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Unter den Agrikulturarbeitern waren die von England, dem reichsten Teile des Vereinigten Königreichs,
die schlechtestgenährten. Die Unternahrung fiel unter den Landarbeitern überhaupt hauptsächlich auf
Frau und Kinder, denn "der Mann muß essen, um sein Werk zu verrichten". Noch größerer Mangel wü-
tete unter den untersuchten städtischen Arbeiterkategorien. "Sie sind so schlecht genährt, daß viele Fälle
grausamer und gesundheitsruinierender Entbehrung" ("Entsagung" des Kapitalisten alles dies! nämlich
Entsagung auf Zahlung der zur bloßen Vegetation seiner Hände unentbehrlichen Lebensmittel!) "vor-
kommen müssen."
Folgende Tabelle zeigt das Verhältnis des Nahrungsstandes der oben erwähnten rein städtischen Arbeiter-
kategorien zu dem von Dr. Smith angenommenen Minimalmaß und zum Nahrungsmaß der Baumwollar-
beiter während der Zeit ihrer größten Not:
Beide Geschlechter
Wochendurch-
schnitt an Koh-
lenstoff
Wochendurch-
schnitt an Stick-
stoff
Gran
Gran
Fünf städtische Geschäftszweige
28.876
1.192
Arbeitslose Lancashire Fabrikarbei-
ter
29.211
1.295
Minimalquantum, vorgeschlagen für
die Lancashire Arbeiter auf gleiche
Zahl männlicher und weiblicher
28.600
1.330
Eine Hälfte,
60
/125 der untersuchten industriellen Arbeiterkategorien erhielt absolut kein Bier, 28% keine
Milch. Der Wochendurchschnitt der flüssigen Nahrungsmittel in den Familien schwankte von 7 Unzen
bei den Nähterinnen auf 24
3
/4 Unzen bei Strumpfwirkern. Die Mehrzahl derer, die keine Milch erhielten,
bestand aus den Nähterinnen von London. Die Quantität der wöchentlich konsumierten Brotstoffe wech-
selte von 7
3
/4 Pfund bei den Nähterinnen zu 11
1
/4 Pfund bei den Schustern und ergab einen Totaldurch-
schnitt von 9,9 Pfund wöchentlich auf den Erwachsnen. Zucker (Sirup etc.) wechselte von 4 Unzen wö-
chentlich für die Lederhandschuh- <686> macher auf 11 Unzen für Strumpfwirker; der Totaldurchschnitt
per Woche für alle Kategorien, per Erwachsnen, 8 Unzen. Gesamter Wochendurchschnitt von Butter (Fett
usw.) 5 Unzen per Erwachsnen. Der Wochendurchschnitt von Fleisch (Speck usw.) schwankte, per Er-
wachsnen, von 7
1
/4 Unzen bei den Seidenwebern auf 18
1
/4 Unzen bei den Lederhandschuhmachern; Ge-
samtdurchschnitt für die verschiednen Kategorien 13,6 Unzen. Die wöchentliche Kost für Nahrung per
Erwachsnen ergab folgende allgemeine Durchschnittszahlen: Seidenweber 2 sh. 2
1
/2 d., Nähterinnen 2 sh.
7 d., Lederhandschuhmacher 2 sh. 9
1
/2 d., Schuster 2 sh. 7
3
/4 d., Strumpfwirker 2 sh. 6
1
/4 d. Für die Sei-
denweber von Macclesfield betrug der Wochendurchschnitt nur 1 sh. 8
1
/2 d. Die schlechtestgenährten
Kategorien waren die Nähterinnen, die Seidenweber und die Lederhandschuhmacher.
Dr. Simon sagt in seinem allgemeinen Gesundheitsbericht über diesen Nahrungszustand:
"Daß die Fälle zahllos sind, worin Nahrungsmangel Krankheiten erzeugt oder verschärft, wird jeder be-
stätigen, der mit medizinischer Armenpraxis oder mit den Patienten der Spitäler, seien sie Insassen oder
außerhalb wohnend, vertraut ist ... Jedoch kommt hier vom sanitären Standpunkt noch ein andrer, sehr
entscheidender Umstand hinzu ... Man muß sich erinnern, daß Beraubung an Nahrungsmitteln nur sehr
widerstrebend ertragen wird und daß in der Regel große Dürftigkeit der Diät nur im Gefolge andrer, vor-
hergegangner Entbehrungen nachhinkt. Lange bevor der Nahrungsmangel hygienisch ins Gewicht fällt,
lange bevor der Physiolog daran denkt, die Grane Stickstoff und Kohlenstoff zu zählen, zwischen denen
Leben und Hungertod schwebt, wird der Haushalt von allem materiellen Komfort ganz und gar entblößt
sein. Kleidung und Heizung werden noch dürftiger gewesen sein als die Speise. Kein hinreichender
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Schutz wider die Härte des Wetters; Abknappung des Wohnraums zu einem Grad, der Krankheiten er-
zeugt oder verschärft; kaum eine Spur von Hausgerät oder Möbeln, die Reinlichkeit selbst wird kostspie-
lig oder schwierig geworden sein. Werden noch aus Selbstachtung Versuche gemacht, sie aufrechtzuer-
halten, so repräsentiert jeder solcher Versuch zuschüssige Hungerpein. Die Häuslichkeit wird dort sein,
wo Obdach am wohlfeilsten kaufbar; in Quartieren, wo die Gesundheitspolizei die geringste Frucht trägt,
das jämmerlichste Gerinne, wenigster Verkehr, der meiste öffentliche Unrat, kümmerlichste oder
schlechteste Wasserzufuhr und, in Städten, größter Mangel an Licht und Luft. Dies sind die Gesundheits-
gefahren, denen die Armut unvermeidlich ausgesetzt ist, wenn diese Armut Nahrungsmangel einschließt.
