OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
und auch in die Katorga deportiert wurden.
176
Sie ist, wie aus der Argumentation des No
vosibirsker Historikers Leonid M. Gorjuškin hervorgeht, eng an die Entwicklung der re
volutionären Bewegung angelehnt, die in der sowjetischen und sowjetisch geprägten
Geschichtsschreibung zum Maßstab für die Katorga-Forschung genommen wurde. Sinn
voller ist es allerdings, neben der sozialen und politischen Zusammensetzung der Häft
lingsgesellschaft auch Veränderungen in der Organisation des Strafvollzugs bei der Pe
riodisierung zu berücksichtigen. Frühe sowjetische Beiträge zur Katorga tun dies auch.
177
Wichtige Einschnitte in der ausgehenden Zarenzeit bilden unter diesem Gesichtspunkt
die Konzentration der politischen Zwangsarbeiter im Laufe der 1870er Jahre bei den
Goldminen des Kara-Tals, die Aufhebung des Sonderstatus der „Politischen“, ihre
Gleichstellung mit den Kriminellen und ihre Überführung zurück in den Nerčinsker Sil
berminen-Distrikt 1890 sowie die massive Ausweitung der Katorga durch den Zustrom
nach der Revolution von 1905, der mit einer zeitweiligen Verschärfung der Haftbedin
gungen, der Verteilung der „Politischen“ auf verschiedene Gefängnisse im Kreis
Nerčinsk und der Aufhebung der eigenen Verwaltung für die Nerčinsker Katorga einher
ging.
In jedem Fall gilt es bei der Behandlung der politischen Katorga stets zu berück
sichtigen, dass es sich um eine mehrfache Sonderkategorie innerhalb des Verbannungs
systems handelte. Grundsätzlich schon war die Zahl der aus politischen Gründen Betrof
fenen um ein vielfaches geringer als jene der Kriminellen; innerhalb des Verbannungs
systems wiederum war die Zahl derer, die zu Verbannung zur Zwangsarbeit verurteilt
wurden, bedeutend kleiner als jene, die unter eine andere Kategorie der Verbannung fie
len. Mithin waren die
katoržane eine marginale Gruppe. Aussagekräftige Zahlen anzu
führen ist insofern nicht einfach, als in den Statistiken zum Verbannungssystem oft die
verschiedenen Kategorien gemischt sind.
178
Der Gesamtbestand der Katorga im letzten
Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts schwankte zwischen rund 14.500 Personen 1892 und
rund 10.700 Häftlingen 1898. Die Zahl der „Politischen“ betrug
aber nur einen winzigen
176 Vgl. dazu K
ACZYNSKA
Gefängnis, bes. S. 167, sowie den Aufsatz von G
ENTES
Political Exile, S. 197–
217, bes. 203–215. Die Periodisierung nach sozialen Verhältnissen, die K
ACZYNSKA
Gefängnis, S. 178,
vornimmt – vermutlich bezogen auf die Gesamtheit der Verbannten (Ssylka und Katorga) –, lässt die
russischen Terrorwellen des ausgehenden 19. Jahrhunderts unverständlicherweise außer Acht; unter
schieden wird nur zwischen folgenden drei Kategorien: Aufständische 1826–1848 – polnische Auf
ständische 1863 – Deportationen 1905–1908.
177 Vgl. F
OMIN
Katorga, S. 25, und in der Sibirskaja sovetskaja ėnciklopedija (Anfang 1930er Jahre)
P
LESKOV
Nerčinskaja katorga, Sp. 743, wo es zur Phase nach 1905 heißt: „Die Katorga veränderte ihr
Gesicht, wurde umfangreicher und stärker organisiert.“ – Zur Nerčinsker Katorga 1903–05 vgl. auch
T
AGAROV
Uzniki, S. 86–98.
178 Die Erstellung einer aussagekräftigen Statistik nur zu den politischen Häftlingen der Katorga er
forderte die systematische Auswertung der Rechenschaftsberichte der Gefängnishauptverwaltung über
den Zeitraum des ausgehenden Zarenreichs. Für die achtziger Jahre (Kara) gibt es aber dank M
OŠKINA
Katorga, S. 68, auf die politische Katorga bezogene Auswertungen. Demnach gelangten zwischen
1880 und 1893 insgesamt 215 „Politische“ nach Transbaikalien; zwischen 1880 und 1884 war die
Zahl der jährlichen Neuzugänge am höchsten (1880: 55, 1882: 47, 1884: 25), danach sank sie rasch.
Darin spiegelt sich die harte Hand des Regimes nach der ersten Terrorwelle. Kaczynskas Statistik-Ka
pitel, K
ACZYNSKA
Gefängnis, S. 43–62, mischt – wohl der eher misslichen Datengrundlage geschuldet
– Zahlenmaterial von verschiedenen Ssylka-Kategorien und der Katorga wild durcheinander und
deckt überdies einen viel größeren Zeitraum ab, als es diese Untersuchung im Sinn hat. Zahlen der
GTU zum ausgehenden 19. Jahrhundert finden sich
auch bei D
VORJANOV
V sibirskoj, S. 99–101.
