Pedant Text



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#1258


Walter Haas
Alpträume eines weitherzigen Pedanten

1. Jeder Deutsche, der sein Deutsch schlecht und recht weiß, d.h. ungelehrt, darf sich, nach dem treffenden Ausdruck eines Franzosen: eine selbsteigene, lebendige Grammatik nennen und kühnlich alle Sprachmeisterregeln fahren lassen. (Jacob Grimm 1819, S. 3)


Vor Jacob Grimm war es für diejenigen, die Grammatiken schrieben, klar, dass sie dies taten, um die Sprachpraxis der Leser zu beeinflussen - wozu hätten sie sonst die Mühe auf sich nehmen und wovon hätten sie leben sollen?
Grimm konnte sich die Entlassung des Sprechers in die Freiheit leisten, weil er für sein Geschäft einen neuen Zweck und ein neues Publikum gefunden hatte: Es ging nun darum, die Sprache in ihrer regelhaften Entwicklung systematisch zu erforschen. Solch gelehrtes Wissen war an sich brotlos, aber es machte die Grammatiker zu "objektiven" Wissenschaftlern und öffnete ihnen die Hochschulen, die fortan für ihren Lebensunterhalt aufzukommen hatten.
Die Studenten der Grammatik mussten sich freilich ihren Lebensunterhalt ebenfalls verdienen, und nur wenige fanden an den Universitäten Platz. Die meisten wurden tätig an Schulen und Gymnasien, wo sehr schnell klar wurde, dass es mit der "selbsteigenen Grammatik" der Schüler nicht weit her war. Die Jünger der Grammatik gerieten in die Situation, etwas lehren zu müssen, was nach den Überzeugungen ihrer Meister weder gelehrt werden musste noch sollte, und was sie an der Hochschule auch tatsächlich nicht gelernt hatten.
Auch die Deutschlehrer waren durch Grimms Diktum in die Freiheit entlassen worden - in die Freiheit, ihren Schülern die eigene Grammatik einzuflössen. Einige nahmen die Mühe auf sich, trotz der gelernten Abneigung vor der "unsäglichen Pedanterei" der Schulgrammatik (Grimm S. 1) eben eine solche zu verfassen. Wer weiss, wie sie dies mit ihren wissenschaftlichen Überzeugungen in Einklang gebracht haben. Wenigstens theoretisch müssten ihre Gewissensbisse beim Korrigieren von Aufsätzen proportional mit ihrer linguistischen Qualifikation gestiegen sein.
Die Grammatik als Hochschulfach blieb ein deskriptives Unternehmen. Die Wende zur synchronen Sprachwissenschaft änderte nichts daran, in ihrer Folge wurde die Beschreibung allerdings etwas mühsamer, da sich die vielen selbsteigenen Grammatiken als ziemlich unterschiedlich herausstellten. Für welche sollte man sich entscheiden? Ingeniöse Konstrukte, von der langue über das System, von der Grundmundart über den Idiolekt bis zum idealen Sprecher hatten nicht zuletzt die psychohygienische Aufgabe, dem wissenschaftlichen Grammatiker die Grammatik vor der Selbsteigentlichkeit zu retten, damit er sie kühnlich beschreiben könne. Dank der Erfindung der Variationsgrammatik gelang es endlich sogar, sich mit Varianten zu beschäftigen, ohne sich durch schulmeisterliche Urteile über sie zu kompromittieren.
Und so sind denn unserer Überzeugungen stark und sicher geworden: Sprache ändert sich, Sprache ist geschichtet, diversifiziert; Aufgabe der Grammatik ist die Erfassung der vollen Vielfalt. Die normative Grammatik, eben jene Anmassung, die dem Schüler das Lernen seiner eigenen Muttersprache zumutet, indem sie gewisse vorkommende Formulierungen für richtig, andere für falsch erklärt - die normative Grammatik halten wir nach wie vor für eine wissenschaftliche Ungeheuerlichkeit. Heringers kongeniale Umformulierung des Grimmschen Diktums beweist seine unveränderliche Geltung: "Normen? Ja - aber meine!"
Eigentlich bin ich mit Grimm und Heringer einverstanden, wie es sich für einen Hochschulgermanisten gehört, und als solcher kann ich es mir ja auch leisten: Die Erledigung der pedantische Schmutzarbeit habe ich an die Kollegen der untern Schulstufen delegiert, niemand wird sich erlauben, von mir eine Übung zur Festigung des deutschen Präpositionalgebrauchs zu erwarten. Ich darf dafür (in grammatisch korrekten Sätzen) über die Unhaltbarkeit des normativen Denkens in der Sprache losziehen. Als Dialektologe bin ich dazu sogar fast verpflichtet, denn dem Wüten normversessener Lehrpersonen fallen ständig unsere besten Gewährspersonen zum Opfer.
In den Becher meines normentoleranten Selbstgefühls fällt nur ein Wermutstropfen.
Sogar als Hochschulgermanist bin ich doch auch eine Art Lehrer, ein Sprecher des Deutschen somit, der fast täglich deutsche Texte hierarchisch untergeordneter Produzenten zu beurteilen hat. Da gerät denn nicht selten meine selbsteigene Grammatik mit derjenigen des schwächern Partners in Konflikt, und in solchen Fällen stelle ich mit Befremden an mir fest, wie ich, statt eine neue, unerhörte Variante jubelnd in die Scheuer zu fahren, zum spitzen Griffel greife um der sprachlichen Unfähigkeit der jetztlebenden Generation entschlossen zu Leibe zu rücken.
Tief in mir schlummert der längst totgeglaubte Grimmsche Pedant, und es genügt eine falsche Verbform, um ihn auftauchen zu lassen, wie das Ungeheuer vom Loch Ness. Ach, wie mir vor ihm graut!

