Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
sich zu lassen, verband sich mit einer – auch der Jahreszeit angepassten – Aufbruch­
stimmung. Kon beschreibt es so:
„Wir waren zu Zwangsarbeit verurteilt  worden. Deren Dauer zählte für uns vom Zeit­
punkt der Bestätigung des Urteils an. Es wäre ganz logisch gewesen, wenn wir danach 
getrachtet  hätten, die Abfahrt hinauszuzögern und so spät wie möglich am Ort einzu­
treffen … Aber dieser Gedanke kam uns nicht eine Minute in den Sinn. Im Gegenteil, 
dieser ferne Norden zog uns zu sich, wir hatten es eilig, den uns bestimmten bitteren 
Kelch auszutrinken. Dazu kam ein starker Wunsch nach einer Veränderung, nach dem 
Austritt aus dem Gefängnis.“
 
203
Die Reise nach Osten, die langwierige, beschwerliche Bewältigung einer riesigen Dis­
tanz, ist hier kein Thema. Ebensowenig tritt die andere Seite der Ambivalenz hervor: die 
letzten Vorbereitungen, die Trennung von Bekannten und einstigen Mitstreitern, denen 
andere Strafen zugedacht waren, und vor allem der Abschied von den Angehörigen. Für 
viele war der Aufbruch in Moskau nicht der Abschied von der Heimat, die bereits in 
Warschau, St. Petersburg, Minsk oder anderswo zurückgelassen worden war. Der An­
tritt der Katorga-Strafe – und das, was damit verbunden war – hatte bereits vorher statt­
gefunden. In Moskau bekam Aleksandra Izmajlovič zwar noch einmal Besuch von ih­
rem Vater, der eben aus dem russisch-japanischen Krieg zurückgekehrt war und nun mit 
dem traurigen Schicksal zweier seiner Töchter konfrontiert wurde; „er war sehr traurig 
und sichtlich niedergeschlagen angesichts meiner fröhlichen Stimmung“,
204
 schreibt sie. 
Von ihren noch lebenden Schwestern hatte sie sich jedoch bereits in Minsk verabschie­
det, auch von ihrem ebenfalls inhaftierten Mitstreiter, der ihr zum Freund geworden 
war.
205
 „Den größten Platz in unserem Gefängnisleben nahmen die Besuche ein. Sie wa­
ren sehr qualvoll – manchmal tragisch. Wir verstörten die Verwandten mit unserem un­
gewöhnlichen Aussehen, den schrecklichen Kleidern, den hohlwangigen Gesichtern“, 
berichtet Irina Kachovskaja.
206
  Der Aufbruch und Abschied versetzte  Petr Jakubovič 
(Mel’šin) unmittelbar danach in einen apathischen Zustand. Die letzte Begegnung mit 
seiner Mutter und deren verzweifeltes Bemühen darum, noch einmal einen Blick vom 
Sohn zu erhaschen – sie beschrieb es ihm später in einem Brief in die Katorga –, ge­
winnen in seiner Schilderung tragische Züge, die allerdings auch der literarischen Ge­
staltung seiner Erinnerungen geschuldet sind.
207
Diesem Abschied haftete immer etwas Endgültiges an. Hier schieden sich die Welten – 
räumlich und sozial. Die Pein vergrößerte sich durch die physische Komponente der 
Strafe, die der Katorga ohnedies inhärent war.
208
 Mit dem Anlegen der Fesseln, die vom 
203 K
ON
 Pod znamenem, S. 208. Die drei Punkte sind Teil des russischen Originaltextes. Merkwürdiges 
Detail am Rande ist die Charakterisierung von Transbaikalien als „dieser ferne Norden“ (ėtot dalekij 
sever), die etwas über die mental map der Katorga-Häftlinge aussagt: Die Unwirtlichkeit und Abge­
schiedenheit des Kara-Tals – wohl Sibiriens und des Fernen Ostens überhaupt – erzeugte anscheinend 
die Assoziation mit dem Norden, obwohl das Gebiet in Wahrheit sogar südlicher als Moskau liegt.
204 I
ZMAJLOVIČ
 Iz prošlogo [Teil 2], S. 148.
205 I
ZMAJLOVIČ
 Iz prošlogo [Teil 1], S. 187–189.
206 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 57.
207 M
ELSCHIN
 Im Lande 1, S. 7 und 10–12.
208 Zwangsarbeit komme ohne „physisches Element“ nie aus, sagt Foucault; aber bestraft werde zuneh­
mend nicht mehr der Körper, sondern die Seele, vgl. F
OUCAULT
 Überwachen, S. 24f. Darin liegt zwei­
fellos auch der Sinn der „Brandmarkung“, ja die physische Bewältigung des Wegs nach Osten über­
48


