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Bisher wurde unterstellt, daß der Zu- oder Abnahme des variablen Kapitals genau die Zu- oder Abnahme
der beschäftigten Arbeiterzahl entspricht.
Bei gleichbleibender oder selbst verminderter Zahl der von ihm kommandierten Arbeiter wächst jedoch
das variable Kapital, wenn der individuelle Arbeiter mehr Arbeit liefert und daher sein Arbeitslohn
wächst, obgleich der Arbeitspreis gleichbleibt oder selbst sinkt, nur langsamer, als die Arbeitsmasse
steigt. Der Zuwachs des variablen Kapitals wird dann Index von mehr Arbeit, aber nicht von mehr be-
schäftigten Arbeitern. Jeder Kapitalist hat das absolute Interesse, ein bestimmtes Arbeitsquantum aus
kleinerer, statt ebenso wohlfeil oder selbst wohlfeiler aus größerer Arbeiterzahl auszupressen. In dem
letzten Fall wächst die Auslage von konstantem Kapital verhältnismäßig zur Masse der in Fluß gesetzten
Arbeit, im ersten Fall viel langsamer. Je größer die Stufenleiter der Produktion, desto entscheidender dies
Motiv. Seine Wucht wächst mit der Akkumulation des Kapitals.
Man hat gesehn, daß die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und Produktivkraft der Ar-
beit – zugleich Ursache und Wirkung der Akkumulation – den Kapitalisten befähigt, mit derselben Aus-
lage von variablem Kapital mehr Arbeit durch größere extensive oder intensive Exploitation der individu-
ellen Arbeitskräfte flüssig zu machen. Man hat ferner gesehn, daß er mit demselben Kapitalwert mehr
Arbeitskräfte kauft, <665> indem er progressiv geschicktere Arbeiter durch ungeschicktere, reife durch
unreife, männliche durch weibliche oder kindliche verdrängt.
Einerseits macht also, im Fortgang der Akkumulation, größeres variables Kapital mehr Arbeit flüssig,
ohne mehr Arbeiter zu werben, andererseits macht variables Kapital von derselben Größe mehr Arbeit mit
derselben Masse Arbeitskraft flüssig und endlich mehr niedere Arbeitskräfte durch Verdrängung höherer.
Die Produktion einer relativen Übervölkerung oder die Freisetzung von Arbeitern geht daher noch rascher
voran als die ohnehin mit dem Fortschritt der Akkumulation beschleunigte technische Umwälzung des
Produktionsprozesses und die entsprechende proportionelle Abnahme des variablen Kapitalteils gegen
den konstanten. Wenn die Produktionsmittel, wie sie an Umfang und Wirkungskraft zunehmen, in gerin-
gerem Grad Beschäftigungsmittel der Arbeiter werden, wird dies Verhältnis selbst wieder dadurch modi-
fiziert, daß im Maß, wie die Produktivkraft der Arbeit wächst, das Kapital seine Zufuhr von Arbeit ra-
scher steigert als seine Nachfrage nach Arbeitern. Die Überarbeit des beschäftigten Teils der Arbeiter-
klasse schwellt die Reihen ihrer Reserve, während umgekehrt der vermehrte Druck, den die letztere durch
ihre Konkurrenz auf die erstere ausübt, diese zur Überarbeit und Unterwerfung unter die Diktate des Ka-
pitals zwingt. Die Verdammung eines Teils der Arbeiterklasse zu erzwungnem Müßiggang durch Überar-
beit des andren Teils und umgekehrt, wird Bereicherungsmittel des einzelnen Kapitalisten und beschleu-
nigt zugleich die <666> Produktion der industriellen Reservearmee auf einem dem Fortschritt der gesell-
schaftlichen Akkumulation entsprechenden Maßstab. Wie wichtig dies Moment in der Bildung der relati-
ven Übervölkerung, beweist z. B. England. Seine technischen Mittel zur "Ersparung" von Arbeit sind
kolossal. Dennoch, würde morgen allgemein die Arbeit auf ein rationelles Maß beschränkt und für die
verschiednen Schichten der Arbeiterklasse wieder entsprechend nach Alter und Geschlecht abgestuft, so
wäre die vorhandne Arbeiterbevölkerung absolut unzureichend zur Fortführung der nationalen Produktion
auf ihrer jetzigen Stufenleiter. Die große Mehrheit der jetzt "unproduktiven" Arbeiter müßte in "produkti-
ve" verwandelt werden.
