Adorno und die Kabbala (Pri ha-Pardes; 9)



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„die mehr oder minder den Tabus der offiziellen Philosophiegeschichte ver-
fallen sind und an denen heute zu deren Kritik – und der des traditionellen 
grenzensetzenden Denkens, der Chorismos- Philosophie – überaus viel zu ler-
nen wäre.“
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 Der Begriff  Chorismos soll den Abgrund zwischen Ideenwelt 
und Materie bei Platon bezeichnen.
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 Adorno verwendet ihn hier allerdings 
für dogmatische Grenzen in der Philosophiegeschichte, ja ‚grenzensetzendes 
Denken‘, den Identitätszwang überhaupt. Gegen sie will er marginale und mit 
Misstrauen beäugte Konzepte stark machen, „das am Weg liegen Gebliebene, 
Vernachlässigte, Besiegte, das unter dem Namen des Veraltens sich zusam-
menfaßt.“ (GS 10.1, 317) Denn: „Wer sich ganz auf  der Höhe der Zeit befin-
det, ist immer auch ganz angepaßt und will es darum nicht anders haben.“ 
(BW 4.4, 431) Für dieses demonstrativ Unzeitgemäße steht der Begriff  Häre-
sie, den Adorno wie zitiert auch für den eigenen, metaphysik-affinen Zugang 
zum  Materialismus  gebrauchte.  Er  würdigt  auch  Scholems  Forschung  mit 
dieser  Begründung.  Indem  der  Kabbala forscher  verdrängte  und  vergessene 
Überlieferungen  sammle,  betreibe  er  gegen  das  Opake  des  Mythos  dessen 
„Versöhnung“.
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 „Dem unterdrückten Unteren widerfährt jene Gerechtigkeit, 
die verhindert wird von dem Recht, das die Geschichte hindurch waltet, und 
solche Gerechtigkeit wird auch dem Mythos zuteil.“ (GS 20.2, 484)
2.3 Das Absolute als Prozess.  
Kabbala und dialektischer Idealismus  
im Umfeld des Instituts für Sozialforschung
Im  Gegensatz  zu  Scholems  demonstrativer  Distanz  zu  materialistischen,  ja 
gesellschaftstheoretischen  Fragestellungen  überhaupt,  stand  die  tiefe  Ver-
ehrung Scholems durch Adorno. Rolf  Tiedemann erinnerte sich:
„Der  Ruf,  der  ihm  im  Institut  für  Sozialforschung  vorauseilte,  hätte  niemanden 
mehr erstaunt als Scholem. Es war der uneingeschränkter Autorität, ohne daß man 
so  recht  hätte  sagen  können:  Autorität  wofür.  Natürlich  für  die  Geschichte  der 
Kabbala, aber von der wußten wir kaum etwas. […] Adorno war unermüdlich, dem 
92 
Adorno an Hans Jonas, 7. Oktober 1959 (TWAA, Br 702/5).
93 
Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen platonischen Begriff, vielmehr wird der Spalt 
zwischen Ideen und Welt Platon kritisch nachgetragen. Das Wort Chorismus wird dafür erst 
im 20. Jahrhundert verwendet. (vgl. Meinhardt. 
Chorismos).
94 
Vgl. zu Adornos vielschichtigem Begriff  des Mythos Kapitel 3.1.


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Ruhm Scholems den Weg zu ebnen. Er hätte von diesem wohl sagen können, was 
dieser von den Kabbalisten zu sagen pflegte: Er weiß etwas, das wir nicht wissen.“
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Mit einem „So? Na, na“ habe Scholem die kühnsten Philosopheme Adornos 
zum Schweigen bringen können, so Tiedemann weiter.
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 Gerold Necker hat 
herausgearbeitet, dass die von Tiedemann – und auch von Adorno stets – 
beschworene Unkenntnis der Kabbala geradezu repräsentativ für die gesamte 
Bonner Republik war, der erst Scholem sie wieder zugänglich machte.
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 Ein 
inhaltlicher Grund für die Frankfurter Faszination liegt in der Form, in der 
Ideen  wie  die  Selbstverschränkung  Gottes  im  Zimzum  Ideen  vorwegzu-
nehmen  schienen,  die  am  Institut  für  Sozialforschung  hoch  im  Kurs  stan-
den.  Auch  Tiedemann  hat  diesen  Bezug  betont:  In  den  „abenteuerlichsten 
Divagationen  der  Männer  aus  Safed,  Moses  Cordoveros  und  Isaak  Lurias“ 
erschien „die spekulative Dialektik des deutschen Idealismus, die wir in den 
Seminaren Horkheimers und Adornos studierten […] irgendwie bereits vor-
gebildet. Irgendwie: Über das genaue Wie hätte nur Scholem Auskunft geben 
können.“
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 Ich will zumindest versuchen, einige Überlegungen zur Konkre-
tisierung  dieses  „irgendwie“  zu  dokumentieren  und  zwar  von  Adorno  und 
Habermas.  Da  die  entsprechenden  Belege  bei  Adorno  nur  schwer  greifbar 
sind, umreiße ich eher Stichpunkte einer textlich kaum fixierten Debatte statt 
eine philosophische Diskussion zu versuchen.
Adorno schreibt im 
Gruß an Gershom G. Scholem zum 70. Geburtstag, der 
1967 in der 
Neuen Züricher Zeitung erschien, dass kabbalistische „Spekulationen 
auf  den deutschen Idealismus bedeutenden Einfluß ausgeübt hatten und mir 
darum philosophisch wiederum vertrauter und näher waren, als es bei mei-
nem Mangel an philologischer und historischer Kenntnis zu erwarten gewesen 
wäre.“ (GS 20.2, 483) In einer Zwischenabschrift der 
Negativen Dialektik von 
1965 liest man in einer Anspielung auf  die unterstellte historische Selbstrefle-
xivität der Kabbala, dass „das mystisch spekulative Bewußtsein gerade in seiner 
rücksichtslosesten Ausprägung die eigene Vermitteltheit nicht verleugnet; wie 
denn Hegel in der Geschichte der Philosophie für die Kabbala sympathisie-
rende Worte fand.“
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 Den Bezug auf  Hegel hat Adorno in der veröffentlichten 
95 
Tiedemann. 
Erinnerung an Scholem. S. 212.
96 
A. a. O. S. 213.
97 
Necker. 
Gershom Scholems ambivalente Beziehung zu Deutschland. S. 7.
98 
Tiedemann. 
Erinnerung an Scholem. S. 212.
99 
Negative Dialektik, Zwischenabschrift (TWAA, Ts 16027).


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