2. Jch herzlich erwate mir vom Ihnen Bekommen von ganzen Texte über diesem Arbeiten und Ihr neuen Forschungsarbeiten, damit jch werde die aus dem Deutschen ins chinesischen übergetragen und in unserem Land Verbreitung gefunden. Mit herzlichen GrüBen Ihr Zhang Zhemin (1984)


Zhang Zhemin erhielt den verlangten Sonderdruck, mit seinem Brief ist ihm ein offensichtlich erfolgreicher Sprechakt gelungen. Obwohl der nichtnormative Linguist daraus mit Befriedigung die Lehre zieht, dass Normabweichungen dem Gelingen von Sprachhandlungen nicht im Wege stehen müssen, wird sogar er geneigt sein, die von Zhang angebotenen Varianten vielleicht doch eher als Fehler zu bezeichnen.
Gottlob hat Zhang als Chinese das Recht, über keine selbsteigene Grammatik des Deutschen zu verfügen, und dies wiederum gibt uns das Recht, ja überbürdet uns die Pflicht, ihm eine Grammatik des Deutschen anzubieten.
Eine Grammatik des richtigen Deutschen natürlich, das heisst eine ohne überflüssige Varianten, Deutsch ist so schon schwer genug. Im Bewusstsein, dem poor immigrant hilfreich unter die Arme greifen zu müssen, dürfen sich sogar gelernte Linguisten ohne Gewissensbisse an die Auswahl der "guten" Varianten machen - es geht ja nicht mehr um reine, zwecklose Beschreibung. Leonard Bloomfield verfasste ein praktisches Lehrbuch für das Deutsche und das Niederländische, Robert A. Hall eines für das Italienische und das melanesische Pidgin English, und beide strengen Deskriptivisten did not leave their languages alone: Selbstverständlich verschwiegen sie die "falschen" Varianten.
Wir haben einen Bereich der Variation entdeckt, die wir auch als wissenschaftliche Linguisten bedenkenlos als Fehler bezeichnen dürfen: jene, welche die Fremden machen; und wir haben im Fremdsprachunterricht einen Bereich entdeckt, wo der gute Zweck normativem Gebaren karitative Würde verleiht, wo das Ungeheuer vom Loch Ness zum freundlichen Flipper wird. Wie erfreut er unser Herz!

