich komplexe
Naturkonzerte ereignen. Die Aufnahme
wird zum ‚Orchestrieren mit der Land-
schaft‘, ein Einstimmen in den weiten
Raum und ein Erfahren des besonderen
Orts. Auch zeitlich werden oft mehrere
Abb. 4.2-2: Foto mit Kunstkopf: Naturklangtonmeister Walter Tilgner mit seinem Kunstkopf
Abb. 4.2-3: Spektraldarstellung Gesang einer Waldamsel – eine musikalische Partitur
Abb. 4.2-4: Spektraldarstellung
von Spechtklängen
Formen kombiniert: von der Echtzeitauf-
nahme, wo die erlebte und aufgenom-
mene Hörwelt in realer Dauer fließt, bis
zur Montage im Sommerwaldkonzert,
wo aktionsreichste Stellen zum idealty-
pischen Erlebnis zusammengefasst wer-
den – mit Vogelrufen aus allen Rich-
tungen, Hummeln, die den Kunstkopf
ganz nah passieren, durch die Bewe-
gungen einzelner Tiere. Standort, Per-
spektive, der Fokus, die Nähe zu den
Klängen variiert in den einzelnen Pro-
duktionen, von der makroskopischen
Aufnahme eines Vogels bis zur Weite
des Waldrauschens, wo die Rufe in den
Hintergrund geraten und das Klangfeld
selbst plastisch hörbar wird. Figur und
Grund kehren sich um. Andere Aufnah-
men liegen dazwischen, als akustischer
Mittelgrund betonen sie das Aktive, die
Bewegung von Tier und deutlich ge-
zeichnetem Gesamtklang. Manche Auf-
nahmen sind Mikrostudien einer ein-
zigen Klangfarbe. Blaukehlchen und
Nachtigall hat er wegen derVielfalt ihres
Gesangs immer wieder aufgezeichnet.
Der Sound der Nachtigall – das ist ihre
bewegliche, ja polystilistische Improvi-
sation in nicht endenden Variationen.
Anders als der analytisch vorgehen-
de Vogelwissenschaftler sucht Walter
110
„Der Wunsch, ein morgendliches Vogelkonzert natürlich aufzunehmen, ging sehr spät
in meinem Leben in Erfüllung. Erst ab 1983 war es mir vergönnt, mit einem tragbaren
digitalen Tonbandgerät (SONY PCM F1 + SL F1) und einem NEUMANN-Kunstkopf-
mikrofon das Klangbild des Waldes, Vogel- und Tierstimmen so aufzunehmen, dass
ich mit dem Klangbild zufrieden war. Meine Freude und Begeisterung war groß, als
1985 meine erste CD mit digital aufgenommenen Naturlauten, das „WALDKON-
ZERT“ erschien und im Bodensee-Naturmuseum in Konstanz vorgestellt wurde. Ich
konnte so nicht nur mir, sondern auch vielen anderen Menschen mit den Naturhör-
bildern eine große Freude bereiten. Man konnte sich nun den Klang des Waldes, das
morgendliche Vogelkonzert, ins Wohnzimmer holen – oder glauben, in den Wald
versetzt zu sein. Mit meinen bis dahin gegebenen Möglichkeiten, analogem Spulen-
tonband, Parabolspiegel und Richtmikrofon, befriedigte mich die Klangwiedergabe
nicht. Sie halfen mir aber, wertvolle Erkenntnisse über die Sprache unserer heimischen
Spechte zu gewinnen, ihre Lautäußerungen zu erforschen und ihr Verhalten zu ver-
stehen. Mit Hilfe von Sonagrammen und Oszillogrammen der analogen Aufnahmen
gelang mir ein tiefer Einblick in die feine Struktur der Lautäußerungen und Trommel-
wirbel unserer Spechte.
