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„die mehr oder minder den Tabus der offiziellen Philosophiegeschichte ver-
fallen sind und an denen heute zu deren Kritik – und der des traditionellen
grenzensetzenden Denkens, der Chorismos- Philosophie – überaus viel zu ler-
nen wäre.“
92
Der Begriff Chorismos soll den Abgrund zwischen Ideenwelt
und Materie bei Platon bezeichnen.
93
Adorno verwendet ihn hier allerdings
für dogmatische Grenzen in der Philosophiegeschichte, ja ‚grenzensetzendes
Denken‘, den Identitätszwang überhaupt. Gegen sie will er marginale und mit
Misstrauen beäugte Konzepte stark machen, „das am Weg liegen Gebliebene,
Vernachlässigte, Besiegte, das unter dem Namen des Veraltens sich zusam-
menfaßt.“ (GS 10.1, 317) Denn: „Wer sich ganz auf der Höhe der Zeit befin-
det, ist immer auch ganz angepaßt und will es darum nicht anders haben.“
(BW 4.4, 431) Für dieses demonstrativ Unzeitgemäße steht der Begriff Häre-
sie, den Adorno wie zitiert auch für den eigenen, metaphysik-affinen Zugang
zum Materialismus gebrauchte. Er würdigt auch Scholems Forschung mit
dieser Begründung. Indem der Kabbala forscher verdrängte und vergessene
Überlieferungen sammle, betreibe er gegen das Opake des Mythos dessen
„Versöhnung“.
94
„Dem unterdrückten Unteren widerfährt jene Gerechtigkeit,
die verhindert wird von dem Recht, das die Geschichte hindurch waltet, und
solche Gerechtigkeit wird auch dem Mythos zuteil.“ (GS 20.2, 484)
2.3 Das Absolute als Prozess.
Kabbala und dialektischer Idealismus
im Umfeld des Instituts für Sozialforschung
Im Gegensatz zu Scholems demonstrativer Distanz zu materialistischen, ja
gesellschaftstheoretischen Fragestellungen überhaupt, stand die tiefe Ver-
ehrung Scholems durch Adorno. Rolf Tiedemann erinnerte sich:
„Der Ruf, der ihm im Institut für Sozialforschung vorauseilte, hätte niemanden
mehr erstaunt als Scholem. Es war der uneingeschränkter Autorität, ohne daß man
so recht hätte sagen können: Autorität wofür. Natürlich für die Geschichte der
Kabbala, aber von der wußten wir kaum etwas. […] Adorno war unermüdlich, dem
92
Adorno
an Hans Jonas, 7. Oktober 1959 (TWAA, Br 702/5).
93
Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen platonischen Begriff, vielmehr wird der Spalt
zwischen Ideen und Welt Platon kritisch nachgetragen. Das Wort Chorismus wird dafür erst
im 20. Jahrhundert verwendet. (vgl. Meinhardt.
Chorismos).
94
Vgl. zu Adornos vielschichtigem Begriff des Mythos Kapitel 3.1.
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Ruhm Scholems den Weg zu ebnen. Er hätte von diesem wohl sagen können, was
dieser von den Kabbalisten zu sagen pflegte: Er weiß etwas, das wir nicht wissen.“
95
Mit einem „So? Na, na“ habe Scholem die kühnsten Philosopheme Adornos
zum Schweigen bringen können, so Tiedemann weiter.
96
Gerold Necker hat
herausgearbeitet, dass die von Tiedemann – und auch von Adorno stets –
beschworene Unkenntnis der Kabbala geradezu repräsentativ für die gesamte
Bonner Republik war, der erst Scholem sie wieder zugänglich machte.
97
Ein
inhaltlicher Grund für die Frankfurter Faszination liegt in der Form, in der
Ideen wie die Selbstverschränkung Gottes im Zimzum Ideen vorwegzu-
nehmen schienen, die am Institut für Sozialforschung hoch im Kurs stan-
den. Auch Tiedemann hat diesen Bezug betont: In den „abenteuerlichsten
Divagationen der Männer aus Safed, Moses Cordoveros und Isaak Lurias“
erschien „die spekulative Dialektik des deutschen Idealismus, die wir in den
Seminaren Horkheimers und Adornos studierten […] irgendwie bereits vor-
gebildet. Irgendwie: Über das genaue Wie hätte nur Scholem Auskunft geben
können.“
98
Ich will zumindest versuchen, einige Überlegungen zur Konkre-
tisierung dieses „irgendwie“ zu dokumentieren und zwar von Adorno und
Habermas. Da die entsprechenden Belege bei Adorno nur schwer greifbar
sind, umreiße ich eher Stichpunkte einer textlich kaum fixierten Debatte statt
eine philosophische Diskussion zu versuchen.
Adorno schreibt im
Gruß an Gershom G. Scholem zum 70. Geburtstag, der
1967 in der
Neuen Züricher Zeitung erschien, dass kabbalistische „Spekulationen
auf den deutschen Idealismus bedeutenden Einfluß ausgeübt hatten und mir
darum philosophisch wiederum vertrauter und näher waren, als es bei mei-
nem Mangel an philologischer und historischer
Kenntnis zu erwarten gewesen
wäre.“ (GS 20.2, 483) In einer Zwischenabschrift der
Negativen Dialektik von
1965 liest man in einer Anspielung auf die unterstellte historische Selbstrefle-
xivität der Kabbala, dass „das mystisch spekulative Bewußtsein gerade in seiner
rücksichtslosesten Ausprägung die eigene Vermitteltheit nicht verleugnet; wie
denn Hegel in der Geschichte der Philosophie für die Kabbala sympathisie-
rende Worte fand.“
99
Den Bezug auf Hegel hat Adorno in der veröffentlichten
95
Tiedemann.
Erinnerung an Scholem. S. 212.
96
A. a. O. S. 213.
97
Necker.
Gershom Scholems ambivalente Beziehung zu Deutschland. S. 7.
98
Tiedemann.
Erinnerung an Scholem. S. 212.
99
Negative
Dialektik, Zwischenabschrift (TWAA, Ts 16027).