3. Sobald das Kind aber älter wird, sein erster Schritt getan hat, merkt es... (Matura-Aufsatz, Schweiz 1989)


Ja, was merkt es? Zum Beispiel, dass es gar nicht so einfach ist, die schlechten Varianten objektiv von den guten zu unterscheiden - sogar in seiner Muttersprache. Zwar meinen einige, es gebe einen Kern, in dem sich alle über Richtig und Falsch einig seien - das wäre der eigentlich grammatische Bereich; darum herum gebe es einen Bereich, in dem es nur noch um Gut oder Schlecht gehe - das wäre das Königreich des Stils.
Unser Maturand X aber geht nicht einig mit der Meinung aller, wonach es seinen ersten Schritt heissen müsste. Vielleicht würde er zustimmen, wenn man ihn darauf aufmerksam machen würde (diese Zustimmung unterscheidet, wie man sagt, "Fehler" von "Varianten"), aber wir stimmen unter entsprechenden Verhältnissen manchem zu, und der Linguistik geht es um den tatsächlichen Sprachgebrauch, nicht um seine metakommunikative Reflexion.
Dass die morphologische Übereinstimmung des Akkusativs mit dem Nominativ im Standarddeutschen ein Fehler ist, merkt man vor allem daran, dass sie in andern Varietäten des Deutschen korrekt ist. Zum Beispiel in der alemannischen Mundart, die jener Maturand als Muttersprache spricht.
Damit hat sich Maturand X zu unserer Erleichterung Zhang Zhemin als ein weiterer Fremdling an die Seite gestellt, auch ihm dürfen wir ohne uns als Pedanten zu fühlen den falschen Akkusativ anstreichen: Interferenz liegt vor, sagen wir, schädliche Einwirkung eines andern Sprachsystems. Als tüchtige Strukturalisten brauchen wir uns keine Gedanken über den unterschiedlichen Abstand der interferierenden Systeme zum Standarddeutschen zu machen.
Als tüchtige Soziolinguisten schon eher. Ist es sinnvoll, nahe verwandte und funktional komplementäre Sprachen gleich zu behandeln wie das Chinesische und das Deutsche? Falls es nicht sinnvoll sein sollte - schreibt dann Maturand X eben nicht doch in seiner selbsteigenen, lebendigen Muttersprache, in die ich ihm aufgrund von Grimms Diktum nicht hineinzureden habe, schon gar nicht guten Gewissens?
Maturand X gehört vermutlich noch zu einer Minderheit, aber er ist nicht der einzige, "wo der Akkusativ nicht kann": Schon die Existenz des Witzleins belegt die Lebendigkeit des Fehlers.
Des Fehlers?
Wir haben doch gelernt, dass wiederkehrende gleichlautende und gleichbedeutende Elemente linguistische Formen sind. Linguistische Formen hat der Linguist zu beschreiben, nicht zu kritisieren.
Vielleicht sind die Verächter des Akkusativs bloss ihrer Zeit voraus. Schliesslich hat man im Althochdeutschen auch noch hano '(der) Hahn' von hanon '(den) Hahn' unterschieden. X gehört zu einer fortschrittlichen Minderheit. Verdient er nicht Ermunterung?
Dem überzeugten nichtnormativen Linguisten müsste also schon das Anstreichen eines dummen Akkusativfehlers wenn nicht Alpträume, so doch Gewissensnöte bereiten. Ihnen entziehen wir uns, indem wir säuberlich getrennte, je in sich korrekte Systeme unterscheiden und Interferenzsysteme zu Nichtsystemen erklären, in denen wir auch als gläubige Linguisten auf die Jagd nach Fehlern gehen dürfen. Wir bemühen uns verzweifelt, das Ungeheuer vom Loch Ness als Flipper zu kostümieren.