Tilgner ganzheitliche Situationen. Der
Gesang der Nachtigall ist eingebettet in
das Vogelkonzert der Morgenröte. Der
ganze Uferraum wird hörbar, Wind,
Wasser, entfernte Glocken und ein früh
aufgestandener Motorfischer:
„Man kann aufgrund des Hörbilds zei-
gen, dass ein Wald zu verschiedenen
Tages- und Jahreszeiten anders klingt,
ebenso wie in den unterschiedlichen
Waldtypen. Das Zusammenspiel der Vö-
gel – sagen wir einmal das Singen, das
erste Schlagen des Rotkehlchens, das
Zetern der Amseln, dann kommen die
Meisen dazu – das kann man nicht
künstlich zusammenmischen.“
Der Gesang der Vögel ist lange vor un-
serer Zeit in unsere Zivilisation und Kul-
tur hineingewachsen. Vor allem der un-
garische Forscher Peter Szöke, Biologe
wie Musikwissenschaftler, hatte seit den
50er Jahren in den Stimmen der Vögel
Modelle unserer menschlichen Musik
erahnt. Seine Studien sind ein ‚Mikro-
kosmos der Klangsamkeit‘, weil sich in
der technischen Metamorphose von Vo-
gelrufen – über ein langsamer laufendes
Tonband – eine verblüffende hochmusi-
kalische Welt entfaltet. Deren Basis ist
die Naturtonreihe, die als innere Skala
das Hören vieler Kulturen der Welt prägt.
Vogelstimmen entsprechen, so Szöke,
einem „natürlichen, lebendigen Blasin-
strument“, und ihre Musik ist „ein eigen-
artiges Bewegungsgesetz der Materie“.
[5] Tierstimmen zeigen ihre Gestalt oft
erst durch technologische Transposition,
sie liegen in der natürlichen Umwelt
jenseits unserer menschlichen Hörmög-
lichkeiten – sie sind einfach zu schnell.
Szöke unterscheidet biologische Stufen
und Klassen am Klang, wo „der Gang
der Stammesentwicklung derVögel auch
im Entwicklungsgrad der Tongebung sei-
nen Ausdruck findet“. Das reicht vom
Ruf eines Habichts oder dem Brüllen
eines großen Tiers über Glissandi und
Intervalle als ‚Tonsignale‘ bis zur weit-
läufigen Improvisation, Variation und
Reproduktion von Gesängen wie in der
‚Mikromelodik‘ des Lerchengesangs.
Musikalische Entwicklung ist für Szöke
ein Spiegelbild der biologischen Ent-
wicklung der Art und des Lebens. Der
Urmensch habe, von Umweltgeräuschen
und Rufen, Signalen, Rhythmen und Lie-
dern ausgehend, seine akustische Kultur
durch Imitation entwickelt. Von Anfang
an, so Szökes, stehen Nervensystem,
Abb. 4.2-5: Tiefe Frequenzen (untere Basstöne) von der Rotbauchunke, darüber Laubfroschtöne
Kommunikation und akustische Umwelt
in Beziehung, auch jenseits anthropo-
zentrischer Betrachtung.
Walter Tilgners heute schon klassische
Kunstkopfaufnahmen oder auch die ak-
tuellen Surround- Mikrofonierungen
zum Beispiel für die Filmwelt entsteht
also im Übergang zwischen der jewei-
ligen Technologie, forschender Haltung
und intensiver Wirkung. 1935 schrieb
der Wissenschaftler Oskar Heinroth im
Begleittext zu der Schallplattenserie
‚Gefiederte Meistersänger‘: „...wer eine
ihm bekannteVogelstimme hört, versetzt
sich leicht im Geiste an einen be-
stimmten Ort oder in eine bestimmte
Zeit; es tauchen Erinnerungen in ihm auf,
und er beurteilt dann das Lied der
Vogels oft nicht nach seiner wirklichen
Güte, sondern nach der mehr oder we-
niger schönen Stimmung, in die er beim
Zuhören gerät.“ [6]
Die ersten bioakustischen Aufnahmen,
heute noch in der British Library of Wild-
life Sounds archiviert, hatte der Zoologe
Ludwig Koch auf einem Wachszylinder
1929 in Frankfurt aufgenommen. Eine
der berühmtesten Aufnahmen wurde im
Winter 1931/32 durch Mitarbeiter der
Cornell University mit dem Mikrofon in
Paraboltechnik realisiert, die noch heute
als Referenz gilt [7]. In einem frühen
Hörbild erkennt man die Vogelstimmen
im natürlichen Kontext auf der be-
111
rühmten Aufnahme „Der Wald erschallt“
[8]. Unter Fachleuten gilt das zwei Jahre
später entstandene Buch „Gefiederte
Meistersänger“ als wichtigste Aufnahme
[9]. Die Kassette mit Text und Platten
