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IV. Gleichzeitige Variationen in Dauer, Produktivkraft
und Intensität der Arbeit
Es ist hier offenbar eine große Anzahl Kombinationen möglich. Je zwei Faktoren können variieren und
einer konstant bleiben, oder alle drei können gleichzeitig variieren. Sie können in gleichem oder ungle i-
chem Grad variieren, in derselben oder entgegengesetzter Richtung, ihre Variationen sich daher teilweis
oder ganz aufheben. Indes ist die Analyse aller möglichen Fälle nach den unter I, II und III gegebenen
Aufschlüssen leicht. Man findet das Resultat jeder möglichen Kombination, indem man der Reihe nach je
einen Faktor als variabel und die andren zunächst als konstant behandelt. Wir nehmen hier daher nur noch
kurze Notiz von zwei wichtigen Fällen.
1. Abnehmende Produktivkraft der Arbeit mit gleichzeitiger Verlängerung des Arbeitstags:
Wenn wir hier von abnehmender Produktivkraft der Arbeit sprechen, so handelt es sich von Arbeitszwei-
gen, deren Produkte den Wert der Arbeitskraft bestimmen, also z.B. von abnehmender Produktivkraft der
Arbeit infolge zunehmender Unfruchtbarkeit des Bodens und entsprechender Verteurung der Bodenpro-
dukte. Der Arbeitstag sei zwölfstündig, sein Wertprodukt 6 sh., wovon die Hälfte den Wert der Arbeits-
kraft ersetze, die andre Hälfte Mehrwert bilde. Der Arbeitstag zerfällt also in 6 Stunden notwendiger Ar-
beit und 6 Stunden Mehrarbeit. Infolge der Verteurung der Bodenprodukte steige der Wert der Arbeit s-
kraft von 3 auf 4 sh., also die notwendige Arbeitszeit von 6 auf 8 Stunden. Bleibt der Arbeitstag unverän-
dert, so fällt die Mehrarbeit von 6 auf 4 Stunden, der Mehrwert von 3 auf 2 sh. Wird der Arbeitstag um 2
Stunden verlängert, also von 12 auf 14 Stunden, so bleibt die Mehrarbeit 6 Stunden, der Mehrwert 3 sh.,
aber seine Größe fällt im Vergleich zum Wert der Arbeitskraft, gemessen durch die notwendige Arbeit.
Wird der Arbeitstag um 4 Stunden verlängert, von 12 auf 16 Stunden, so bleiben die proportionellen Grö-
ßen von Mehrwert und Wert der Arbeitskraft, Mehrarbeit und notwendiger Arbeit unverändert, aber die
absolute Größe des Mehrwerts wächst von 3 auf 4 sh., die der Mehrarbeit von 6 auf 8 Arbeitsstunden,
also um 1/3 oder 33 1/3%. Bei abnehmender Produktivkraft der Arbeit und gleichzeitiger Verlängerung
des Arbeitstags kann also die absolute Größe des Mehrwerts unverändert bleiben, während seine propor-
tionelle Größe fällt; seine proportionelle Größe kann unverändert bleiben, während seine absolute Größe
wächst, und, je nach dem Grad der Verlängerung, können beide wachsen.
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Im Zeitraume von 1799 bis 1815 führten die steigenden Preise der Lebensmittel in England eine nomi-
nelle Lohnsteigerung herbei, obwohl die wirklichen, in Lebensmitteln ausgedrückten Arbeitslöhne fielen.
Hieraus schlossen West und Ricardo, daß die Verminderung der Produktivität der Ackerbauarbeit ein
Fallen der Mehrwertsrate verursacht hätte, und machten diese nur in ihrer Phantasie gültige Annahme
zum Ausgangspunkt wichtiger Analysen über das relative Größenverhältnis von Arbeitslohn, Profit und
Grundrente. Dankt der gesteigerten Intensität der Arbeit und der erzwungenen Verlängerung der Arbeits-
zeit war aber der Mehrwert damals absolut und relativ gewachsen. Es war dies die Periode, worin die
maßlose Verlängerung des Arbeitstags sich das Bürgerrecht erwarb[15], die Periode, speziell charakteri-
siert durch beschleunigte Zunahme hier des Kapitals, dort des Pauperismus.[16]
2. Zunehmende Intensität und Produktivkraft der Arbeit mit gleichzeitiger Verkürzung des Arbeitstags:
[15] "Korn und Arbeit stimmen selten vollkommen überein; aber es gibt eine offensichtliche
Grenze, über die hinaus sie nicht getrennt werden können. Die außergewöhnlichen Anstrengu n-
gen der arbeitenden Klassen in Zeiten der Teuerung, die den Rückgang der Löhne bewirken, von
dem in den Aussagen" (nämlich vor den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen 1814/15)
"die Rede war, gereichen den einzelnen sehr zum Verdienst und begünstigen sicher das Anwach-
sen des Kapitals. Aber kein human Empfindender kann wünschen, daß sie ungemindert und un-
unterbrochen vor sich gehen. Sie sind höchst bewundernswert als zeitweilige Abhilfe; aber wenn
sie immer stattfänden, so würden sie ähnlich wirken wie eine im Verhältnis zu ihrer Subsistenz
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bis an die alleräußerste Grenze getriebene Bevölkerung." (Malthus, Inquiry into the Nature and
Progress of Rent", Lond. 1815, p.48, Note.) Es macht Malthus alle Ehre, daß er den Ton legt auf
die auch die auch an andrer Stelle in seinem Pamphlet direkt besprochne Verlängerung des Ar-
beitstags, während Ricardo und andre, im Angesicht der schreiendsten Tatsachen, die konstante
Größe des Arbeitstags allen ihren Untersuchungen zugrund legten. Aber die konservativen Inter-
essen, deren Knecht Malthus war, hinderten ihn zu sehn, daß die maßlose Verlängerung des Ar-
beitstags, zugleich mit außerordentlicher Entwicklung der Maschinerie und der Exploitation der
Weiber- und Kinderarbeit, einen großen Teil der Arbeiterklasse "überzählig" machen mußten,
namentlich sobald die Kriegsnachfrage und das englische Monopol des Weltmarkts aufhörten. Es
war natürlich weit bequemer und den Interessen der herrschenden Klassen, die Malthus echt pfäf-
fisch idolatrisiert, viel entsprechender, diese "Übervölkerung" aus den ewigen Gesetzen der Natur
als aus den nur historischen Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion zu erklären.
