21
Einleitung
zu diesem Band
Im vierten Band der „Sauerländischen Mundart-Anthologie“ werden
plattdeutsche „Lyriksammlungen“ und Reimdichtungen aus dem Kreis
Olpe, dem Hochsauerland, dem märkischen Sauerland (mit Hagen) und
dem Gebiet des Kreises Soest erschlossen. Als Quellen sind sechszehn
selbstständige Veröffentlichungen (Bücher oder „Broschüren“) aus der
Zeit der Weimarer Republik – sowie dem Jahr 1933 (ein Buch) – heran-
gezogen worden. Hierbei handelt es sich um ausgesprochene Mundart-
lyrik-Bände sowie Sammlungen gemischten Inhalts (Gedichte und
Prosa; hoch- und plattdeutsche Texte). Bezogen auf den größeren Teil
der Werke (zehn Titel) werden die plattdeutschen Gedichte nachfolgend
vollständig dargeboten; bei sechs Lyrikbänden habe ich eine Auswahl
vorgenommen. Eine umfangreiche Edition „Verstreute und nachgelas-
sene Mundartgedichte 1919-1933“ soll in unserer Reihe unmittelbar
folgen.
Allein in den Jahren 1924 bis 1926 sind in der Region zehn eigen-
ständige Werke erschienen, die ausschließlich oder in beachtlichem
Umfang Mundartgedichte enthalten. Völkische Ideologen werden die
erste gesamtdeutsche Demokratie später herabsetzend „Systemzeit“
nennen und ihr unterstellen, in besonderer Weise eine Verachtung des
Plattdeutschen gefördert zu haben. In Wirklichkeit sind die Weimarer
Jahre – nach Einsetzen des wirtschaftlichen Aufschwungs und vor der
Weltwirtschaftskrise – in Südwestfalen eine ausgesprochene „Blüte-
zeit“ der plattdeutschen Literatur gewesen. Die Geschichtsschreibung
zur Weimarer Republik hat „sich stark auf die Avantgarde und die mas-
senkulturelle Moderne konzentriert und die Heimat- und Gebrauchs-
literatur nur am Rande“ berücksichtigt (Hoeres 2014, S. 157). Die Er-
scheinungen einer ausgeprägten und regen Regionalkultur lassen sich
jedoch beim „Blick von unten“ gar nicht übersehen. – Welche Bedürf-
nisse melden sich hier zu Wort? Wer sind die Akteure? Gibt es eine
vorherrschende ideologische Tendenz? Solche Fragen sollen im
22
Rahmen der sauerländischen Mundartliteraturgeschichte behandelt wer-
den, wenn Sichtung und Edition der plattdeutschen Texte des Zeitraums
abgeschlossen sind. Der nachfolgende Überblick zu Werken von drei-
zehn Autoren und Autorinnen enthält bereits Anhaltspunkte für die
Suche nach Antworten.
I. KREIS OLPE
1. L
UDWIG
P
ETER
G
ABRIEL
(1886-1944):
Dieser Autor aus (Attendorn-
)Helden veröffentlicht 1924 ein Buch mit dem hochdeutschen Titel
„Bunte Blätter – Schilderungen und Begebenheiten aus dem Rothaarge-
birge“, das ausschließlich Mundartexte enthält – darunter 46 Gedichte
bzw. Schwänke in Reimform. „Louis Gabriel“ war „Landwirt mit
Abitur“, „begabter Organist“ und „Kapellmeister von 1911 bis 1926“
(Im reypen Koren 2010, S. 188-189). Zur Biographie liegen mir – von
einem Stammbaum abgesehen – keine soliden Forschungsquellen vor,
sondern nur Mitteilungen eines Elsper Malermeisters (aufgrund münd-
licher Überlieferungen) aus dem Jahr 1994. Zwei Äcker habe der
„Bayer Louis“ verkauft bzw. geopfert, um sein Buch herausbringen zu
können. Er sei ein „175er“ – also homosexuell – gewesen. Dieser Um-
stand soll bei seinem – mutmaßlichen – Freitod im Jahr 1944 eine Rolle
gespielt haben. Es gibt bislang keine Anhaltspunkte für eine wie auch
immer geartete Aufnahme der „Bunten Blätter“ in den Heimatszenen
des kölnischen Sauerlandes (das Ausbleiben eines Echos muss für den
Verfasser deprimierend gewesen sein). Ein kleiner Text aus dem Buch
ist aber ohne Autorenangabe in den Arnsberger „Ruhrwellen“ abge-
druckt worden (Viäl Dummes 1927). Gabriel greift – wie viele andere
Autoren – auf überlieferte Motive und Stoffe zurück.