verbindet biologische Information mit
Hörbeispielen und ist durch aufwendige
Außenübertragung mit Direktschnitt in
Wachsplatten charakterisiert. Bei eini-
gen Sequenzen sind Gegenrhythmen
umgebender Tiere zu hören; es war
möglich, „den einzelnen Vogel in seiner
natürlichen Umgebung zu belauschen
und seinen Ruf ohne störende Nebenge-
räusche festzuhalten“ [10]:
Walter Tilgner hat mit seiner Methode
die traditionelle Arbeitsweise herausge-
fordert: „In der wissenschaftlichen Vogel-
stimmenforschung wurde und wird
vorwiegend die Parabolspiegel-Aufnah-
metechnik verwendet. Im Parabolspiegel,
ein akustisches Teleobjektiv, das die ho-
hen Frequenzanteile der Vogel- und Tier-
stimmen ohne das ‚physikalische Rau-
schen‘ verstärkt, erreichen solche
Aufnahmen kein natürlich und räumlich
klingendes Panorama. In der wissen-
schaflichen Auswertung durch Klang-
spektrogramme spielt diese klangliche
‚Verfälschung‘ der Parabolmikrofone
kaum eine Rolle. Die Verzerrungen die-
ser Aufnahmen – der Tierstimmenfor-
schung bekannt – hat man bewusst zu
Gunsten der Lautverstärkung, die Redu-
zierung des Halls und Unterdrückung
der Nebenstimmen in Kauf genommen.“
Tilgners Kunstkopfaufnahmen aus Wäl-
dern und Auen sind dagegen Hörbilder,
die nicht nur plastisch darstellen, sondern
zusätzlich ästhetisch anregen, unterhalten
und entspannen. Sie warnen vor dem Ver-
lust der akustischen Qualität des Waldes
und unseres eigenen Daseins. Denn ‚Ton-
jagd‘ ereignet sich doppelt in der Natur –
in der ‚inneren wie äußeren‘:
Im Verständnis des World-Soundscape-
Projects des kanadischen Klangforschers
Murray Schafer dagegen steht der Klang
der Natur für Komplexität und Vielfalt
[11]. Natürliche Abläufe, tägliche
oder jährliche Klangzyklen dienen auch
als Gegenbild der zivilisatorischen
Klangkultur. Walter Tilgner im Interview:
„Allerdings betrachte ich meine Natur-
hörbilder nicht nur als eine Dokumenta-
tion für die Nachwelt, sondern möchte
den Menschen das vermitteln, was mei-
ner Frau Heidrun und mir schon sehr
viel Freude bereitet hat und immer noch
bereitet: das Nacherleben zu Hause.
Gerade das morgendliche Vogelkonzert
in unseren Wäldern, das Klangerlebnis,
kann sehr viel geben, wenn man dazu
bereit ist und gelernt hat, es wahrzuneh-
men. Diese Freude auch anderen Men-
schen weiterzugeben, wurde für uns zu
einer Berufung.
Biophonie: Die kulturpessimistische
Diagnose verlärmter Landschaften darf
daher nicht Endpunkt von Kritik sein,
sondern gestaltete Akustik bietet neue
Chancen für ästhetische Klangumge-
bungen, wie sie in der Arbeit von Dr.
Bernie Krause hörbar werden. ‚Wild
Sanctuary‘ [12] – einen heiligen Schutz-
raum der Natur, so nennt der Musiker,
Klangforscher und ‚Naturalist‘ den Zen-
tralton seiner wechselvollen Klangbio-
grafie. Sie hat ihren roten Faden in früher
Musikalität, virtuoser Hörfähigkeit, ja
Hörleidenschaft und in der Bereitschaft
der Wildnis, dem Wilden, auch in sich
selbst, offen gegenüberzutreten. Er fühle
sich in der Natur am wohlsten, ‚wo die
Unsicherheit das Erwartete ist‘ und wo
er besser überlebt als in den Straßen von
Los Angeles. Dort hat er in den 60er
und 70er Jahren als Popmusiker, Film-
komponist und Synthesizer-Pionier ge-
lebt. Zusammen mit seinem früh verstor-
benen Alter Ego, Paul Beaver, entstand
1967/1968 ‚In a wild sanctuary‘, als Suite
für Naturgeräusche und Musikinstru-
mente, eine Pionierarbeit in diesem
Grenzbereich. Bis zum Anfang der 80er
Jahre galt Krause als gesuchter Klangspe-
zialist für Kino und Fernsehen und arbei-
tete parallel als Analytiker im Bereich
‚Forensic Audio‘. Später hat Bernie Krau-
se, angeregt durch Begegnungen mit ‚Na-
tive People‘ in den USA, akustische Land-
schaften in Alaska und der Arktis, Afrika,
Asien und Amerika als CD veröffentlicht.
