10
Geleitwort von Johan Braeckman
menschliche Natur in jede gewünschte Form gebracht werden könne, kann off en-
sichtlich zu einem Kulturdeterminismus führen, der die ideologische Grundlage
für die Massen- und Völkermorde der oben erwähnten Diktatoren des 20. Jahr-
hunderts darstellte. Die Angst vor einem Menschenbild, das unser moralisches
Wollen und Handeln auf biologische, neuronale, genetische Faktoren zurückführt,
ist verständlich, aber die Vorstellung von der nahezu unbeschränkten Formbar-
keit des Menschen ist auch nicht gerade erhebend.
Jan Verplaetse knüpft in diesem Buch an die Debatten über die menschliche
Natur an, insbesondere was die Moralität betrifft
, wie sie in der Zeit nach der Kon-
troverse um Margaret Meads Werk und Freemans kritischer Analyse geführt wur-
den. Er stützt sich dabei auf eine breite Skala von Studien aus den unterschied-
lichsten Disziplinen, wie der Sozialpsychologie, den Neurowissenschaft en, der
Evolutionsbiologie, der Kulturgeschichte, der Entwicklungs- und Moralpsycholo-
gie, der Mentalitätsgeschichte und der Anthropologie. Seine umfassende Bildung
und Belesenheit sind, wie der Leser feststellen wird, bewundernswürdig. Doch
wichtiger noch als die Fülle der Forschungsergebnisse, die in diesem Buch vor-
stellt werden, ist der vom Autor mit großer Überzeugungskraft vorgetragene Kern
seiner Auff assung über Moralität. Sie erscheint auf den ersten Blick paradox: Die
menschliche Moralität ist plastisch, gerade weil es die menschliche Natur selbst
nicht ist. Was wir schon seit längerem über so unterschiedliche Systeme wie die
der sinnlichen Wahrnehmung oder der Sprache wissen, trifft
off ensichtlich auch
auf unsere Moralität zu. Jene einzigartigen Fähigkeiten funktionieren dank spezi-
alisierter, sehr fl exibler Mechanismen, die sich im Lauf der Evolution entwickelt
haben. Die menschliche Moralität ist nicht vom Himmel gefallen, sie wird auch
nicht völlig und ausschließlich durch die Kultur hervorgebracht und konditio-
niert. Sie stützt sich auf adaptive Fähigkeiten, die sich aufgrund evolutionärer
Selektionsprozesse herausgebildet haben und die wir dank der Fortschritte auf
dem Gebiet der Evolutionsbiologie und der Neurowissenschaft en immer besser
verstehen lernen. Zahlreiche Studien aus den unterschiedlichsten Forschungsbe-
reichen untermauern Verplaetses Ansicht. Etwa die Arbeit der Primatologen, die
untersuchen, ob Kapuzineraff en ein Gefühl für Fairness haben, oder die der Psy-
chologen, die Psychopathen moralische Dilemmata vorlegen und dabei ihre Hirn-
aktivitäten im Scanner beobachten. Man erfährt all dies und noch viel mehr in
dem vorliegenden, sehr unterhaltsamen und scharfsinnigen Buch. Verplaetses
Grundgedanke erklärt, warum er nicht nur das Kooperationsverhalten des Men-
schen, sondern auch sein gewalttätiges, aggressives Handeln als eine Form der
Moralität betrachtet, obwohl sich alles in uns dagegen sträubt, Gewalt in irgendei-
ner Weise mit Moral in Zusammenhang zu bringen. Doch beide Verhaltensweisen
VAN_40441-6_Verplaetse_Der_moralische_Instinkt.indd 10
16.08.11 06:49
ISBN Print: 9783525404416 — ISBN E-Book: 9783647404417
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Jan Verplaetse, Der moralische Instinkt
11
Geleitwort von Johan Braeckman
nutzen die mentalen Fähigkeiten, die der moralischen Konstitution des Menschen
zugrunde liegen. Wie so oft in der Wissenschaft sind es die evidenten Dinge, die
am schwierigsten zu ergründen sind. Wir öff nen unsere Augen und wir sehen die
Welt: Was könnte selbstverständlicher sein? Es ist nicht zufällig, dass wir erst in
den letzten Jahrzehnten zu begreifen anfangen, wie die visuelle Wahrnehmung
funktioniert. Sie beruht auf einem unglaublich komplexen neuronalen System,
das aus verschiedenen Teilen besteht und seine Arbeit verrichtet, ohne dass wir
uns dessen bewusst sind. In ähnlicher Weise funktioniert wohl auch unser mora-
lischer Apparat, dessen Aufb au wir auch erst allmählich zu enträtseln beginnen.
Seine wissenschaft liche Erforschung wird zweifellos noch manche überraschen-
den Entdeckungen und Einsichten in die große Vielfalt menschlicher Verhaltens-
weisen zeitigen. Sich davor zu fürchten, ist völlig überfl üssig. Die Überzeugung,
unser moralischer Apparat sei ein natürliches System, laufe darauf hinaus, dass
man verabscheuenswürdige Verhaltensweisen und Auff assungen billige, eben weil
sie »natürlich« und deshalb unveränderlich seien. Diese Argumentation ist nicht
stichhaltig. Jan Verplaetse verteidigt zwar auf beeindruckende Weise die zuneh-
mende wissenschaft liche Erkenntnis, dass Moralität in der Natur des Menschen
verwurzelt ist, doch er macht gleichzeitig auch deutlich, dass sie nicht unabänder-
lich ist und dass es in der Entwicklung moralischer Auff assungen innerhalb einer
Gesellschaft sehr wohl eine Rolle spielt, welche politischen oder pädagogischen
Entscheidungen getroff en werden. Gerade die Einsicht in die Naturgegebenheit
der Moralität lässt uns erkennen, wie richtige Entscheidungen zu wünschenswer-
teren Ergebnissen führen können.
Gegen Ende des Buches stellt Jan Verplaetse auch heraus, dass unsere natürli-
che Moralität an sich keine Kriterien enthält, um Gut und Böse voneinander zu
unterscheiden. Dies ist die Aufgabe der Ethik, der theoretischen, rationalen Refl e-
xion über unsere moralischen Auff assungen und unser moralisches Verhalten.
Moralität können wir wissenschaft lich untersuchen. Dieses Buch erklärt auf
anschauliche Weise die gängigen Methoden und gibt einen Überblick über den
aktuellen Stand der Forschung. Ethik ist zwar keine Wissenschaft im Sinne der
Naturwissenschaft , doch das schließt nicht aus, dass wir über ethische Fragen rati-
onal nachdenken können.
Vielleicht bin ich voreingenommen, weil der Autor nicht nur ein geschätzter
Kollege, sondern auch ein Freund ist, doch ich meine, dass niemand besser geeig-
net ist, ein solches Buch zu schreiben – nicht nur innerhalb des niederländischen
Sprachgebiets, sondern auch weit darüber hinaus. Der Autor kennt sich in der
Geschichte der Erforschung unseres moralischen Apparats in so unterschiedli-
chen Disziplinen wie der Medizin, der Psychiatrie und der Kriminologie hervor-
VAN_40441-6_Verplaetse_Der_moralische_Instinkt.indd 11
16.08.11 06:49
ISBN Print: 9783525404416 — ISBN E-Book: 9783647404417
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Jan Verplaetse, Der moralische Instinkt