1.5. Historiographiegeschichte und Forschungsstand
des Enisej in der kleinen Ortschaft Šušenskoe zwischen 1897 und 1900.
51
Zwar werden
– unter der erwähnten Prämisse – in den zahlreichen Sammelbänden aus Novosibirsk
und Irkutsk vielfältige Aspekte vor allem der Ssylka
und, in geringerem Maß, auch der
Katorga
beleuchtet, meist mit Hilfe von Archivmaterial. Der analytische Wert der Studi
en ist allerdings zumeist gering; es werden vornehmlich Fakten und Zahlen aneinander
gefügt und mitunter dramatisierende Schlüsse gezogen, die einer näheren Prüfung ohne
ideologische Scheuklappen nicht standhalten. Neuerdings wird die Irkutsker Reihe fort
geführt, ohne dass aber die einzelnen Beiträge sich wesentlich vom Muster der sowjeti
schen Forschung unterscheiden würden.
52
Auf die einseitige Behandlung der Ssylka
in
nerhalb der sowjetischen Forschungen zum Zusammenhang der revolutionären Bewe
gung und der Verbannung politischer Gegner des zarischen Regimes weist auch Zoja V.
Moškina hin.
53
Ihre schmale, auf regionale und zentrale Archive gestützte neuere Studie
befasst sich daher ausschließlich mit der Katorga politischer Häftlinge, beschränkt sich
aber zeitlich auf das ausgehende 19. Jahrhundert und geographisch auf den Umkreis von
Nerčinsk.
54
Zwangsarbeit und Verbannung fristen nicht nur in der gegenwärtigen russischen For
schung eine Randexistenz. Die westlichsprachige Wissenschaft hat sich in den vergan
genen Jahrzehnten und bis heute nur sehr stiefmütterlich mit diesem Kapitel russischer
Geschichte beschäftigt.
55
Zurecht hat der britische Sibirienhistoriker Alan Wood Ende
der achtziger Jahre bemerkt, Kennans großer Reisebericht aus dem Jahr 1891 sei die
„neueste“ umfassende Darstellung des Verbannungssystems.
56
Wood selbst, bis in die
1990er Jahre der einzige englischsprachige Historiker, der sich im Rahmen seiner Sibiri
en-Forschungen explizit mit Verbannung und Zwangsarbeit beschäftigte, publizierte ei
nige Aufsätze zum Verbannungssystem insgesamt.
57
Seit einigen Jahren zählt auch der
in Australien lehrende Russlandhistoriker Andrew Gentes zu jenen, die sich des Themas
angenommen haben; er hat seine Dissertation, die allerdings (noch) nicht veröffentlicht
51 Vgl. dazu die Ausführungen bei D
VORJANOV
V sibirskoj, S. 104–125, sowie das entsprechende Kapitel
in der Lenin-Biographie von Robert Service (S
ERVICE
Lenin, S. 151–176). Das relativ ruhige Leben,
das dem Revolutionär die Niederschrift seines Werkes „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russ
land“ erlaubte und ihn keineswegs von der revolutionären Bewegung abschnürte, wird mitunter als
Beispiel für die milden Seiten zarischer Strafpraxis angeführt – oft aber bei mangelnder Kenntnis des
Unterschieds zwischen Katorga und Ssylka. Weniger bekannt ist Stalins Verbannungsort Kurejka
nördlich von Turuchansk am Unterlauf des Enisej, ziemlich genau auf der Höhe des nördlichen Polar
kreises. In den 1910er Jahren hielt sich rund um Turuchansk eine ganze „Kolonie“ führender Bolsche
wiki auf, die miteinander im Kontakt standen, vgl. G
OEHRKE
Gegenwart, S. 94–102.
52 Die Reihe „Sibirskaja ssylka: sbornik naučnych statej“ wurde im Jahr 2000 begründet, die Zählung
beginnt mit
vypusk 1; die dieser Nummer in Klammern angefügte Zahl 13 weist aber darauf hin, dass
an die Reihe „Ssyl’nye revoljucionery v Sibiri (XIX v. fevral’ 1917 g.)“ angeknüpft wird. Auch die
neue Reihe wird von N. N. Ščerbakov herausgegeben (vgl. Fussnote 48).
53 M
OŠKINA
Katorga, S. 9. Zur Forschungsgeschichte vgl. ebd., S. 6–9.
54 Die Studie ist an der Transbaikalischen Staatlichen Pädagogischen Universität in Čita verfasst wor
den. Nerčinsk gehört zur
oblast’ Čita (in zarischer Zeit Gouvernementshauptstadt). Sie bleibt, trotz
Archivstudien, dem sowjetischen Muster der Katorga-Historiographie treu.
55 Die westlichsprachige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Verbannungssystem behandeln
aus sowjetmarxistischer Warte G
ORJUŠKIN
/D
ERGAČEV
Istoriki, S. 74–86.