4. ...aber es dokumentiert die ernsthaften Schwierigkeiten, in die sich Descartes durch seine strikte Trennung von res cogitans und res extensa verstrickt hat, eine ontologische Spaltung, über die er insgeheim selbst erschreckt ist. (Manfred Geier, 1989, S. 202)


Geiers erschreckt stürzt den korrigierenden Linguisten aus der eben wiedergewonnenen fragilen Sicherheit in ein Dilemma, das dem cartesianischen an Tiefe nachstehen mag - aber man erschrickt doch sehr vor "Fehlern", die kaum durch Interferenz zu erklären und somit erlaubterweise zu berichtigen sind.
Dass sie nicht vereinzelt bleiben, macht es dem Systematiker wiederum nicht leichter. Wenn Geier von einer Partei spricht, die auf Aristoteles schwörte (S. 76), und vom philosophischen Denken, das sein endloses Band flechtet (S. 90), dann verleiht er seinen Abweichungen eben das, was wir so innig suchen, nämlich System: Es geht um den Ausgleich von minoritären Bildungsweisen und von Minderheitsformen eines Paradigmas. Der Schreiber verhält sich nicht nur konsequent, sondern auch "vernünftig". Kann, soll, darf man ihm unter diesen Umständen Verstösse gegen die deutsche Sprache vorwerfen?
Der orthodoxe Linguist dürfte nicht mehr. Er dürfte nur noch feststellen, dass hier einer in interessanter und wiederum zukunftsträchtiger Weise von der Mehrheit abweicht. Wenn wir nicht gegen unsere gesamten Glaubensgrundsätze verstossen wollen, dürfen wir ihn nur deshalb, weil er (noch) in der Minderheit ist, nicht verurteilen - schliesslich werden viele Sprachformen, die wir nicht als Fehler bezeichnen würden, ebenfalls nur von einer Minderheit verwendet: Wer gedenkt denn noch eines heckenden Aars?

5. Daran anschliessen die Angaben zur Stilschicht. (Seminararbeit Hessen 1986)


Wo es um den Stil geht, kann man nicht mehr von Richtig und Falsch sprechen - sagt man. Das müsste die Linguisten, die selten Poeten sind, eigentlich ungemein beruhigen: Keine pedantischen Anwandlungen aus den unerlösten Tiefen der Seele sollten hier ihre Ruhe gefährden.
Leider ist die Grenze zwischen Grammatik und Stil verschwommen. Wenn C.F. Meyer dichtet "aufspringt der Strahl" ist's Stil, und zwar guter; wenn der Germanistikstudent hinschreibt, was im Motto steht, ist's eher Grammatik, und zwar falsche.
Doch das grösste Problem entsteht paradoxerweise dort, wo es sich zweifelsfrei um Stil handelt. Unerwarteterweise reagieren wir ausgerechnet hier am allerwenigsten mit systemlinguistischer Abgeklärtheit. Kürzlich formulierte ein Student als Untertitel seiner Lizentiatsarbeit: "Ein Probelauf zu einem XY-Wörterbuch". Wie nur konnte das Ungeheuer solche Macht über mich gewinnen, dass ich sogar vor der Androhung schwerster Konsequenzen nicht zurückgeschreckt bin, um den armen Verfasser zur Änderung dieses Titels zu nötigen, den er doch für stilistisch ausgesprochen gelungen hielt?
Weder ist es wahr, dass wir in stilisticis toleranter sind, als im grammatischen Bereich, noch kann es um Gut und Schlecht allein gehen: "[...] weil die Kompositabildung einen Problembereich darstellt, der den Skopus der vorliegenden Arbeit weit transzendiert" - das ist doch weiss Gott nicht gut gesagt, aber keiner von uns würde sich gedrängt fühlen, Willy Mayerthaler (S. 111) durch Anwendung von Gewalt zur Verbesserung seines Stils zwingen zu wollen. Vermutlich ganz einfach deswegen, weil er trotz allem "unsern Stil" schreibt, was man vom Probelauf nun wirklich nicht behaupten kann.
Wo Korrekturen am eindeutigsten linguistisch unberechtigt scheinen, lässt sich der Pedant in uns am wenigsten in Schranken halten. Und so stürzt der Stil den korrigierenden Linguisten nur umso brutaler in Selbstzweifel.

6. Das Erste, was man von jemand verlangt, der Anspruch auf Bildung macht, im Leben geachtet dastehen will, ist, dass er seine Muttersprache beherrscht. [...]