Wenn die Summe dieser Übel von furchtbarer Größe für das Leben ist, so ist der bloße Nahrungsmangel
an sich selbst entsetzlich ... Dies sind qualvolle Gedanken, namentlich wenn man sich erinnert, daß die
Armut, wovon es sich handelt, nicht die selbstverschuldete Armut des Müßig- <687> gangs ist. Es ist die
Armut von Arbeitern. Ja, mit Bezug auf die städtischen Arbeiter ist die Arbeit, wodurch der knappe Bis-
sen Nahrung erkauft wird, meist über alles Maß verlängert. Und dennoch kann man nur in sehr bedingtem
Sinn sagen, daß diese Arbeit selbsterhaltend ist ... Auf sehr großem Maßstab kann der nominelle Selbster-
halt nur ein kürzerer oder längerer Umweg zum Pauperismus sein."
Der innere Zusammenhang zwischen Hungerpein der fleißigsten Arbeiterschichten und auf kapitalisti-
scher Akkumulation begründetem, grobem oder raffiniertem Verschwendungskonsum der Reichen ent-
hüllt sich nur mit Kenntnis der ökonomischen Gesetze. Anders mit dem Wohnungszustand. Jeder unbe-
fangne Beobachter sieht, daß je massenhafter die Zentralisation der Produktionsmittel, desto größer die
entsprechende Anhäufung von Arbeitern auf demselben Raum, daß daher, je rascher die kapitalistische
Akkumulation, desto elender der Wohnungszustand der Arbeiter. Die den Fortschritt des Reichtums be-
gleitende "Verbesserung" (improvements) der Städte durch Niederreißen schlecht gebauter Viertel, Er-
richtung von Palästen für Banken, Warenhäuser usw., Streckung der Straßen für Geschäftsverkehr und
Luxuskarossen, Einführung von Pferdebahnen usw. verjagt augenscheinlich die Armen in stets schlechte-
re und dichter gefüllte Schlupfwinkel. Andrerseits weiß jeder, daß die Teuerkeit der Wohnungen im um-
gekehrten Verhältnis zu ihrer Güte steht und daß die Minen des Elends von Häuserspekulanten mit mehr
Profit und weniger Kosten ausgebeutet werden als jemals die Minen von Potosi. Der antagonistische Cha-
rakter der kapitalistischen Akkumulation und daher der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse überhaupt
wird hier so handgreifbar, daß selbst die offiziellen englischen Berichte über diesen Gegenstand wimmeln
von heterodoxen Ausfällen auf das "Eigentum und seine Rechte". Das Übel hielt solchen Schritt mit der
Entwicklung der Industrie, der Akkumulation des Kapitals, dem Wachstum und der "Verschönerung" der
Städte, daß die bloße Furcht vor ansteckenden Krankheiten, welche auch der "Ehrbarkeit" nicht schonen,
von 1847 bis 1864 nicht weniger als 10 gesundheitspolizeiliche Parlamentsakte ins Leben rief und die
erschreckte Bürgerschaft in einigen Städten, wie Liverpool, Glasgow usw., durch ihre Munizipalität ein-
griff. Dennoch, ruft Dr. Simon in seinem Bericht von 1865: "Allgemein zu sprechen, sind die Übelstände
in England unkontrol- <688> liert." Auf Befehl des Privy Council fand 1864 Untersuchung über die
Wohnungsverhältnisse der Landarbeiter, 1865 über die der ärmeren Klassen in den Städten statt. Die mei-
sterhaften Arbeiten des Dr. Julian Hunter findet man im siebenten und achten Bericht über "Public
Health". Auf die Landarbeiter komme ich später. Für den städtischen Wohnungszustand schicke ich eine
allgemeine Bemerkung des Dr. Simon voraus:
"Obgleich mein offizieller Gesichtspunkt", sagt er, "ausschließlich ärztlich ist, erlaubt die gewöhnlichste
Humanität nicht, die andre Seite dieses Übels zu ignorieren. In seinem höheren Grad bedingt es fast not-
wendig eine solche Verleugnung aller Delikatesse, so schmutzige Konfusion von Körpern und körperli-
chen Verrichtungen, solche Bloßstellung geschlechtlicher Nacktheit, die bestial, nicht menschlich sind.
Diesen Einflüssen unterworfen zu sein ist eine Erniedrigung, die sich vertieft, je länger sie fortwirkt. Für
die Kinder, die unter diesem Fluch geboren sind, ist er Taufe in Infamie (baptism into infamy). Und über
alles Maß hoffnungslos ist der Wunsch, daß unter solche Umstände gestellte Personen in andren Hin-
sichten nach jener Atmosphäre der Zivilisation aufstreben sollten, deren Wesen in physischer und morali-
scher Reinheit besteht."