56 W
OOD
Crime, S. 215 mit Anmerkung 4. Allerdings handelt es sich dabei natürlich nicht um eine wis
senschaftliche Abhandlung.
57 W
OOD
Sex
and Violence;
DERS
. Crime; W
OOD
Wild East.
19
OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
ist, an der Brown University (USA) zur Geschichte des Verbannungssystems geschrie
ben sowie auch weiterhin verschiedentlich dazu publiziert.
58
Jocelyne Fenners Studie
„Le goulag des Tsars“ stützt sich praktisch ausschließlich auf literarische Werke, ist in
einem aufgeregten Ton gehalten und vermag einem wissenschaftlichen Anspruch nicht
Genüge zu leisten.
59
Ein umfassenderes Werk zum Verbannungssystem der Zarenzeit,
das auch in deutscher Übersetzung vorliegt, hat die polnische Historikerin Elżbieta Kac
zyńska zu Beginn der neunziger Jahre verfasst („Das größte Gefängnis der Welt“). Ihr
Anspruch, das Bild von der politischen Verbannung und Zwangsarbeit zu revidieren,
unter anderem durch die Erweiterung des Untersuchungsgegenstands auf die Kriminel
len, ist zwar löblich, wird aber im Buch wegen der konventionellen Herangehensweise
nicht wirklich eingelöst. Überdies ist es sehr stark auf die polnischen Opfer des Verban
nungssystems ausgerichtet, was sich im Quellenkorpus und in der verwendeten Literatur
niederschlägt.
60
Da Gentes’ Dissertation nicht gedruckt vorliegt, ist ihr Buch aber derzeit
die umfassendste und aktuellste übergreifende Publikation zum Verbannungssystem.
Keine der erwähnten neueren Forschungen (mit Ausnahme der Studie Moškinas) richtet
den
Fokus jedoch auf die Katorga.
Für einen neuen Zugang zur Katorga des ausgehenden Zarenreichs ist die Einbindung
in den neueren Forschungskontext der Geschichte des Russischen Reiches wichtig. Zum
Justiz-, Polizei- und Gefängniswesen, zur Strafpolitik und zu Fragen bürgerlicher Rech
te im späten Russischen Reich liegt mittlerweile eine Reihe teilweise grundlegender
Studien vor. Volker Rabe hat die administrative politische Justiz untersucht und damit
auch einen Beitrag zur Erforschung des Verbannungssystems geleistet.
61
Abby Schraders
Forschungen zu den Körperstrafen in Russland haben ihren Schwerpunkt zwar auf der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; aber ihre Forschungen sind bedeutsam für die Ent
wicklung der Katorga, und ihre Thesen lassen sich auch für Überlegungen zum Zu
sammenhang von gesellschaftlichen Grenzen und Verbannung bzw. Zwangsarbeit in
späterer Zeit fruchtbar machen.
62
Jörg Baberowskis breit angelegtes, fundamentales
Werk über die politische Justiz im autokratischen Staat und die im Umkreis davon ent
standenen Aufsätze, Jonathan Dalys Arbeit über die Sicherheitspolizei und seine ver
gleichenden Aufsätze zum Strafsystem – auch zum Verbannungssystem – und zur poli
tischen Verfolgung im ausgehenden Zarenreich sowie Bruce Adams’ Buch über die Ge
fängnisreformen, das sich allerdings nur am Rande mit politischen Straftätern ausein
andersetzt, zeugen vom Versuch, Russlands spätimperiale Entwicklungen in einem ge
samteuropäischen Kontext zu sehen.
63
Der Topos der Rückständigkeit des Zarenreiches
58 Vgl. G
ENTES
Roads (Angaben bei G
ENTES
Siberian Exile, S. 197 in der Anmerkung zur Überschrift);
G
ENTES
Siberian Exile; G
ENTES
Sakhalin Policy; G
ENTES
Katorga.
59 F
ENNER
Goulag. Bereits die Bezugnahme auf den Gulag weist auf die problematische Seite dieses Bu
ches hin.
60 K
ACZYNSKA
Gefängnis.
61 R
ABE
Widerspruch; vgl. auch den grundlegenden Beitrag im Handbuch der Geschichte Russlands zu
den Justizreformen (R
ABE
Justiz, S. 1528–1576).
62 Vgl. besonders. den Aufsatz S
CHRADER
Branding the Exile, S. 19–40; eine erweiterte Fassung als Ka
pitel in S
CHRADER
Languages, S. 78–111.
63 Vgl. zu den Justizreformen B
ABEROWSKI
Autokratie (Monographie); B
ABEROWSKI
Justizwesen; B
ABE
ROWSKI
Konstitution; zu den Polizeireformen der frühere Beitrag von L
IEVEN
Security Police, sowie
D
ALY
Security Police; zum Strafwesen D
ALY
Punishment, und D
ALY
Political Crime; zu den Gefäng
20