Wer mir oder mich verwechselt oder orthographische Fehler macht, der wird überall, sei er auch noch so reich, Geringschätzung und in abhängiger Stellung, Zurücksetzung erfahren. (M. Übelacker, 1922, Einleitung)
Übelacker, von dem ich nur weiss, dass er Lehrer an der Königlichen Unteroffiziersschule zu Berlin war, bewahrte dieser Beruf vor der Kurzsichtigkeit, an der viele bedeutendere Sprachgelehrte seit Grimm leiden: Er sah ganz klar, dass seinen Unteroffizieren ein Aufstieg, und sei es nur bis zum Feldwebel, verwehrt bleiben musste, solange sie auf ihrer selbsteigenen und leider sehr lebendigen Grammatik beharren sollten.
"Wenn ich so rede, dass mein Partner mich nicht versteht oder mich missversteht, so füge ich nicht ihm Schaden zu, höchstens mir. Denn es ist ja mein Ziel, verstanden zu werden; sonst bräuchte ich nicht zu reden. Jeder Eingriff von aussen in meine Sprache beschneidet meine Möglichkeiten und ist moralisch verwerflich." Was Heringer da (S. 25) im Brustton des moralisch Gesunden vorträgt, könnte auch zynisch sein. Der Zusammenhang zwischen den Aufstiegschancen preussischer Unteroffiziere und der Verwechslung von mir und mich ist nicht über die Verständigung vermittelt - wie das Normenproblem überhaupt recht wenig mit Verständigung zu tun hat, vgl. Zhang Zhemin. Der Zusammenhang ist subtiler, und bis die Unteroffiziere ihn von sich aus durchschauen würden, käme für die meisten von ihnen die Einsicht zu spät. Menschliche Karrieren unterliegen Beschränkungen - nicht zuletzt zeitlichen.
Und noch in einem hat Übelacker klarer gesehen als viele Klügere: In einem gewissen Sinne sind die sprachlichen Normen stärker als der soziale Stand - keiner darf sich Fehler leisten, auch wenn er zu den "Reichen" gehört, und das Normensystem bezieht seine Macht gerade aus der Tatsache, dass die gesamte Sprachgemeinschaft es anerkennt, auch und vor allem diejenigen, die es nicht beherrschen. Bourdieu hat schöner, Labov elaborierter gesagt, was Übelacker meint. Seine Plumpheit besteht darin, dass er offen akzeptiert, was die Wissenschaftler "objektiv" beschreiben. Kein linguistischer Überbau hat den Pedanten ihn ihm zum Untertauchen gezwungen.
Der unverdrängte Pedant drängt Übelacker zum Handeln, zum "Eingriff von aussen". Statt es ihm übel zu nehmen, lohnten die Unteroffiziere ihm das unmoralische Tun, wie die einundzwanzig Auflagen seines eher dürftigen Werks zeigen. Diejenigen, die unter der Norm leiden, weil sie sie nicht von Haus aus beherrschen, bringen weder für die Normentoleranz der Grimms noch für die Leiden der korrigierenden Linguisten viel Verständnis auf.
Natürlich wurde der Erfolgsautor Übelacker zum Profiteur des Systems, doch soll man wirklich den Arzt dafür tadeln, dass er sich von der Krankheit seiner Patienten ernährt? Vorwerfen könnte man ihm wie allen selbstbewusst-naiven Normverfechtern, dass er sich mit den Symptomen arrangiert hat. Den klügern Vertretern des Fachs darf dann aber der Vorwurf nicht erspart bleiben, dass sie nicht einmal bereit waren, sich um die Symptome zu kümmern.

7. Offenbar ist Heringer ein Anhänger des Mythos von der homogenen Sprachgemeinschaft gemäß dem jeder, sagen wir hier z.B. jeder Deutsche, durch ein Mirakel dieselben sprachlichen Regeln hantiert. (Renate Bartsch, 1987, S. 283)