3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga
Gefängnisschmied vernietet wurden, und – bei den männlichen katoržane – dem Kahlra­
sieren der rechten Kopfhälfte, einem Relikt der Brandmarkung, wurde physische und 
psychische Macht auf die Häftlinge ausgeübt. Mel’šin-Jakubovič hält es fest: 
„Die Fesseln und das Rasieren des Kopfes haben zweifellos nur den einen Zweck – den 
entrechteten Menschen zu demütigen. […] Wenn ich an meine eigene Erfahrung denke, 
kann ich übrigens sagen, dass ich mich mit letzterem [gemeint sind die Ketten, M. A.] 
viel leichter abfand als mit dem Rasieren: die Fesseln sind durch Legende und Volkslied 
stark poetisiert worden; in den Augen eines Sträflings sind sie eher eine Ehrung als eine 
Schmähung. Ein ganz anderes Gefühl überkam mich, als ich dem Soldatenbarbier bei den 
Vorbereitungen zu seinem abscheulichen Geschäft zusah. Außer der psychischen Qual 
empfindet man beim Rasieren des Kopfes rein körperlich Schmerzen; […]“
209
Wenngleich andere den Vorgang einfach nur erwähnen, gleichsam als Initiationsritus, 
schien er sich tief einzuprägen, und die „rasierten Köpfe“ (britye golovy) tauchen in den 
Berichten immer wieder auf als Synonym für Katorga-Sträflinge.
210
  Auch die eisernen 
Fesseln, die zwischen drei und acht oder mehr Kilogramm schwer waren,
211
 gehörten zur 
Realität des Katorga-Häftlings. Gewöhnlich bestanden sie aus zwei Fußringen, die mit 
einer Kette verbunden waren. Von dieser führte wiederum eine Kette zu einem ledernen 
Gürtel.
212
 Sie wurden aber, wie aus den Quellen ersichtlich wird, relativ gleichgültig hin­
genommen. Das Klirren und Rasseln der Ketten begleitete jeden Häftlingszug. Kon und 
seine Gefährten erzeugten das Geräusch beim Marsch von der Butyrka zum Bahnhof so­
gar bewusst, um die Moskauer Bürger zu irritieren, die ihren Weg kreuzten.
213
 
Das letzte,  äußerliche Distinktionsmerkmal  bildete die Kleidung der Gefangenen. 
Auch sie bezeichnete den Aufbruch in die Katorga und wurde, vor allem von den Frau­
en, als weiterer Akt der Demütigung empfunden. Nur die Unterwäsche durfte aus eige­
nen Beständen mitgenommen werden; mit besonderer Bitterkeit vermerkt Kachovskaja, 
dass die von der Mutter gebrachte blütenweiße Wäsche von der Gefängnisaufsicht durch 
Markierungen verunstaltet wurde, um sie als Häftlingskleidung zu kennzeichnen.
214
 Die 
haupt.
209 M
ELSCHIN
 Im Lande 1, S. 9. Ähnlich äußert sich E
RMAKOV
 Dva goda, S. 152. Die Rasur empfand er als 
unangenehmer als das Anlegen der Fesseln, und nach vollendetem Werk des Barbiers wurde er mit 
blutüberströmtem Kopf in die Zelle gebracht.
210 Vgl. etwa F
REJFEL

D
 Iz prošlogo, S. 72, und M
ELSCHIN
 Im Lande 1, S. 14, beide Male als pars pro toto.  
In einem Brief vom Februar 1882 an die Eltern, den R. M. Kantor in „Katorga i ssylka“ herausgege­
ben hat, schreibt A. A. Zubkovskij von der Kopfrasur. Diese sollte während des kurzen Aufenthalts 
im Katorga-Zentralgefängnis von Irkutsk vorgenommen werden. Einzelne Gefangene, unter ihnen er 
selbst,   blieben   davon   ausgenommen,   weil   sie   in   privilegierter   Stellung   waren,   was   damals   an­
scheinend auch für die Rasur von Belang war. Weiteren Häftlingen gelang es, sich der Prozedur zu 
entziehen, indem sie sich krank meldeten. Der Arzt diagnostizierte „nervliche Zerrüttung“ und befrei­
te sie von der demütigenden Praktik. Vgl. K
ANTOR
 S puti, S. 233.
211 P
IROGOVA
 Na ženskoj katorge, S. 147, nennt ein Gewicht von drei bis vier Kilogramm, M
ELSCHIN
 Im 
Lande 1, S. 8, spricht von „zehnpfündigen Fesseln“, und  K
ACZYNSKA
  Gefängnis, S. 77, erwähnt ein 
Durchschnittsgewicht von acht Kilogramm, wenn die Gefangenen einzeln gefesselt und nicht anein­
andergekettet gewesen seien. Kaczynskas Angaben zur Ketten- und Kleidungspraxis (vgl. weiter un­
ten) sind allerdings, vielleicht weil sie sich mit einem langen Zeitraum beschäftigt, ungenau und zu­
weilen verwirrend.
212 M
ELSCHIN
 Im Lande 1, S. 8, und K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 76f. 
213 K
ON
 Pod znamenem, S. 209.
214 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 57.
49


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