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3.1. Die Katorga im russischen Verbannungs- und Strafsystem
Bruchteil davon, nämlich – beispielsweise – 1901, bei einem Gesamtbestand von rund
11.000 Katorga-Insassen, 180 Personen oder 1,6 Prozent.
179
Während im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Zahl der Kat
orga-Häftlinge stetig abnahm und sich die schon zuvor bestehende, deutliche Differenz
zwischen dem Umfang der (vor allem administrativen) Ssylka und der Katorga weiter
zu Ungunsten der letzteren vergrößerte,
180
schwoll die Zahl der
katoržane nach der Re
volution von 1905 noch einmal bis 1911 gewaltig an, vor allem wegen der aufstän
dischen Soldaten und Matrosen.
181
Danach reduzierte sich die Zahl bis zum Ausbruch
des Ersten Weltkriegs, um nach 1914 wieder anzusteigen. Die Zunahme wird in der Re
gel mit den Verschärfungen im Justizwesen in Zusammenhang gebracht; die Mili
tärgerichte, die zur raschen Aburteilung der Aufständischen eingesetzt wurden, fällten
härtere Strafen als die normalen Gerichte.
182
Der Anstieg der Häftlingszahlen vernichtete
nicht nur den Erfolg, den die Gefängnisreform bis in die 1890er Jahren erreicht hatte –
die sanfte Modernisierung bestehender Bauten (die stets durch Geldknappheit in Frage
gestellt war), vor allem aber die Beseitigung der Überbelegung durch den Neu- oder
Umbau von Gefängnissen.
183
Er zwang die Regierung dazu, im europäischen Russland
neue Gefängnisse für die Verbüßung der Katorga-Strafen einzurichten.
184
Der Charakter
der Strafe änderte sich nicht zuletzt dadurch noch einmal stark – Katorga war nicht
mehr, wie in den Dekaden zuvor, mit Sibirien und dem russischen Fernen Osten gleich
zusetzen. Die politische Katorga hatte zudem schon seit dem letzten Drittel des 19. Jahr
hunderts ihren eigentlichen Zwangsarbeitscharakter verloren, weil es an Arbeits
179 Alle Zahlen bei D
ALY
Punishment, S. 351, u.a. auf der Grundlage des Rechenschaftsberichts der Ge
fängnishauptverwaltung für 1901
(otčet po Glavnomu tjuremnomu upravleniju za 1901g.).
180 Vgl. G
ORJUŠKIN
Predislovie, S. 12. Vgl. auch M
OŠKINA
Katorga, S. 19f., für die Zeit Anfang der 1870er
Jahre und P
LESKOV
Nerčinskaja katorga, Sp. 743, zur Lage um die Jahrhundertwende.
181 Vgl. D
VORJANOV
V sibirskoj, S. 271 (
tablica 10): Zahl der „Politischen“ in den Katorga-Gefängnissen
des Nerčinsker Kreises 1907–1912. Demnach saßen 1907 insgesamt 189 politische Häftlinge, 1908
bereits 399 und 1909 554 in den verschiedenen Gefängnissen ein. 1912 waren es 451.
182 R
ABE
Widerspruch, S. 150–155 und 353, und G
ORJUŠKIN
Predislovie, S. 13f. B
ABEROWSKI
Konstitution,
S. 398, berichtet allerdings von Strafverteidigern, die genau das Gegenteil davon beobachtet zu haben
glaubten. Die Zahlen sprechen eher eine andere Sprache: Zwischen 1906 und 1909 wurden jährlich
zwischen 961 (1909) und 1723 (1908) Personen aus politischen Gründen hauptsächlich durch Mili
tärgerichte zu Katorga-Strafen verurteilt, was zu einem deutlichen Anstieg der Häftlingszahlen führte,
vgl. Š
ČERBAKOV
Iz istorii, S. 84. D
ALY
Political Crime, S. 85, relativiert: Zwischen 1906 und 1912 sei
en nur 13,8 Prozent der wegen politischer Vergehen Verurteilten mit Ansiedlung oder Katorga be
straft worden (insgesamt 3485 Personen).
183 A
DAMS
Politics, S. 130–133. Adams legt Wert darauf, dass es der GTU gelang, den Strafvollzug in
den Gefängnissen durch deren bauliche Anpassungen jenem im westlichen
Europa stark anzugleichen,
trotz chronischem Geldmangel und der Tatsache, dass das russische Strafsystem erst im Laufe des 19.
Jahrhunderts das Gefängnis als Vollzugsort richtig entdeckt hatte. Š
ČERBAKOV
Iz istorii, S. 81, der von
einem „riesigen Gefängnisapparat“ spricht, ist, mit D
ALY
Punishment, S. 358f., entgegenzuhalten, dass
Russlands Gefängniswesen umfangmäßig (relativ zur Bevölkerung) stets im Verhältnis zu Westeuropa
unterentwickelt blieb.
184 Š
ČERBAKOV
Iz istorii, S. 83, zählt Vollzugsorte der Katorga im europäischen Teil Russlands nach
1905/10 auf (Katorga-Zentralgefängnisse): Cherson, Moskau, Warschau, Saratov, Vologda, Smo
lensk, Nikolaevsk, Vladimir, Char’kov, Orel, Jaroslavl’, Pskov, Riga, Schlüsselburg (bei St. Peters
burg). In Sibirien finden wir Tobol’sk zusätzlich zur Nerčinsker Katorga und dem Zentralgefängnis
Aleksandrovsk bei Irkutsk gemäß E
ROŠKIN
Katorga, S. 536.
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