Wie ist es zu erklären, dass Bartschs zähe Prosa in der Auseinandersetzung mit Heringer beinahe so etwas wie Schwung erhält? Übelackers Lesern fällt die Antwort jetzt leicht: Nicht nur preussische Unteroffiziere, auch die "Reichen", ja sogar die Sprachgelehrten selber gehören zeitweilig zu denjenigen, die sich an die Norm klammern müssen, weil sie sie nicht (mehr) selbstverständlich "hantieren". Gerechterweise fällt der Linguisten Normverachtung auch auf die Zunft selber zurück: Kein gebildeter Lektor scheint mehr bereit, die Verstösse unserer Prosa "von aussen zu beschneiden", und so kann es denn passieren, dass sie so voll steckt von sprachlichen Varianten, wie Bartschs Plädoyer für die Norm voll steckt von niederländischen Interferenzen. Wir andern Linguisten wären durch das Eingreifen des Lektors zwar der einzigen "zusätzlichen Stimulanz" beraubt worden, die jenes Buch zu bieten hat - aber gerade unser Vergnügen über jeden einschlägigen Fall verrät einen bedenklichen Mangel an Normentoleranz, und die Frage, ob der Korrektor oder der Lacher moralischer sei, stellt sich von neuem.
Vielleicht lässt sich von Bartsch die Verallgemeinerung lernen, dass unter den Linguisten nur diejenigen die Norm offen verteidigen, die sie nötig haben. Bartsch steht wenigstens zu ihrer Bedürftigkeit. Doch wer von uns hat die Norm nicht nötig? Nicht immer, natürlich, und nur wegen der andern, wenns draufankommt.
Eben.

8. Seiner guten Herkunft und seiner Redefähigkeiten wegen, gewinnt er gegenüber seinen Mitschülern ein respektvolles Verhältnis. (Matura-Aufsatz, Schweiz 1989)


Es ist nicht ganz sicher, ob Maturand Y meint, die gute Herkunft und die Redefähigkeit seines Protagonisten hätten ursächlich etwas miteinander zu tun, oder ob er sie für zwei grundsätzlich unabhängige Bedingungen des "respektvollen Verhältnisses" hält. Sicher ist, dass gute Herkunft und gute Sprache oft korrellieren; deswegen wird denn auch gerne die gute Sprache mit der Sprache der Herrschenden gleichgesetzt.
Daran mag im Kern etwas Richtiges sein. Aber wiederum ist es gut, sich an die Einsicht Übelackers zu erinnern (oder wenn man lieber mag, Bourdieus), dass eben auch der "Reiche" als Reicher nicht einfach über die gute Sprache verfügt - auch er muss sich darum bemühen, und das nimmt der sozialen Bedingtheit der Sprache etwas von ihrem übelsten Beigeschmack. Es ist nicht auszuschliessen, dass das Prestige derjenigen, die die gute Sprache erworben haben, auch auf der Tatsache beruht, dass die gute Sprache nicht leicht zu erwerben ist.
Sehr abstrakt könnte man zwei Gruppen von Normliebhabern unterscheiden. Die erste Sorte verteidigt die Norm, weil sie sie nicht beherrscht, sie aber beherrschen müsste. An sie denkt Bartsch, und ich meine, dass sie nicht Unrecht hat, wenn sie Normverteidigung dieser Art legal findet.
Die zweite Gruppe verteidigt die Norm, weil sie verhindern möchte, dass andere sie beherrschen lernen. An die zweite Gruppe denkt Heringer, und ich meine, dass er nicht Unrecht hat, wenn er Normverteidigung dieser Art unmoralisch findet.
Da sprachliche Normen als Wertungen sprachlicher Erscheinungen immer zu entstehen scheinen, auch wo keine präskriptiven Grammatiker ihr Unwesen treiben, da sprachliche Normen immer gelernt werden müssen, auch von den "Reichen", ist unmoralisch nicht die Norm, sondern unser Umgang mit ihr - z.B. auch die Verhinderung des Lernens der Norm.
"Normen? Ja - aber meine!" ist ein durchaus korrekter Standpunkt, solange ich bereit bin, meine Normen denjenigen beizubringen, die von mir (und meinen Normgenossen) abhängen. Wunderglaube, wie Bartsch sagt, oder eher falsche Ideologie ist dagegen die Annahme, alle seien mir gleich (auch wenn ich doch wissen müsste, dass ich Hochschullehrer bin und die andern meine Studenten), und sie würden von selbst und innert nützlicher Frist aufgrund ihres Verständigungswillens auf die gleichen Normen kommen, die ich schon befolge (auch wenn sie aus einer andern Region und einer andern Sozialschicht stammen).
Einar Haugen hat es unangenehm offen ausgesprochen: "It would be nice if we could persuade polite society to accept Eliza Doolittle as she is, but in our heart of hearts most of us would prefer to associate with her after Dr. Higgins has straightened out her aiches." (S. 209).
In our heart of hearts wacht das Ungeheuer vom Loch Ness.