Im großen und ganzen sind die allgemeinen Bewegungen des Arbeitslohns ausschließlich reguliert durch
die Expansion und Kontraktion der industriellen Reservearmee, welche dem Periodenwechsel des indu-
striellen Zyklus entsprechen. Sie sind also nicht bestimmt durch die Bewegung der absoluten Anzahl der
Arbeiterbevölkerung, sondern durch das wechselnde Verhältnis, worin die Arbeiterklasse in aktive Armee
und Reservearmee zerfällt, durch die Zunahme und Abnahme des relativen Umfangs der Übervölkerung,
durch den Grad, worin sie bald absorbiert, bald wieder freigesetzt wird. Für die moderne Industrie mit
ihrem zehnjährigen Zyklus und seinen periodischen Phasen, die außerdem im Fortgang der Akkumulation
durch stets rascher aufeinander folgende unregelmäßige Oszillationen durchkreuzt werden, wäre es in der
Tat ein schönes Gesetz, welches die Nachfrage und Zufuhr von Arbeit nicht durch die Expansion und
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Kontraktion des Kapitals, also nach seinen jedesmaligen Verwertungsbedürfnissen regelte, so daß der
Arbeitsmarkt bald relativ untervoll erscheint, weil das Kapital sich expandiert, bald wieder übervoll, weil
es sich kontrahiert, sondern umgekehrt die Bewegung des Kapitals von der absoluten Bewegung der Be-
völkerungsmenge abhängig machte. Dies jedoch ist das <667> ökonomische Dogma. Nach demselben
steigt infolge der Kapitalakkumulation der Arbeitslohn. Der erhöhte Arbeitslohn spornt zur rascheren
Vermehrung der Arbeiterbevölkerung, und diese dauert fort, bis der Arbeitsmarkt überfüllt, also das Ka-
pital relativ zur Arbeiterzufuhr unzureichend geworden ist. Der Arbeitslohn sinkt, und nun die Kehrseite
der Medaille. Durch den fallenden Arbeitslohn wird die Arbeiterbevölkerung nach und nach dezimiert, so
daß ihr gegenüber das Kapital wieder überschüssig wird, oder auch, wie andre es erklären, der fallende
Arbeitslohn und die entsprechende erhöhte Exploitation des Arbeiters beschleunigt wieder die Akkumu-
lation, während gleichzeitig der niedere Lohn das Wachstum der Arbeiterklasse in Schach hält. So tritt
wieder das Verhältnis ein, worin die Arbeitszufuhr niedriger als die Arbeitsnachfrage, der Lohn steigt
usw. Eine schöne Bewegungsmethode dies für die entwickelte kapitalistische Produktion! Bevor infolge
der Lohnerhöhung irgendein positives Wachstum der wirklich arbeitsfähigen Bevölkerung eintreten
könnte, wäre die Frist aber und abermal abgelaufen, worin der industrielle Feldzug geführt, die Schlacht
geschlagen und entschieden sein muß.
Zwischen 1849 und 1859 trat, zugleich mit fallenden Getreidepreisen, eine praktisch betrachtet nur nomi-
nelle Lohnerhöhung in den englischen Agrikulturdistrikten ein, z.B. in Wiltshire stieg der Wochenlohn
von 7 auf 8 sh., in Dorsetshire von 7 oder 8 auf 9 sh. usw. Es war dies Folge des übergewöhnlichen Ab-
flusses der agrikolen Übervölkerung, verursacht durch Kriegsnachfrage, massenhafte Ausdehnung der
Eisenbahnbauten, Fabriken, Bergwerke etc. Je niedriger der Arbeitslohn, desto höher drückt sich jedes
noch so unbedeutende Steigen desselben in Prozentzahlen aus. Ist der Wochenlohn z.B. 20 sh. und steigt
er auf 22, so um 10%; ist er dagegen nur 7 sh. und steigt auf 9, so um 28
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/7%, was sehr erklecklich klingt.
Jedenfalls heulten die Pächter und schwatzte sogar der "London Economist" ganz ernsthaft von "a gene-
ral and substantial advance" mit Bezug auf diese
Hungerlöhne. Was taten nun die Pächter? Warteten sie, bis die Landarbeiter sich infolge dieser brillanten
Zahlung so vermehrt hatten, daß ihr Lohn wieder fallen mußte, wie die Sache sich im dogmatisch ökono-
mischen Hirn zuträgt? Sie führten mehr Maschinerie ein, und im Umsehn waren die Arbeiter wieder
"überzählig" in einem selbst den Pächtern genügenden Verhältnis. Es war jetzt "mehr Kapital" in der
Agrikultur an- <668> gelegt als vorher und in einer produktiveren Form. Damit fiel die Nachfrage nach
Arbeit nicht nur relativ, sondern absolut.
Jene ökonomische Fiktion verwechselt die Gesetze, welche die allgemeine Bewegung des Arbeitslohns
oder das Verhältnis zwischen Arbeiterklasse, d.h. Gesamtarbeitskraft und gesellschaftlichem Gesamtka-
pital regeln, mit den Gesetzen, welche die Arbeiterbevölkerung unter die besondren Produktionssphären
verteilen. Wenn z.B. infolge günstiger Konjunktur die Akkumulation in einer bestimmten Produkti-
onssphäre besonders lebhaft, die Profite hier größer als die Durchschnittsprofite, Zuschußkapital dahin
drängt, so steigt natürlich Arbeitsnachfrage und Arbeitslohn. Der höhere Arbeitslohn zieht einen größeren
Teil der Arbeiterbevölkerung in die begünstigte Sphäre, bis sie mit Arbeitskraft gesättigt ist und der Lohn
auf die Dauer wieder auf sein früheres Durchschnittsniveau oder unter dasselbe fällt, falls der Zudrang zu
groß war. Dann hört nicht nur die Einwanderung von Arbeitern in den fraglichen Geschäftszweig auf, sie
macht sogar ihrer Auswanderung Platz. Hier glaubt der politische Ökonom zu sehn, "wo und wie", mit
Zunahme des Lohns eine absolute Zunahme von Arbeitern, und mit der absoluten Zunahme der Arbeiter
eine Abnahme des Lohns, aber er sieht in der Tat nur die lokale Oszillation des Arbeitsmarkts einer be-
sondren Produktionssphäre, er sieht nur Phänomene der Verteilung der Arbeiterbevölkerung in die ver-
schiednen Anlagesphären des Kapitals, je nach seinen wechselnden Bedürfnissen.
Die industrielle Reservearmee drückt während der Perioden der Stagnation und mittleren Prosperität auf
die aktive Arbeiterarmee und hält ihre Ansprüche während der Periode der Überproduktion und des Par-
oxysmus im Zaum. Die relative Übervölkerung ist also der Hintergrund, worauf das Gesetz der Nachfrage
und Zufuhr von Arbeit sich bewegt. Sie zwängt den Spielraum dieses Gesetzes in die der Exploitations-
gier und Herrschsucht des Kapitals absolut zusagenden Schranken ein. Es ist hier der Ort, auf eine der