Als Bernie Krause Ende der 70er Jahre
seine kommerzielle Klangfirma auflöste,
begann er mit bioakustischer Forschung.
Der erfolgreiche Musiker in ‚mid career‘
hat die Thematik in sein Promotionsstu-
dium eingebracht, bei der „Union for
Experimenting Colleges and Universi-
ties“, einer kreativen Form der amerika-
nischen Hochschule [13]. Er untersuchte
natürliche Räume in Afrika, Asien, Nord-
und Südamerika als Ökosystem: „Each
place on earth does have its own voice.“
Bei der Entnahme von Stichproben, im
Lauf der Zeit und in vielen räumlichen
Perspektiven, Standorten und Material-
formen stellt er Bezüge zu klimatischen,
geologischen oder bio-sozialen Syste-
men her: „In jeder Soundscape gibt es
mehrere akustische Schichten gleichzei-
tig und miteinander verwoben. Ich verst-
ehe sie als Komponenten eines leben-
digen Organismus. ‚Biophonie‘ meint ja
zunächst die akustischen Lebensformen
in der Natur, all die Klänge außer den
vom Menschen erzeugten. Ich verwen-
de den Ausdruck aber in einer offenen
Weise. Denn wenn die afrikanischen
Pygmäen oder die Kaluli im Regenwald
von Papua Neuguina oder die Jivaro am
Abb. 4.2-6: Spektrogramm des Siebenschläfers (Drohknurren)
112
Amazonas ihre Rituale praktizieren,
dann besteht eine sehr enge Beziehung
zwischen Mensch und Natur. Die
menschliche Stimme ist also ein Teil der
Biophonie, und vielleicht finden wir
wieder einen Weg, diesen Übergang,
diesen ECOTONE, zwischen den
Lebensformen und Räumen zu verste-
hen und zu beschreiben.“ [14]
Heute ist Bernie Krause ein anerkannter
‚Naturalist‘ mit zahlreichen Aufnahme-
projekten. Anders als der messende Bio-
loge sucht er besondere Orte als einzig-
artige Hörerfahrung: Wie klingt ein
Ameisenbau oder wie kommunizieren
Flusspferde unter Wasser? Er nennt das
‚Ecotone‘ und meint damit Umwelträu-
me an Übergängen und Unschärfen,
zwischen gängigen Kategorien. Er hat so
bei Expeditionen in den Amazonas-Re-
genwald die Einheit von Ort und Klang-
bild mit Spektrogrammen in seiner ‚Ni-
schentheorie‘ belegt. Jede Lücke im
Spektrum, die ein Tier offenließ, wurde
von einem anderen geschlossen, sodass
der Gesamtklang als Timbre konstant
blieb [15]. Zeitliche Vergleiche ergaben
dabei hohe Konstanz in einem Sektor,
räumliche Verschiebungen um nur we-
nige 100 Meter aber deutliche Varianz
im Spektrum.
Krauses Aufnahmen sind so zu einem
elektronischen Gedächtnis geworden
und er selbst als kreativer und interdiszi-
plinärer Außenseiter eine Institution. Mit
‚Wild Sanctuary‘ steht er in intensiver
Querverbindung zur wissenschaftlichen
Analyse von Tierstimmen, etwa mit der
traditionsreichen Cornell University. Zu-
sammen mit dem Wissenschaftler und
Künstler Douglas Quin hatte er die Na-
turräume der Welt in digitale Simulati-
onen umgesetzt. Ihr selbst entwickeltes
Programm mischt alle Materialien stän-
dig in neuen Variationen zusammen –
künstlich und doch organisch, als ein
klingendes Biotop ohne Wiederholung.
Diese Klangskulpturen werden zum
Live-Environment in Zoos und Museen,
das nach naturhaften Mustern und
Rhythmen geplant ist und zugleich als
perfekte Illusion wirkt. Klang, so die Bot-
schaft des Naturforschers und Kompo-
nisten, Klang bringt die Räume der Na-
tur in unsere meist urbane Welt, damit
wir sie begreifen und uns ihrer Ge-
fährung bewusst werden. Hörbilder wie
der Angriff zweier Killerwale auf den
Buckelwal oder das Geräusch „kal-
bender Gletscher“ in Surround sind also
nicht nur „hörenswerte“ Sensation, son-
dern kalkuliertes ökologisches Wahr-
nehmungstraining.
