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Metaphysik-Vorlesung bezieht Adorno Proust mit dem Argument ein, dass „die
Trennung zwischen Kunst und der sogenannten Wissenschaft in der Sphäre,
in
der wir uns bewegen, vollkommen gegenstandslos“ sei. (NL IV/14, 218)
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So ist es nicht verwunderlich, dass Adorno die metaphysische Erfahrung
wiederum als Proust-Zitat einführt: „Was metaphysische Erfahrung sei, wird,
wer es verschmäht, diese auf angebliche religiöse Urerlebnisse abzuziehen, am
ehesten wie Proust sich vergegenwärtigen, an dem Glück etwa, das Namen
von Dörfern verheißen wie Otterbach, Watterbach, Reuenthal, Monbrunn.“
(GS 6, 366) Adorno erinnert, in Anspielung auf
A la recherche du temps perdu,
an Glücks- und Sehnsuchtserfahrungen der Kindheit.
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Dieses Motiv entwi-
ckelt er, Kierkegaard zitierend, bereits in seiner Habilitationsschrift. (vgl. GS 2,
196 f.) Für Adorno wie für Proust heftet es sich an bestimmte Ortsnamen.
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Ersterer schreibt aber von hessischen Dörfern und Letzterer von Illiers und
Venedig. Die doch beachtlichen Differenzen zwischen diesen Orten betrach-
tet Adorno nicht als Problem, sondern baut genau darauf sein Argument.
Die Parallelisierung seiner Erfahrungen mit den Proustschen steht für eine
nichtreduktive Form der Verallgemeinerung Modell: „Was Proust an Illiers
aufging, ward ähnlich vielen Kindern der gleichen gesellschaftlichen Schicht
zuteil.“ (GS 6, 366) Das Kind sei einmalig von seinem Lieblingsstädtchen (mit
konkretem Namen) entzückt, aber zugleich sei die Erfahrung vielen zuteil
geworden – in dieser Figur sieht Adorno die Andeutung eines versöhnten Ver-
hältnisses von (sowohl begrifflich als auch gesellschaftlich) Allgemeinem und
Einzelnem: „Einzig angesichts des absolut, unauflöslich individuierten ist dar-
auf zu hoffen, daß es genau dies schon gegeben habe und geben werde, dem
nachzukommen erst erfüllte den Begriff des Begriffs.“ (a. a. O.) Der erfüllte
Begriff wäre also über Hegel hinaus Bezeichnung für eine absolut singuläre
Erscheinung, aber eine, die vielen zugänglich ist. Diese paradoxe Figur wird
356
Vgl. zur Verschränkung von metaphysischer und ästhetischer Erfahrung bzw. überhaupt von
Mystik und Kunst bei Adorno Kapitel 6.
357
Der Erzähler in Prousts siebenteiligen Roman sucht an geliebten Kindheitsstätten danach,
verlorene Erinnerungen wieder aufleben zu lassen. Dies gelingt ihm jedoch nicht durch wil-
lentliche Suche. Erst als er schon im Begriff ist, aufzugeben, fällt ihm das vergangene Glück
in einer unerwarteten Situation zu: Die wahren Paradiese sind die verlorenen. (vgl. Proust.
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 7).
358
Vor allem ein Ort aus Adornos Kindheit hat für ihn besondere emotionale Bedeutung er-
langt, das Odenwaldstädtchen Amorbach, dem Adorno in einem gleichnamigen Text auch
literarisches Denkmal gesetzt hat. (vgl. GS 10.1, 303–309, Papst.
Adornos Wiesengrund ).
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hier argumentativ einfach gesetzt, lässt sich aber an der damit umschriebenen,
durchaus paradoxen Erfahrung konkretisieren.
Das Innere der Gegenstände als diesen zugleich Entrücktes. Was also
ging Adorno mit Proust an den Ortsnamen auf? Es fällt ihm sichtlich – und
konsequenterweise, da es eben auch um etwas geht, das sich begrifflichem
Identitätsdenken entziehen soll – schwer, den Inhalt der Kindheitserfahrung
auszuformulieren:
„Man [hat] das Gefühl dabei: wenn man dort wäre, an diesem Ort, da wäre es.
Dieses ‚es‘ – was dieses ‚es‘ ist, das ist außerordentlich schwer zu sagen; man
wird, auch darin den Spuren Prousts folgend, wohl am ehesten sagen, daß es das
Glück sei. Wenn man dann an einen solchen Ort hingelangt, dann ist es dort nicht,
dann hat man es nicht. Sehr oft sind das dann ganz törichte Dörfer. […] Aber das
merkwürdige ist, daß […] man trotzdem nicht enttäuscht ist.“ (NL IV/14, 218 f.)
Adorno beschreibt vielmehr das Gefühl eines „Zurückweichens“ des Ideal-
bildes vor der Realität, als ob man „zu nah dran ist“, um es zu erblicken,
wie bei dem „alten Glückssymbol“ des Regenbogens: „Ich würde demnach
sagen, daß Glück – und es besteht eine unendlich tiefe Konstellation zwischen
metaphysischer Erfahrung und Glück – das Innere der Gegenstände sei als
diesen zugleich entrücktes.“ (a. a. O., 219)
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In der Vorlesung
Einführung in die
Dialektik (1958) beruft er sich in ähnlicher Hinsicht auf den „Irrationalismus“
Schellings
für die Einsicht, „daß die bloße endliche Verstandeserkenntnis, wie
es in der Sprache des deutschen Idealismus heißen würde, ihren Gegenstän-
den bloß äußerlich bleibt […] und daß deshalb die wahre Erkenntnis eine
ist, die die Sache gleichsam von innen her statt bloß von außen ordnend und
erfassend sieht.“ (NL IV/2, 61) In seinen metaphysischen Erfahrungsbegriff
nimmt Adorno einen dezidiert mystisch-„ausschweifenden“ Zug auf, der in
der Tat wie manche Mystiker von Glücks- und Verschmelzungserfahrungen
handelt.
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Ein Glück vielleicht nur, „dessen sich erinnert wird, das es aber
359
In der
Negativen Dialektik bringt Adorno dieses Verhältnis auf die Formel: „Glück, das einzige
an metaphysischer Erfahrung, zeigt das Innere der Gegenstände als diesen zugleich entrück-
tes.“ (GS 6, 367) In der Vorstellung des Glücks schwingt auch nach Walter Benjamins Ein-
sicht „unveräußerlich die der Erlösung mit.“ (BGS I.2, 693) Zu Adornos Begriff des Glücks
vgl. Rath.
Negative. bes. S. 175–194.
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In Adornos Vorlesung zum Begriff der metaphysischen Erfahrung liest man: „und sie müs-
sen mir verzeihen, wenn ich in dieser letzten Stunde etwas ausschweifend rede, also genau so,
wie Kant es einem verbieten will […].“ (NL IV/14, 219).