9. Wenn man jedoch nicht sehr gut daran ist etwas zu machen was man eigentlich gar nicht will, bleibt der Erfolg aus und man bekommt Selbstzweifel. (Matura-Aufsatz, Schweiz 1992)


Mit vollendeter Stilsicherheit hat Maturand Z den Irrnis-Wirrnis-Zustand eingefangen, in den jeder gewissenhafte, gläubige, orthodoxe und zu allem Überfluss auch noch ehrliche Linguist beim Korrigieren (z.B.) geraten muss.
Sollten unsere wissenschaftlichen Vorfahren Unrecht gehabt haben, als sie uns lehrten, die Sprache zu beobachten und zu beschreiben wie sie ist, ohne an den Rotstift zu denken? Lässt sich die wissenschaftliche Auffassung von der Sprache nicht mit dem selbsteigenen Verhalten als Schreiber und vor allem als Korrigierer in Übereinstimmung bringen? Sind wir zu einem linguistischen Dr.-Jekyll-und-Mr.-Hyde-Dasein verurteilt, indem wir auf dem Katheder, wenn das Ungeheuer sich nicht ans Tageslicht wagt, der Freiheit des Sprechers und seiner selbsteigenen Grammatik kühnlich das Wort reden, während wir nächtlicherweise dem Ungeheuer freien Lauf lassen, die lebendigen Texte unserer armen Opfer nach allen Regeln der Norm zu zerfleddern?
"Man bekommt Selbstzweifel", auch wenn man sich einiges zu deren Überwindung zurechtgelegt hat. Ich werde nie den Glauben ablegen können, die Forderung nach objektiver Beschreibung sei gerechtfertigt, und die unterschiedlichen Grammatiken, die daraus resultieren, erfüllen mich mit linguistischer Wollust. Aber ich werde auch das andere Ergebnis der unparteiischen Beschreibung akzeptieren müssen, nämlich dass es keine noch so kleine Sprechergemeinschaft gibt, die auf die Bewertung der Sprache ihrer Mitglieder, auf Normen also, verzichtet.
Das müsste uns zur Einsicht bringen, dass das Verketzern der Norm wenig mit Wissenschaftlichkeit zu tun hat. Übrigens können ja auch Wertungen objektiv beschrieben werden (Einar Haugen hat's vor Jahren gesagt, man kann es nicht genug wiederholen).
Aber die objektive Beschreibung hilft uns ja eben nicht in unsern Selbstzweifeln.
Wir können uns nicht der Einsicht verschliessen, dass alle Sprecher immer wieder in irgend einer Weise in die Lage versetzt werden, sich nach Normen richten zu müssen, die (noch) nicht ihre eigenen sind. Mit einem Quentchen praktischer Intelligenz hätten wir daraus längst den Schluss gezogen, dass vielleicht gerade die zweifelnden Linguisten den Sprechern dabei helfen sollten, statt sie den selbstbewusst-naiven Normierern oder gar den bösen Normverteidigern auszuliefern. Aber das ist in der Tat eine moralische, keine wissenschaftliche Entscheidung, hier hört die Objektivität auf, hinter der wir uns so behaglich eingerichtet hatten.
Als Moralist hoffe ich inbrünstig, Normentoleranz sei tatsächlich möglich. Doch es bleibt eine Hoffnung, keine Überzeugung, schon gar keine wissenschaftliche. Ich hoffe, dass die Linguisten mithelfen können, die Menschen dazu zu bringen, abweichende Sprechweisen vor allem als abweichend statt als falsch oder lächerlich wahrzunehmen. Dass es ihnen gelingt, das eigene Ungeheuer und das der andern an den Zaum zu legen.
Aber alles hat seine Grenzen - wer ehrlich ist, merkt es an sich selbst am besten. Es wird immer Abweichungen geben, die der Pedant in uns nicht zu akzeptieren bereit ist - sogar wenn ihnen die Zukunft gehören sollte (vielleicht besonders in diesem Fall, es gibt ja auch den Neid der Alten auf die Jungen). Solche Pedanterei muss kein Grund zu existentieller Verzweiflung sein. Selbst die Konservativen haben eine Aufgabe in der Evolution, sie sorgen dafür, dass die Sprachveränderung nicht zu schnell verläuft. Und das Problem wird weiter entschärft dadurch, dass in Sprachlichem alle Menschen sowohl zu den Fortschrittlichen wie zu den Konservativen gehören - nur je in bezug auf andere Normen.
Im Grossen ist aller Grund zur Zuversicht gegeben, Grimm und Heringer haben schon recht: Die Sprache geht ihren ruhigen Gang.
Doch wir leben im Kleinen und das Ungeheuer in uns. Die Zuversicht im Grossen darf nicht dazu verführen, dass wir meinen, die alltäglichen Probleme seien keine, die die preussischen Unteroffiziere, die Fremden, die Dialektsprecher, die Schüler, die Lehrer, die korrigierenden Linguisten und überhaupt alle Sprechenden im Umgang mit der Sprache und der Norm haben.
Der Selbstzweifel wird uns erhalten bleiben.
Selbstzweifel ist das Anständigste, was dem korrigierenden Linguisten zustossen kann.