[16] "Eine grundlegende Ursache des Anwachsens des Kapitals während des Krieges lag in den
größeren Anstrengungen und vielleicht auch den größeren Entbehrungen der arbeitenden Klassen,
die in jeder Gesellschaft die zahlreichsten sind. Durch die Dürftigkeit ihrer Lage wurden mehr
Frauen und Kinder genötigt, Arbeit zu nehmen;
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Gesteigerte Produktivkraft der Arbeit und ihre wachsende Intensität wirken nach einer Seite hin gleic h-
förmig. Beide vermehren die in jedem Zeitabschnitt erzielte Produktenmasse. Beide verkürzen also den
Teil des Arbeitstags, den der Arbeiter zur Produktion seiner Lebensmittel oder ihres Äquivalents braucht.
Die absolute Minimalgrenze des Arbeitstags wird überhaupt gebildet durch diesen seinen notwendigen,
aber kontraktiblen Bestandteil. Schrumpfte darauf der ganze Arbeitstag zusammen, so verschwände die
Mehrarbeit, was unter dem Regime des Kapitals unmöglich. Die Beseitigung der kapitalistischen Produk-
tionsform erlaubt, den Arbeitstag auf die notwendige Arbeit zu beschränken. Jedoch würde die letztre,
unter sonst gleichbleibenden Umständen, ihren Raum ausdehnen. Einerseits weil die Lebensbedingungen
des Arbeiters reicher und seine Lebensansprüche größer. Andrerseits würde ein Teil der jetzigen Mehrar-
beit zur notwendigen Arbeit zählen, nämlich die zur Erzielung eines gesellschaftlichen Reserve- und Ak-
kumulationsfonds nötig Arbeit.
Je mehr die Produktivkraft der Arbeit wächst, um so mehr kann der Arbeitstag verkürzt werden, und je
mehr der Arbeitstag verkürzt wird, desto mehr kann die Intensität der Arbeit wachsen. Gesellschaftlich
betrachtet, wächst die Produktivität der Arbeit auch mit ihrer Ökonomie. Diese schließt nicht nur die
Ökonomisierung der Produktionsmittel ein, sondern die Vermeidung aller nutzlosen Arbeit. Während die
kapitalistische Produktionsweise in jedem individuellen Geschäft Ökonomie erzwingt, erzeugt ihr anar-
chisches System der Konkurrenz die maßloseste Verschwendung der gesellschaftlichen Produktionsmittel
und Arbeitskräfte, neben einer Unzahl jetzt unentbehrlicher, aber an und für sich überflüssiger Funktio-
nen.
Intensität und Produktivkraft der Arbeit gegeben, ist der zur materiellen Produktion notwendige Teil des
gesellschaftlichen Arbeitstags um so kürzer, der für freie, geistige und gesellschaftliche Betätigung der
Individuen eroberte Zeitteil also um so größer, je gleichmäßiger die Arbeit unter alle werkfähigen Glieder
der Gesellschaft verteilt, je weniger eine Gesellschaftsschichte die Naturnotwendigkeit der Arbeit von
sich selbst ab- und einer andren Schichte zuwälzen kann. Die absolute Grenze für die Verkürzung des
Arbeitstags ist nach dieser Seite hin die Allgemeinheit der Arbeit. In der kapitalistischen Gesellschaft
wird freie Zeit für eine Klasse produzieert durch Verwandlung aller Lebenszeit der Massen in Arbeitszeit.
und jene, die schon früher Arbeiter waren, waren aus demselben Grunde gezwungen, einen größeren Teil
ihrer Zeit der Vermehrung der Produktion zu widmen." ("Essays on Political Econ. in which are illustra-
ted the Principal Causes of the Present National Distress", London 1830, p.248.)