3
In formaler
Hinsicht fällt die Meisterschaft oft bescheiden aus. Besondere Beach-
tung verdienen hingegen die Inhalte! Alle gereimten Mundartschwänke
zeichnen sich durch eine ausgesprochen bösartige Tendenz aus und
können als „Dekonstruktion“ (bzw. Destruktion) jenes katholischen
Paradieses der kleinen Leute gelesen werden, das Friedrich Wilhelm
Grimme noch im 19. Jahrhundert über seine Schwankprosa vermittelt
bzw. „erfunden“ hat. Bei Gabriel geht es nicht mehr um ein gutmütiges
Foppen unter Landsleuten und liebenswürdige Mentalitäten. Die Men-
3
Zur Stunde kann ich noch keine Aussage treffen über mögliche literarische
Abhängigkeiten von anderen Werken, die über bloße ‚Inspirationen‘ hinausgehen.
23
schen verletzen sich mit Wort und Tat. Zurück bleiben ausgeschlagene
Zähne und ein verbitterter, vielleicht gar paranoider Rückzug der Leid-
tragenden. – Es gibt aber auch viele Tierleichen: zwei totgeklatschte
oder erwürgte Sperlinge (De Viuelsnieder), eine trächtige Sau mit zwölf
ungeborenen Ferkeln (Ne Swieneslächterie) sowie ein als vermeintli-
cher Iltis im Sack zerschmetterter ‚Jagdhund‘ (Ne Jagdgeschichte); ein
angeblich treuer Wachhund macht gemeinsame Sache mit einem
Wurstdieb und überfrisst sich mit Todesfolge (Et Ruieken). – Eine
Hochzeitgesellschaft missachtet den als Musikanten so unersetzlichen
Kuhwilhelm und schlägt schließlich sogar auf ihn ein; der Musikus
zerstört auf der Flucht den eigenen Dudelsack, um geräuschlos entkom-
men zu können (De Musekantenflucht). Keiner lacht in befreiender
Weise über sich selbst. Schadenfreude ist an der Tagesordnung. Ein
Opfer wird so weit getrieben, dass es sich totschießen lassen will (Deu
aarme Blinge). Alkohol und Fleischerzeugnisse spielen eine große Rol-
le, doch der Genuss geht fast immer mit fatalen Dingen einher. Im
gereimten Schwank über einen geizigen Apfelhofbesitzer (De Appel-
deuv) präsentiert Gabriel eine hässliche Kontrastgestalt zu Fontanes
Ballade „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“. Die vom Volk
verehrten und bewirteten Bettelmönche prahlen mit ihrer Kunst der
Geisterbeschwörung, doch ein Knecht entlarvt sie als Angsthasen (De
Pööters un de Bock). – Dem hundertjährigen Bauernkalender kann man
nicht trauen (De Kaländer). In einigen Texten wird der Kosmos der
tradierten Spruchweisheiten über assoziativ wirkende Anhäufungen,
Verkettungen und Verfremdungen ad absurdum geführt. Das zeugt
zumeist von keiner schönen Welt: „Weu en Schaaren jiät, kitt öuk en
Spott, / dät iß nit te bediueren; / weu mool de Wohrheut höören well, /
matt annen Diähren liueren. [Wer den Schaden hat, kriegt auch den
Spott, / das ist nicht zu bedauern; / wer mal die Wahrheit hören will, /
muss an den Türen horchen]“ (Allerhand; vgl. auch Do slatt se iärrek).
Die entsprechenden Reimexperimente sind durchaus originell. Eine
väterliche Belehrung an den Sohn enthält nichts Kindgerechtes oder
Ermutigendes: Viele bittere Pillen wird der Kleine in seinem Leben
noch schlucken müssen ... (Wat me alles lehren matt). – Ein einzelner
Rückgriff auf die vorchristliche Zeit ergibt noch keine völkische
Tendenz (Amm’ Driudensteine). Vielmehr wird in einigen ernsten Ge-
dichten einer streng katholischen Moral das Wort geredet (Deu amme
Wiäge stiärwet; Döudesfahrten). Es gibt Schuld, Scheitern, einen un-
nachsichtig rächenden „Gott“ – aber keine Gnade (Ausnahme: Glück un
Dostları ilə paylaş: |