Die Zitate stammen aus der Kollektion des Verfassers; deren Existenz allein, geschweige denn ihr ansehnlicher Umfang, entlarven die Neigung des Sammlers zur sprachlichen Pedanterei in erschreckender Weise.


Zitierte und apostrophierte Literatur
Bartsch, Renate: Sprachnormen: Theorie und Praxis. Tübingen 1987. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 38).

Bloomfield, Leonard: First German Book. Columbus OH 1923 (2. Aufl. New York 1928).

Bloomfield, Leonard: Colloquial Dutch. New York 1944.

Bloomfield, Leonard: Spoken Dutch. 2 vol. New York 1944, 1945.

Bourdieu, Pierre: Ce que parler veut dire. L'économie des échanges linguistiques. Paris: Fayard, 1982 (u.ö.).

Geier, Manfred: Das Sprachspiel der Philosophen. Von Parmenides bis Wittgenstein. Reinbek 1989. (rowohlts enzyklopädie 500).

Grimm, Jacob: Vorreden zur Deutschen Grammatik von 1819 und 1822. Mit einem Vorwort zum Neudruck von Hugo Steger. Darmstadt 1968.

Hall, Robert A., Jr.: Melanesian Pidgin Phrase-Book and Vocabulary. Revised Version [...] with the Collaboration of Gregory Bateson, John W.M. Whiting. Baltimore MD, 1943.

Hall, Robert A., Jr.: Leave Your Language Alone! Ithaca N.Y. 1950.

Hall, Robert A., Jr.: La struttura dell'italiano. Roma 1971.

Haugen, Einar: Schizoglossia and the linguistic norm. In: Richard J. O'Brien (Ed.): Georgetown University Round Table Selected Papers on Linguistics 1961-1965. Washington D.C. 1968, S. 203- 209.

Heringer, Hans Jürgen: Normen? Ja - aber meine! In: Hans Jürgen Heringer: Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprachkritik. Tübingen 1988, S. 94-105.

Mayerthaler, Willy: Morphologische Natürlichkeit. Wiesbaden 1981. (Linguistische Forschungen 28).

Labov, William: Sociolinguistic Patterns. Phialdelphia 1972.



Übelacker, M.: Mir oder Mich? Oder: Richtig deutsch sprechen durch Selbst-Unterricht. Enthaltend: Sprachlehre (Grammatik), mit besonderer Berücksichtigung der Schwierigkeiten beim dritten und vierten Fall (mir oder mich), bei Vor- und Zeitwörtern. Alles mit vielen Übungen und Lösungen. Berlin 1922 (21. Auflage).


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