Im interdisziplinären ‚Global Sounds-
cape Project‘ arbeitet Bernie Krause der-
zeit intensiv mit der renommierten Pur-
due University zusammen [16]. Es
entwickelt sich als ein Inventar ‚Akus-
tischer Naturlandschaften der Welt‘ im
Spiegel ökologischer Forschung [17].
Krauses ‚Biophony‘, die kollektive Mu-
sik des Lebens, auch seines eigenen, ist
für ihn vor allem in der sinnlichen Erfah-
rung existent, die er etwa mit dem radi-
kalen Philosophen und Landschaftsführer
Jack Turner teilt. Alles andere ist ‚The Ab-
stract Wild‘, ein bloßes codiertes Ordnen
einer uns fremd bleibenden Welt [18].
Der Forscher Paul Shepard, ein Dialog-
partner und Mentor von Krause, hat in
seiner Synopse unser Menschsein im
Spiegel der Tierkultur dargestellt, die uns
Mythen, Sprache, Klang und Musik, Bil-
der, Spielzeug und Gefährten, Leben
und Tod bedeuten. Es sind für ihn die
anderen – „THE OTHER“, die uns erst
zu dem machen, die wir sind [19]. Als
Teil des natürlichen Lebens und zugleich
immer davon abgetrennt – ‚a part and
apart‘: Erfahrungen, die auch Heidrun
und Walter Tilgner sehr häufig gemacht
haben. Sie entwickeln diese Wirkungs-
dimension jetzt weiter, in enger Zusam-
menarbeit mit dem blinden Musikthera-
peuten und Physiotherapeuten Wolfgang
Fasser weiter. Er verwendet die Aufnah-
men mit deutlichem Erfolg in seiner Pra-
xis für die oft mehrfach behinderten
Menschen und schafft im Forschungs-
projekt der Schweizer Musiktherapie-
Ausbildung damit einen neuen Dialog
von Natur und Musik.
Referenzen
[1] Bioakustik und Biophonie sind hier
exemplarisch gemeint, durch die
Pionierarbeit von Walter Tilgner (mit
75 Natural Sounds, zusammen mit
Heidrun Tilgner) sowie in ‚Wild
Sanctuary‘ von Dr. Bernie Krause
(in 70 Ecotones) gemeinsam mit Ka-
therine Krause. Klangumwelt und
Klangkunst verbinden sich so inter-
disziplinär
[2] Vergl. Rothenberg, David: The Book
of Music and Nature. Terra Nova
Books, Wesleyan University 2001
[3] Fleischer, Gerald: Lärm. Der täg-
liche Terror. Thieme, Stuttgart 1990
[4] Gierlich, H.W.; Genuit K.: Proces-
sing Artificial Head Recordings.
JAES 37.1989/1-2: 34-39
[5] Szöke, Peter: Entstehung und Ent-
wicklungsgeschichte der Musik.
Studio Musicologica 1962/4:3-85
[6] Heinroth Oskar; Koch, Ludwig: Ge-
fiederte Meistersänger. Berlin 1936
[7] Wahlström, Sten: Stereophonic Re-
cording of Wildlife Sounds. J.Brit.
Institute of Rec. Sound: H.34/1969
[8] Heck, Lutz; Koch, Ludwig: Der
Wald erschallt. München 1934
[9] Heinroth Oskar; Koch, Ludwig: Ge-
fiederte Meistersänger. Berlin 1936
[10] Heinroth Oskar; Koch, Ludwig: Ge-
fiederte Meistersänger. Berlin 1936:1
[11] Murray Schafer: The Tuning of the
World. Knopf, New York 1977
[12] Bernie Krause, Into A Wild Sanctua-
ry – A life in Music & Natural Sound.
Heyday Books. Berkeley 1998
[13] Krause, Bernie: Electronic Music
and the Sonic Arts. PhD Dissertati-
on Ohio 1981
[14] Bernie Krause im Interview 2004
[15] Krause, Bernie: Bioacoustics, Habi-
tat Ambience in Ecological Balance.
Whole Earth Review, Winter 1987
[16] University of Purdue, im Dept. of
Forestry and Natural Ressources
[17] Krause, Bernie: Anatomy of the
Soundscape: Evolving Perspectives.
J. Audio Eng.Soc, Vol 56, No 1/2,
2008
[18] Turner, Jack: The Abstract Wild. Ari-
zona University Press 1996
[19] Shepard, Paul: The Others. How
Animals made us human. Island
Press, Washington 1996
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